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Der Briefkasten (45)

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Im prallen Licht der Julisonne schwitzte stumm und verbissen ein großer gelber Briefkasten vor dem Eingang eines Lebensmittelgeschäfts. Seit Jahren stand er schon da, aufmerksam und unverdrossen. Er schluckte geduldig alle Briefe, die man durch seinen zahnlosen Mund einwarf, nachdem man seine Oberlippe angehoben hatte. Aufmerksam beobachtete er seine Umgebung, Tag für Tag. Eines schönen Tages aber überkam ihn Langeweile. Immer wieder sah er die gleichen Leute, dieselben stumpfen Gesichter. Und er hörte zum x-ten Mal das gleiche Gerede, nichtssagend und billig, und darüber verfiel er in Trübsal. Zwar schluckte er weiter gehorsam, was man ihm einwarf, aber er tat es mit Widerwillen. Er wünschte sich Beine und Arme, kurzum er wollte ein Mensch sein. Ihm war aber klar, dass kein Mensch, der bei klarem Verstand war, mit ihm tauschen würde. Die Julisonne strahlte vom Himmel. Die Luft war schwer, bewegte sich träge. Ein junger Mann stieg vom Fahrrad, kaufte in dem Laden eine Flasche Bier und lehnte sich an den Briefkasten. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck aus der Flasche, wie es schien widerwillig. Ansonsten blinzelte er trübsinnig in den Himmel. „Man sollte ein Briefkasten sein. Dann hätte man wenigstens Ruhe, keine Sorgen mehr, nicht diese lästige Arbeit. Man wäre glücklich, wenigstens glücklicher als ich es jetzt bin“, seufzte er. „Wollen wir tauschen?“ fragte aufgeregt der Briefkasten, der so plötzlich die Erfüllung seines sehnlichen Wunsches in greifbare Nähe gerückt sah. „Gern“, sagte der junge Mann und beide tauschten ihre Animas. Der Briefkasten bereute den Tausch bald, denn früher hatte er das Gleiche immer wieder sehen und hören müssen. Nun musste aber auch Tagaus tagein das Gleiche tun. Von Tag zu Tag fühlte er sich leerer und trauriger. Nicht einmal Briefe durfte er noch schlucken und heimlich lesen. Gern hätte er seine alte gelbe Anima wieder eingetauscht. Doch der junge Mann hatte die Anima, die der Briefkasten ihm überlassen hatte, verloren, oder sie war ihm gestohlen worden. So musste der Briefkasten bis zu seinem Ende Mensch bleiben. Die Moral von der Geschichte aufzuzeigen erübrigt sich.

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