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16. Mai 2013

Nr. 84

Visionen der Zukunft

Visionen sind Bilder im Hirn. Daraus können sich Innovationen, Erfindungen oder Weltbilder entwickeln. Einige haben das Zeug, unseren Alltag zu verändern.

Wer Visionen entwickelt darüber, was die Welt verändern könnte, begibt sich auf dünnes Eis. Gerade deswegen ist der Versuch spannend, ohne Risiko geht es hingegen nicht.

Vorab gilt es zu unterscheiden zwischen Prognosen und Visionen. Voraussagen, was in 10, 20, 50 Jahren sein wird, sind reine Spekulationen, mit oder ohne Geldeinsatz. Sie können nützlich sein, um kreatives Denken anzuregen. Sie können auch unsinnig sein. Zur zweiten Kategorie zähle ich persönlich z.B. Ray Kurzweils These zum Transhumanismus. Er mag als Computerspezialist Großartiges leisten. Als Visionär überzeugt er weniger. Wer täglich 200 Pillen schluckt, um ewig leben zu können, verwechselt wohl Leben mit künstlicher Intelligenz. Das Streben nach Unsterblichkeit – eine Vision, ein Lebensziel?

Prognosen zur Zukunft sind aus einem weiteren Grund gossip oder fiction. Zukunftsforscher verdienen heute ihr Geld damit, unabhängig davon, ob die von ihnen vorausgesehenen Wege jemals Tatsache geworden sind. Moderne Märchenerzähler können durchaus erfolgreich sein.

Da wir schlicht nicht wissen, welche unvorhergesehenen Ereignisse unser Leben drastisch verändern könnten, scheint es sinnvoller und faszinierender, sich mit Visionen zu befassen, die von Unbeständigkeit in unsicheren Zeiten profitieren können (»Antifragilität«, Nassim Nicholas Taleb) und die weitgehend immun sind gegenüber falschen Vorhersagen.

Religiöse Erscheinungen oder Halluzinationen werden auch als Visionen bezeichnet, doch da geht es um anderes. Visionen, wie sie hier verstanden werden, entstehen und entwickeln sich z.B. im Hirn denkender Menschen, begabter Tüftler oder Wissenschaftler. Oft sind die Resultate auch »Abfallprodukte« gezielten Suchens, Zufallsentdeckungen eben. Und natürlich gibt es auch die gezielt gesuchten Durchbrüche als Belohnung für jahrelang investierte Zeit.

Henry Markrams (ETH Lausanne) Human Brain Project ist vielleicht dereinst dieser Kategorie zuzuordnen. Anfang 2013 hat es jedenfalls eine Milliarde Euro an Fördergeldern der EU erhalten. Als erster Schritt auf dem Weg zu einem simulierten Menschenhirn geht es darum, mit gewaltiger Computerkapazität 100 Milliarden »Neuronen« nach dem richtigen Bauprinzip zusammenzusetzen. Bestechend am sehr ambitiösen Projekt ist die Idee der wissenschaftlichen Kooperation: »Wir haben eine Plattform, die Neurowissenschaftler und Computerexperten, Mathematiker und Biologen zusammenführt«, schwärmt Markram. Forschung am menschlichen Hirn ist nicht nur an sich, im engsten Sinn, herausfordernd, sondern auch als Sekundärplattform für besseres medizinisches Verständnis, z.B. von neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson.

Nanoroboter könnten schon bald die Medizin revolutionieren. Sie sind unvorstellbar klein, bis zu 500-mal dünner als ein menschliches Haar. Bradley Nelson, Professor an der ETH Zürich, leitet das Multi-Scale Robotics Lab, ein Forschungszweig mit großen Zukunftsperspektiven. Die Visionen, wozu die Winzling-Nanoroboter eingesetzt werden könnten, sind atemberaubend: Sie sollen Ärzte bei der Diagnose unterstützen, Medikamente im Körper transportieren und Gewebe herausschneiden oder reparieren. Vielleicht können sie sogar minimale, aber hochpräzise chirurgische Eingriffe vornehmen. Nelson: »Forschung verhält sich nicht immer so, wie du es planst. Ein Versuch kann scheitern, man lernt dabei und macht es besser das nächste Mal.« Versuch und Irrtum, ohne geht es nicht.

Ebenfalls mit einer Milliarde Euro ausgestattet wird von der Europäischen Kommission das Forschungsprojekt Graphen: Visionäre Wissenschaft jenseits der Fiktion soll gefördert werden. Hier heißt das nicht mehr und nicht weniger, als das Wundermaterial der Zukunft zu entwickeln. Solide Forschung soll das enorme Anwendungspotenzial dieses dünnsten bekannten Materials fördern. Graphen ist biegsam wie eine Klarsichtfolie, aber hart wie Diamant. Es besteht aus Kohlenstoff, leitet elektrischen Strom hundertmal so gut wie ein Kupferkabel und hat die Qualität, schon bald Silizium in Computerchips zu ersetzen. Das Wundermaterial könnte auch zur Basis von effektiveren Solarzellen oder superleichten Autokarosserien werden. Der Physiker Jari Kinaret, der in Göteborg das Projekt koordiniert, meint trocken: »Graphen bringt das Potenzial, unseren Alltag zu verändern.«

Leuchtdioden verändern unser Verständnis der gesamten Beleuchtungstechnik. Bereits bekannt und im Einsatz sind LED-Lampen, quasi die Nachfolgegeneration der Energiesparlampen. Im Moment (nicht mehr lange) sind sie relativ teuer, doch sie leuchten bis zu 100’000 Stunden.

Die eigentliche Revolution kommt erst: Oleds, organische Leuchtdioden, sind Folien, die warmweißes Licht abstrahlen. Sie können verschiedenartig geformt, flexibel oder transparent sein. Noch sind sie fast unbezahlbar, doch sie werden ein völlig neues Lichtdesign ermöglichen. Stellen Sie sich das so vor: Wenn es draußen dunkel wird, bleibt es drinnen, im Zimmer, gleichbleibend hell. Statt der Sonne beginnt das Fenster zu leuchten. Das Wunder: Auf dem Fensterglas klebt ein durchsichtiger Film aus organischen Leuchtdioden (eben Oleds), der elektrische Energie hocheffizient in Licht verwandelt. Karl Leo vom Dresdner Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme ist überzeugt: »Leuchtende Fenster, Wände und Decken werden elektrisches Licht aus punktförmigen Quellen ersetzen oder ergänzen, in ein paar Jahren sind wir so weit.«

Bereits in früheren Kolumnen habe ich über die »dritte industrielle Revolution« geschrieben. 3-D-Drucker werden die Wirtschaftswelt verändern. Schon im Gebrauch sind Modelle, mit denen jeder Einzelne Spielsachen, Kleider, Geschirr, Möbel, Schmuck etc. »drucken« kann. Bei 250 Grad formt und härtet der Drucker Schicht für Schicht, z.B. aus Kunststoffgranulat. Das benötigte Computerprogramm kann selbst geschrieben oder von spezialisierten Plattformen heruntergeladen werden.

Chris Anderson (»Makers«) spricht von einer Revolution der industriellen Produktion, der Makers-Revolution. Seine Firma 3D Robotics produziert Drohnen für den Privatgebrauch. Diese zivile Nutzung erlaubt den Käufern bereits heute einen gezielten Einsatz in den Bereichen Freizeit, Sport, Landwirtschaft etc. Schon fliegen in den USA gegen 4000 solcher Drohnen herum.

Robert B. Laughlin, der brillante Physiker an der Stanford University und Nobelpreisträger, zeichnet seine Vision der Wissenschaft, die aus dem Zeitalter des Reduktionismus mit seiner fortwährenden Suche nach den stets kleiner werdenden Bausteinen der Welt in das Zeitalter der Emergenz, der Selbstorganisation der Natur, übergeht. Für Laughlin ist das nicht mehr und nicht weniger als eine »Veränderung der Weltsicht, in deren Verlauf das Ziel, die Natur durch Zerlegung in immer kleinere Teile zu verstehen, durch das Ziel ersetzt wird, dass man versteht, wie die Natur sich selbst organisiert« (»Abschied von der Weltformel«, Robert B. Laughlin).

Meine ganz persönliche Vision, die ich seit 40 Jahren verfolge, ist jene einer umfassenden Ganzheit: Ich wünschte mir, dass es immer mehr Menschen gelänge, die größere und entscheidende Wirklichkeit des Ganzen wahrzunehmen. Die persönliche Wirklichkeit und Wirkung verschmelzen dann, wenn Denken und Handeln durchdrungen sind von der Idee, dass beides sich nie isoliert auf Details reduzieren lässt, sondern dass die »Nebenwirkungen« früher oder später zu Tage treten.

Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

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