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6. Mai 2013

Nr. 83

Die griechische Tragödie

Philosophisches Update nach 2500 Jahren (Teil 4)

Von der antiken zur aktuellen griechischen Tragödie trennen uns Jahrtausende. Ebenso lang kennen wir die verlässlichen Werte, die einen guten Staat ausmachen. Wir sollten sie beachten.

Furcht und Mitleid sollen die Zuschauer der Tragödie empfinden. Am Ende der Vorstellung hätten sie geläutert nach Hause zu gehen. So oder ähnlich soll Aristoteles sich geäußert haben. Wer heute in Epidauros im antiken Theater von der Bühne aus in die zum Himmel wachsenden Zuschauerränge blickt, ahnt etwas von der theatralisch inszenierten Tragik, die bereits vor 3200 Jahren das Wesen solcher grandiosen Darbietungen ausmachte. Jedenfalls wird ihr eine seelische Reinigung nachgesagt, was immer man darunter verstehen mag.

Ob das Wesen der Tragödie in der Kollision zweier gleichberechtigter Werte besteht – man streitet sich bis heute darüber. Wehe dem, der diesen Konflikt auszutragen hat. Er wird schuldlos schuldig und manövriert sich in eine Situation hinein, die nur im Untergang enden kann.

Im 21. Jahrhundert erschüttert die griechische Finanzkrise das kleine Land und die große EU. Es ist eine veritable griechische Tragödie der Neuzeit. Und immer noch gilt offensichtlich: Wer sie lösen soll, wird schuldlos schuldig. Zu hoffen bleibt, dass der Versuch der Konfliktlösung nicht im Untergang der Protagonisten enden wird. Furcht und Mitleid verspüren wir Zuschauer alleweil schon jetzt.

Zurück zu Aristoteles. Wiederum dient das philosophische Update dazu, sich die enorme, erstaunliche Präsenz der Argumentationskraft der großen Denker, die in Athen lebten und lehrten, zu vergegenwärtigen. Aristoteles, Schüler und Kritiker Platons, kann als Begründer der abendländischen Wissenschaft bezeichnet werden. So erkannte er, was heute vielerorts in Vergessenheit geraten ist – dass alles Lebendige nicht bloß Anhäufung von Teilen bedeutet, sondern nur als Ganzes erfasst werden darf, das seinen Teilen erst Sinn verleiht. Geist, Vernunft, Logos, Emotion, zusammen machen sie das Lebewesen aus. Ganzheitliches Denken und Handeln zeichnet bis heute jene Kräfte aus, die nichts am Hut haben mit Extremisten, Populisten, Separatisten.

Statt die Arztpraxis seines Vaters zu übernehmen – dieser war Leibarzt des Königs von Makedonien –, zog es den Sohn nach Athen. Das Orakel hatte seinen leicht beunruhigten Eltern grünes Licht gegeben: Die göttliche Antwort auf deren Frage, was ihr Sohn in Athen tun solle, hieß … Philosophie studieren. Am Anfang der Philosophie stand (und steht) das Staunen: Aristoteles beobachtete die Natur, dachte u.a. über Staatsformen, Dichtkunst, Ethik, Rhetorik und Logik der Argumentation nach. Philosophie war damals eine umfassende Angelegenheit, zu ihr zählte man im Grunde alles Wissen, alle Wissenschaften.

Aristoteles blieb 20 Jahre an der Akademie Platons. Als sich sein Traum, dessen Nachfolger zu werden, zerschlug, zog er zurück in seine Heimat. Er folgte dem Ruf des berühmten »Patienten« seines Vaters und wurde dessen Sohns Lehrer. Alexander war 14-jährig und wurde erst später »der Große« genannt. Als dieser 340 v. Chr. König wurde, kehrte Aristoteles, der Lehrer des mächtigsten Mannes der Welt, nach Athen zurück.

Der philosophische Allrounder Aristoteles hat ein riesiges, schriftliches Werk hinterlassen. Sein Ruf als Biologe und sein Beitrag zum systematischen Denken, sein logisches Schaffen, ragen heraus. »Die aristotelische Logik herrschte erhaben bis ins 19. Jahrhundert, sie wurde sozusagen versteinert weitergegeben von Menschen, die durch seine Autorität derart eingeschüchtert waren, dass sie ihn durch keine Frage anzutasten wagten« (Bertrand Russell). Das kann allerdings nicht Aristoteles angelastet werden. Immerhin wissen wir nun seit bald 2400 Jahren, dass das Verfahren Beweisführung erfordert und der Prozess Argumente. Hier schuf Aristoteles eine feste, überdauernde Basis.

Aristoteles’ Lehre von der Tugend als die Mitte – ich betrachte sie als Leuchtturm in der Finsternis. Übermaß hier, Unzulänglichkeit dort, beides kann nicht das richtige Verhalten darstellen. Seine Unterscheidung der ethischen Tugenden (Platon) in ihre Extreme bringt uns auch heute oft zur Einsicht, dass die Mitte zwischen beiden erst zielführend ist. In der Politik sehen wir uns immer wieder mit zwei entgegengesetzten, polarisierenden Standpunkten konfrontiert. Wer darauf beharrt, kann als Kämpfer oder Sturkopf bezeichnet werden – ja nach Weltbild. Militant gegen oder »rational« für Atomkraft zu sein – Aristoteles lässt grüßen.

Ausführlich studierte er politische Empirie und suchte die beste Staatsform. Nach eingehender Analyse historisch gewachsener Staats- und Gesellschaftsformen kam er zum Schluss: »Die Staaten mit einer Mittleren Verfassung sind allen anderen Staatsformen überlegen. Die Mittlere Staatsform ist die gleiche wie die für die wahrhaft glücklich machende Tugend, die ebenfalls ein Mittel zwischen zwei extremen Verhaltensweisen ist« (»Geschichte der politischen Ideen«, Fenske/Mertens/Reinhard/Rosen). Sein abschließender Befund: »Denn wo die Mitte stark ist, gibt es am wenigsten Revolutionen und Streitigkeiten unter den Bürgern.«

Mit seiner Strukturanalyse der Staatsformen hat Aristoteles Neuland betreten. Er hatte keine Vorbilder. Umso bemerkenswerter seine Erkenntnis: Legislative, Exekutive und Judikative, alle drei Teile müssen in Ordnung sein, dann muss zwangsläufig auch der Staat in Ordnung sein.

Auch über die Gerechtigkeit machte sich Aristoteles Gedanken. Heute haben wir uns längst damit abgefunden, dass auf der Welt keine Gerechtigkeit zu erwarten ist. Das galt wohl schon für das antike Athen. Umso bemerkenswerter jener theoretische Befund: Gerechtigkeit ist die hervorragendste Tugend in Bezug auf die Gemeinschaft. Austeilend nannte er die gerechte Verteilung von Gütern, ausgleichend steht sie als Korrektiv für erlittenen Schaden. Für Ausgleich sorgen in den westlichen Demokratien wohl die Versicherungen, in der Schweiz jedenfalls in sehr ausgeprägtem Umfang. Doch wie steht es mit der gerechten Verteilung? In Zeiten wachsender Ungleichheiten in den Gesellschaften wird diese Sprengkraft noch viel zu wenig wahrgenommen. Steigen Armut hier und Reichtum dort ins Übermaß, verlassen wir die oben besprochene Mitte. Wir landen im gefährlichen, radikalisierenden Minenfeld des egoistisch zur Schau gestellten Reichtums oder der verzweifelten Armut, das in Provokationen, Demonstrationen, Unruhen oder gar Übergriffen endet. Das Gefährlichste daran: Wenn es so weit ist, werden die Populisten mit ihren einfachen Lösungen an die politische Oberfläche gespült. Die Quittung für ausbleibende Gerechtigkeit kann dann, wie die Geschichte zeigt, verheerende Folgen haben.

Rund 96 Generationen haben sich seit Aristoteles in der Staatsführung geübt. In der Schweiz sind es 20–28 Generationen. Das vergleichsweise respektable Resultat dieser Bemühungen in unserem Land lässt sich sehen. Es ist weder selbstverständlich noch für alle Zeiten garantiert. Jene politischen Kräfte, die immer wieder die unabhängige Gerichtsbarkeit hinterfragen und lauthals ihre eigenen Lösungen verkünden: Sie denken weniger modern, weniger klug als Aristoteles. Wir brauchen keine griechische Tragödie, um geläutert nach Hause zu gehen. Auch keine Versprechungen für eine sichere Zukunft in Freiheit. Uns genügt eine ausgewogene Mittepolitik, um in Freiheit einer unsicheren Zukunft optimistisch entgegenzusehen.

Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

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