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IV.Gefahrenabwehr vs. Strafverfolgung

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Polizeiliche Prävention, die einen Schaden erst gar nicht eintreten lässt, hat gegenüber der Repression, die den realisierten Schaden bzw. die begangene Rechtsverletzung zur Voraussetzung hat, den Vorzug offensichtlicher Rationalität, dem das Strafrecht mit seinen abstrakten und symbolischen Zielen wenig entgegenzusetzen hat.127 Die präventive Verhinderung einer Rechtsgutsverletzung ist einfach die plausiblere Form der Sicherheitsgewährleistung als die repressive Reaktion, die nichts wieder rückgängig machen kann. Dieser evidente Vorzug führt zum Vorrang der Prävention vor der Repression; im polizeilichen Alltag ist vor allem in Kollisionslagen die Aufgabe der Gefahrenabwehr vor der Strafverfolgung zu erfüllen.128 Der Vorrang der Gefahrenabwehr vor der Strafverfolgung gewinnt an Überzeugungskraft, wenn berücksichtigt wird, dass sich in der Gefahrenabwehr die Schutzpflicht des Staats für seine Bürger, die er vor Übergriffen Dritter zu bewahren hat, manifestiert. Diese tripolare Beziehung ist der bipolaren des Strafrechts überlegen und wirkt sich dergestalt aus, dass die Gefahrenabwehr als Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen zum Schutz Dritter im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stärkeres Gewicht hat und tief greifendere Grundrechtseingriffe erlauben kann als die repressive Verfolgung einer bereits geschehenen und nicht mehr reparablen Schutzgutsverletzung.

Wird eine Person zur Gefahrenabwehr in Anspruch genommen, geht es nicht um ihre Sanktionierung, sondern um ihre Heranziehung zur Gefahrenabwehr. Ist die Gefahr abgewehrt, die Störung beseitigt oder ein Konflikt zwischen Personen beendet, besteht an diesen Vorgängen kein polizeiliches Interesse mehr, weil sie der Vergangenheit angehören.129 Individuelle Vorwerfbarkeit spielt im Polizeirecht keine Rolle.130 Das Strafrecht dagegen richtet sich ausschließlich gegen Personen und deren schuldhaftes Handeln; es will einen der Vergangenheit angehörenden Konflikt abarbeiten, der nur noch auf einer symbolischen Ebene existiert.131

Kriminelle Strukturen als situative Tatgelegenheitsstrukturen oder kriminelle Netzwerke liegen als Gefahrenherde im Blickfeld des Polizeirechts, während diese für das Strafrecht erst relevant werden, wenn eine Person oder Personenverbindung bei oder nach Begehung einer Straftat als Tatverdächtige ins Visier von Polizei oder Staatsanwaltschaft gerät.132

Keine Zustimmung verdient die These, dass nur das Strafrecht in der Lage sei, kriminelle Strukturen dadurch zu zerschlagen bzw. zumindest empfindlich zu stören, dass die Hintermänner organisierter Kriminalität festgenommen und durch Bestrafung aus dem Verkehr gezogen würden.133 Vorhandene Erkenntnisse zum Ertrag von Strafverfahren gegen die organisierte Kriminalität (OK) belegen vielmehr die beschränkten Möglichkeiten des Strafrechts zur Bekämpfung von Kriminalität. So hat es im Jahr 2015 insgesamt (nur) 566 Verfahren und in 2014 (nur) 521 Verfahren gegen verschiedene Erscheinungsformen organisierter Kriminalität gegeben.134 Der Ertrag des Strafrechts durch Verurteilungen – aussagekräftige Verurteilungsstatistiken fehlen – darf getrost als bescheiden bezeichnet werden.

Beispiel:135 Die Staatsanwaltschaft erhebt nach einem zeit- und personalaufwendigen Ermittlungsverfahren Anklage gegen mehrere in U-Haft sitzende Angehörige einer Tätergruppierung wegen § 129 StGB. Das Verfahren zieht sich hin, die Angeklagten sind zwischenzeitlich aus der U-Haft entlassen worden, nehmen das Urteil von drei Jahren Freiheitsentzug auf freiem Fuß entgegen und steigen nach Verbüßung der verhängten Reststrafe in der Hierarchie ihrer Organisation auf, weil sie deren Ehrenkodex eingehalten haben. Auch die Logistikstrukturen lassen sich bei fehlender Verurteilung von Hintermännern mit den Mitteln des Strafrechts nicht nachhaltig angreifen. Aber selbst wenn es gelingen sollte, eine ganze Tätergruppierung auszuheben, bleiben die Logistikstrukturen im Wesentlichen erhalten und können von der nächsten Tätergruppierung übernommen werden. Hier kann das Strafrecht sogar den kontraproduktiven Effekt haben, dass am Ende die am besten organisierten Tätergruppierungen als Oligopol übrigbleiben.136

Es gilt, die Möglichkeiten des Polizeirechts nicht zu unterschätzen. Zwar wird eingewendet, dass eine „Zerschlagung“ krimineller Strukturen überhaupt nur mit dem scharfen Schwert des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens erreicht werden könnte. Wenn irgend möglich greift die Polizei also erst dann ein, wenn die Strafbarkeitsschwelle überschritten ist. Man kann die Täter nämlich auch bei frischer Tat festnehmen, um alsdann das Ermittlungsverfahren in Gang zu setzen.137 Diese von Rachor empfohlene Vorgehensweise ist indes rechtswidrig, weil Polizei unter ihren Augen keine Straftat – auch keinen Versuch – geschehen lassen darf, die sie verhindern kann. Abgesehen davon, dass das Zulassen einer verhinderbaren Straftat durch die Polizei eine Beihilfe zum versuchten oder gar vollendeten Delikt durch Unterlassen wäre, bestehen erhebliche Risiken bei dem Versuch, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zugleich gerecht zu werden.

Beispiel:138 Die Polizei hat vom Plan einer Bande bekannter Krimineller erfahren, die ein Juweliergeschäft überfallen will. Sie plant, die Täter von im Geschäft postierten Beamten festzunehmen und lässt sie die Schwelle von der straflosen Vorbereitungshandlung zum strafbaren Versuch überschreiten und den Laden betreten. Als sie zugreift, nehmen die Täter anwesende Kunden als Geiseln, von denen eine zu Tode kommt.

Beispiel: Eine Streifenwagenbesatzung lässt den offensichtlich betrunkenen Fahrer losfahren, um ihn nach 200 m an einer günstigen Stelle anzuhalten; auf der kurzen Strecke überfährt der Fahrer ein von ihm übersehenes Kind auf einem Fahrrad.

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