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3. September 2013

Nr. 95

Das »System« ist entscheidend

Die Schweiz ist das stabilste Land der Welt. Damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir ab und zu Schwachpunkte des Erfolgsmodells verbessern.

Gelegentlich wundere ich mich über liebe Mitmenschen, die sich mit Nonchalance und wiederholt über gesetzliche Vorschriften hinwegsetzen, als wären diese nur für Außerirdische gültig. Oder ich staune, wenn ich höre, dass sich Studenten im letzten Semester bereits beim RAV (Regionales Arbeitsvermittlungszentrum) einschreiben, da sie davon ausgehen, keine Stelle zu finden. Dann beschwichtigen mich meine Söhne: »Reg’ dich nicht auf, solange unser System das zulässt, kannst du es nicht ändern.«

Unser politisches »System« ist grundsätzlich gut, so lautet jedenfalls meine persönliche Meinung. Es umfasst die staatlichen Institutionen, die politischen Entscheidungsprozesse und deren Ergebnisse als Summe der Gesetze und Verordnungen im Rahmen eines ausgeprägten Föderalismus.

In der wissenschaftlichen Theorie gibt es verschiedene Erkenntnisse für Gütezeichen unterschiedlicher Systeme. So verficht etwa James Robinson (Harvard) die Idee, dass die politischen Institutionen bestimmen, ob ein Land arm oder reich ist. Wohlhabende Länder zeichnen sich dadurch aus, dass sie über Institutionen verfügen, die allen offenstehen. Es sind pluralistische Systeme, die den Unternehmergeist fördern und die individuellen Rechte schützen. Das Gegenteil: Die Macht im Land gehört einigen wenigen – Armut ist meistens, Bürgerkriege sind nicht selten die Folge. Für diese Diskrepanz ist die Politik verantwortlich.

Gesellschaftsordnungen, die Menschen weitgehende, persönliche Entscheidungen ermöglichen, nennt Karl R. Popper Offene Gesellschaften, im Gegensatz zu Geschlossenen Gesellschaften, deren Ausrichtung auf einem umfassenden Kollektivismus basiert. Das offene System ist demnach vergleichbar mit einem lebenden Organismus, beruht auf einem ganzheitlichen Weltbild und einem gesunden Individualismus.

Jared Diamond, Evolutionsbiologe und Physiologe (UCLA), entwickelte seine Theorie auf der Basis von Beobachtungen in vergangenen Zeiten. Danach führten verschiedentlich Übernutzung der Umwelt respektive falsche Reaktionen auf allgemeine Umweltveränderungen zu gesellschaftlichen Zusammenbrüchen. Das sture Festhalten am Status quo (»es war doch immer so und wir sind gut damit gefahren!«) kann zum Kollaps des Systems führen, wenn wichtige Entscheidungsprozesse in Gruppen oder Gesellschaften versagen.

Die Schweiz sei das stabilste Land der Welt, meinte kürzlich der weltbekannte Essayist und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb. Warum? Weil es keine Regierung habe, lautete die Antwort. Nun, da fühlte sich unser Bundesrat wohl nicht gerade geschmeichelt. Der stets etwas übertreibende Gesellschaftsbeobachter, der unser Land recht gut kennt, meinte mit seinem Urteil, dass wir nicht auf Gedeih und Verderb einer Zentralregierung ausgeliefert wären, sondern dass unser Gemeinwesen von unten nach oben strukturiert sei, föderalistisch eben. Wir könnten also unsere Zukunft selbst bestimmen.

Bevor wir in ausgelassene Feststimmung verfallen, sollten wir definieren, wie wir diesem Modell dazu verhelfen können, dass es auch in Zukunft Bestand haben wird. Fragen wir uns zuerst, was uns zu diesem Spitzenplatz verholfen hat: eine liberale Wirtschaftsordnung, zurückhaltende staatliche Regulierung, auf Sicherheit ausgerichtete Finanzpolitik und wohl auch ein gewisser Sinn für Gemeinwohl und Gerechtigkeit? Fragen wir uns anschließend, was in letzter Zeit falsch gelaufen ist: Einer überbordenden neoliberalen Wirtschaftselite begegnet die Gesellschaft mit dem Ruf nach verstärkter staatlicher Regulierung. Unsere Finanzpolitik ist unter Druck geraten, da sie zu wenig vorausschauend ist. An die Stelle persönlicher Selbstverantwortung und Solidarität ist für viele der Sozialstaat getreten.

Generell fördert unser föderalistisches System die Tendenz, Probleme auf die lange Bank zu schieben. Stellvertretend für einige andere sollen hier einige Themen aufgeführt werden. Wir kennen sie seit Jahren, wir umkreisen sie:

– Eine AHV, die nicht von der Hand in den Mund lebt

– Mehr Selbstverantwortung statt Ruf nach dem Sozialstaat

– Ein Freizügigkeitsabkommen mit der EU, bei dem Vorteile und Nachteile möglichst ausgewogen sind, und eine Einwanderungspolitik, die ehrlich daherkommt

– Eine Asylpolitik, die nicht von »man sollte«, sondern von »wir entscheiden« lebt

1948 eingeführt, haben sich seither mehr als zwei Generationen daran gewöhnt, ab 65 Jahren (Männer) respektive 64 Jahren (Frauen heute) eine staatliche Rente zu bekommen. 1948 lag die Lebenserwartung bei ungefähr 66 respektive 69 Jahren. Die demografische Entwicklung führt heute dazu, dass das Grundprinzip der generationenübergreifenden Solidarität aus den Fugen gerät. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit respektive die Erhöhung des Rentenalters müssten längst in die nachhaltige Planung der AHV-Zukunft einfließen. Es genügt nicht, wenn Politiker besänftigen: Noch schreibt die AHV Überschüsse!

Die Ausgaben für soziale Wohlfahrt steigen von Jahr zu Jahr, parallel dazu steigt die Anspruchsmentalität. Längst haben sich viele Menschen in der Schweiz daran gewöhnt, dass der Staat den gewohnten Lebensstandard finanziert, sollten die Eigenmittel nicht reichen. Wussten Sie, dass eben dieser Staat mittlerweile jährlich über vier Milliarden Franken allein für Prämienverbilligungen der obligatorischen Krankenversicherung ausgibt? Eigenartig: Selbstbestimmung ist für uns im Alltag wichtig und selbstverständlich. Warum nicht konsequent? Dieser Trend ist ungemütlich.

In den letzten 10 Jahren betrug die jährliche Nettozuwanderung in die Schweiz durchschnittlich 62’000 Personen und in der Folge hat sich das Wirtschaftswachstum erhöht. Die Bundesverwaltung kommentiert regelmäßig die Situation. Sie hat dazu in den letzten Jahren ein halbes Dutzend akademischer Untersuchungen erstellen lassen. Fazit: Die Befunde sind nicht einheitlich (wen wundert’s?). Was wir vergebens suchen, sind Untersuchungen über die Folgen dieses bejubelten Wirtschaftswachstums – die starke Einwanderung hinterlässt offensichtlich in vielen anderen Bereichen ihre Spuren. Nicht zur Diskussion steht, dass die Schweiz auf Zuwanderer mit hoher Qualifikation angewiesen ist. Doch die Folgen sollte das Bundesamt – angesichts des verbreiteten Unbehagens in der Bevölkerung über die starke Einwanderung – nicht verschweigen.

Zu offensichtlich ist in den letzten Jahren dieser versteckte Zusammenhang geworden: Wir erstellen jährlich ziemlich genau für so viele Menschen Neubauwohnungen, wie die Zuwanderung sie ausweist. Die sichtbaren Folgen: Bauwut, Verschandelung der Natur, Wohnungsnot, explodierende Immobilienpreise und -mieten, Verkehrsstau, überfüllte Pendlerzüge, die Liste lässt sich verlängern. Wer definiert in Bern nächstens das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern der Zuwanderung?

Simonetta Sommaruga ist wahrlich nicht zu beneiden. Seit Monaten fordert die Justizministerin ein beschleunigtes Asylverfahren. Heute dauert dieses von der Einreichung eines (unberechtigten) Asylgesuches bis zu dessen Ablehnung fast vier Jahre. Man muss sich das konkret vorstellen: Ein erster negativer Entscheid kann mit einer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (gemäß TA blieb ein konkret untersuchter Fall dort während 21 Monaten liegen) weitergezogen werden. Wird sie dort abgelehnt, kann ein Wiedererwägungsgesuch eingereicht werden. Die Zahl dieser Gesuche steigt kontinuierlich. Rund ein Viertel davon führt anschließend zu einer vorläufigen Aufnahme, der Rest zur Ablehnung oder Wegweisung. Bis die nötigen Ausweispapiere besorgt sind, tauchen die Abgewiesenen häufig unter. Oder die Behörden kommen zum Schluss, dass nach so langer Zeit eine Ausschaffung nicht mehr zumutbar wäre.

Die Diskussion um zu lange Asylverfahren hören wir seit vielen Jahren; man sollte diese ändern, heißt es in Bern. Der ehemalige Chef des Bundesamts für Flüchtlinge, Jean-Daniel Gerber, hält die aktuellen Schwierigkeiten in der Asylpolitik für unlösbar. Sind sie eigentlich gar systembedingt? Wer entscheidet darüber?

Der moderne Bundesstaat mit seiner föderalistischen Staatsstruktur ist eine gute Sache. Auf der offiziellen Homepage des Bundes erklärt die Bundeskanzlerin unser System ausführlich und sie erklärt auch eines der wichtigsten Ziele der laufenden Legislaturperiode: Die Schweiz muss ihre Wettbewerbsfähigkeit beibehalten, z.B. in der Wirtschaft, Bildung, Forschung.

Damit das auch in Zukunft so bleibt, sind ab und zu Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wir sind ein Volk mit vielen Rechten und Pflichten, viel mehr als in anderen Staaten. Wir können unser System, zumindest indirekt, selbst bestimmen.

Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

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