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Оглавление15. Juli 2013
Nr. 90
Ständemehr – 165 Jahre danach
Die einstmaligen Gründe für die Einführung des Ständemehrs sind heute nicht mehr gültig. Eine Reform ist angezeigt, ja überfällig. Doch, wer packt das heiße Eisen an?
Während sich Wirtschaft und Gesellschaft seit der Gründung des Bundesstaates 1848 tiefgreifend gewandelt haben, ist das föderalistische Regelwerk Bund/Kantone in seinen Grundzügen weitgehend starr geblieben. Je schneller sich die Welt bewegt, desto größer erweist sich der Renovationsbedarf dieser Kleinstrukturen als belastende Hypothek. Vieles hat in unserem Land nach 165 Jahren Rost angesetzt.
Was ist gemeint? Unser fragmentiertes Staatswesen reagiert auf den Zeitenwandel zum Beispiel mit interkantonalen Konkordaten und Konferenzen. 16 Konferenzen der kantonalen Departements-Direktoren (kennen Sie alle: KdK, BPUK, EnDK, EDK, FDK, FoDK, KKJPD, KöV, LDK, MZDK, GDK, SODK, VDK, KOKES, FKS, Staatsschreiberkonferenz?) koordinieren ihre Kompetenzen. Und in über 20 Konkordaten (deren Auflistung sprengt den Rahmen dieser Kolumne) sind Hunderte von Arbeitskräften engagiert, um weitere, unterschiedlichste kantonale Gesetze und Verordnungen zu harmonisieren. Damit einher geht still und leise eine Entdemokratisierung und Bürokratisierung mit erheblichem finanziellem Aufwand. Flickwerke statt Reformen.
Der Kantönligeist
Ist es noch sinnvoll, mit den Zuständigkeiten des 19. Jahrhunderts zu leben? Da und dort wird der »Kantönligeist« zwar belächelt, doch das allein genügt nicht. Der Föderalismus war und ist nur möglich, wenn er sich an veränderte Bedingungen anpasst. Die politischen Akteure sind gefordert. Mehr und mehr politische Sachbereiche müssen heute international geregelt werden, wofür der Bundesrat zuständig ist. Was auf Kantonsebene verbleibt, wird noch heute mit (in der Regel) 26 unterschiedlichen Gesetzen und Verordnungen geregelt. Zwar wurden per 1. Januar 2011 die 26 kantonalen Zivilprozessordnungen vereinheitlicht – ein wegweisender Schritt in die Zukunft? 165 Jahre nach Errichtung des letzten helvetischen Neubaus – der neuen Bundesverfassung – ist die Zeit reif, sichtbar werdende Bauschäden zu sanieren, neue Technologien zu adaptieren, veränderten gesellschaftlichen Tatsachen Rechnung zu tragen. Was die Gründerväter schufen, war ein großartiger Wurf. Die Tagsatzung, sozusagen der eidgenössische Gesandtenkongress mit Delegierten aus den damaligen 22 Kantonen, hatte die Vorarbeit geleistet (seither kennen wir die Bundesversammlung). Damals war Hauptbestandteil des Neuen die Verlagerung von kantonalen Kompetenzen auf die Bundesebene. Mit Riesenschritten hatten mutige Politiker den Handlungsbedarf erkannt und unser Staatswesen in die Neuzeit geschubst. Niemand wird behaupten wollen, dass sich seither die Welt, Europa, die Schweiz nicht erneut grundlegend geändert hätten. Jetzt warten wir auf eine neue »Tagsatzung«, der es obliegen würde, die Zukunft der Schweiz zu planen.
Bevor ich das Reizthema Ständemehr aufgreife, möchte ich einige willkürlich herausgegriffene Beispiele nennen, bei denen Handlungsbedarf bestehen könnte. Dies geschieht unter Würdigung der Tatsache, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts in Bern natürlich nicht alles beim Alten geblieben ist, was das Zuständigkeitsgewebe von Bund, Kantonen, Gemeinden betrifft. Doch urteilen Sie selbst: 26 verschiedene Schul- und Gesundheitswesen, 26 unterschiedliche Steuerrechte, 26 Kantonspolizeiwesen, 26 variable Gerichts- und Strafvollzugsorganisationen, 26 differierende Sozialhilfegesetze, als Beispiele. Und dies alles in Zeiten der Mobilität, der wirtschaftlichen Umstrukturierungen, der gewaltigen Veränderungen der Berufs-, Wohn- und Pendlergewohnheiten, einer enormen Zuwanderung, der Schaffung medizinischer Kompetenzstellen (Beispiel Herzchirurgie), steigender Fallzahlen krimineller Übergriffe oder missbräuchlicher Sozialhilfebezüge – die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Arbeitnehmende pendeln zwischen Arbeitgeber und Wohnort, sie ziehen um und die Kinder landen in kantonal völlig unterschiedlichen Schulstrukturen. Auch 2011 darf eine Tessiner Lehrerin mit Luzerner Diplom im Tessin nicht Musik unterrichten. Ganz clevere Menschen verlagern ihren Wohnort ausschließlich nach Steuerkriterien. Verbrecher fliehen auf Autobahnen schneller, als die kantonalen Polizeicorps sich koordinieren können. Der ÖV schafft gänzlich neue Pendlerströme über die Kantonsgrenzen hinweg. Spitäler rangeln um Schwerpunktzentren und konkurrenzieren sich dabei.
Wenn etwas schief läuft im Land, brandet Kritik am undurchsichtigen Wirrwarr der Institutionen auf – um nach einigen Monaten wieder zu verstummen. Aktuellstes Beispiel: Der Fall Marie in Payerne VD. Die junge Frau wurde entführt und ermordet von einem Täter, der bereits früher wegen Mordes verurteilt worden war, sich aber mit einer elektronischen Fußfessel im Hausarrest befand.
Längst nicht alle kantonalen Zuständigkeiten sind unzeitgemäß, ja, einige bewähren sich bestens. Wir sind nicht zu Unrecht stolz auf unseren Föderalismus und möchten ihn nicht missen. Gerade deswegen sollten die wichtigen Baustellen angepackt werden. Wer fühlt sich zuständig?
Das Ständemehr
Zuoberst auf der Dringlichkeitsliste »Reform CH« steht jedoch das Ständemehr. »Das Ständemehr sollte man abschaffen!« Diese provokative Forderung nach der eidgenössischen Abstimmung über den Familienartikel im Frühling 2013 war die Folge des Scheiterns der Vorlage, obwohl ihr das Volk mehrheitlich zugestimmt hatte. Das Ständemehr war dafür verantwortlich.
Zur Erinnerung: Für Verfassungsänderungen ist sowohl eine Mehrheit der Abstimmenden als auch eine Mehrheit der Kantone notwendig. Eingeführt wurde diese Neuerung 1848, um die im Sonderbundskrieg unterlegenen konservativ-katholischen Kantone vor der Majorisierung durch die liberalen Stände zu schützen. Heute gibt es in unserem Land mehr Katholiken als Protestanten. Ein weiterer Grund, dass sich dieses in die Jahre geratene Konstrukt des Föderalismus gegen die Volksmeinung richten kann, liegt in der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung der Kantone. Viel zitiertes Beispiel: Appenzell Innerrhodens Bürgerinnen und Bürger haben bei Verfassungsabstimmungen mittlerweile 44 Mal mehr Gewicht als jene Zürichs (»One man, one vote«, urdemokratische Formel!). Im Extremfall können heute in der Schweiz neun Prozent der Stimmberechtigten auf diese Weise einen Mehrheitsentscheid des Volkes zu Fall bringen. Die Kollision zwischen Volks- und Ständemehr wächst zu einer der größten Herausforderungen für unsere Direktdemokratie heran.
Absurderweise können dadurch gesellschaftliche und politische Reformen blockiert werden, die für die kleinen, tendenziell eher konservativen Landkantone von marginaler Bedeutung sind, hingegen den 75 Prozent der schweizerischen Bevölkerung notwendig und sinnvoll erscheinen (NZZ). Das Ständemehr entpuppt sich je länger je mehr als Hindernis für die Legitimität einer bewährten politischen Institution, deren Voraussetzungen sich im Laufe der Jahre grundsätzlich verändert haben. Das Volksmehr wird auf diese Weise ausgehebelt.
Seit Jahren wird der grundsätzliche Reformbedarf von einer Mehrheit der Bevölkerung, der Politiker, Politologen und Politikwissenschaftler erkannt und entsprechend gefordert. Doch bevor die Diskussionen in Fahrt kommen, wird die rote Fahne (im Fußball: die rote Karte) gezückt. Für diese Verfassungsänderung bräuchte es selbst das Ständemehr. Also ist im Vornherein mit einer Ablehnung zu rechnen. Ende der Diskussion. Mit dieser defätistischen Einstellung wird der Zusammenhalt der Schweiz längerfristig gefährdet. Warum trauen wir unseren kleinen, mehrheitlich ländlichen Kantonen der Innerschweiz nicht zu, dass sie sich für einen zeitgemäßen Reformschritt erwärmen?
Neuregelungen sind längst angedacht. Gegen ein Dutzend Reformvorschläge liegen mittlerweile auf dem Tisch. Die politische Stabilität würde mit einer Anpassung gefördert, einer der Hauptgründe der Einführung des Ständemehrs vor 165 Jahren. Das »qualifizierte Volksmehr« könnte bei eindeutigen Mehrheiten (z.B. ab 55%?) angewandt werden. Oder: Angesichts des Umstandes, dass in den sechs größten Städten heute mehr Menschen leben als in den zwölf kleinsten Kantonen, wäre eine Stärkung der urbanen Zentren vorstellbar. Auch denkbar ist, dass die einwohnerstärksten Kantone eine zusätzliche Standesstimme erhielten. Ich selbst habe vor acht Jahren eine Gruppierung der Kantone in sechs Abstimmungsregionen vorgeschlagen (Süd, Zentral, Ost, Mitte, West, Nord). Vier von sechs Regionen erhielten gleich viele Ständestimmen wie bisher, lediglich in zwei Regionen müssten sechs Ständestimmen von der Region Zentral zur Region Nord transferiert werden (Christoph Zollinger: »2032, Rückblick auf die Zukunft der Schweiz«). Alle diese Ideen würden den Föderalismusgedanken stärken.
Wer packt dieses heiße Eisen an? Im Rampenlicht stehende Politikerinnen und Politiker meiden grundsätzlich Diskussionen, in denen sie sich klar positionieren müssten und eventuell unbeliebt machen würden. Der Ball könnte deshalb bei den Universitäten liegen. Studierende und Lehrkräfte der involvierten Fakultäten würden fachübergreifend ein Lösungsmodell erarbeiten, das auch eine angemessene und zeitgemäße Kommunikationsform beinhaltet. Den Medien käme eine wichtige, aufklärerische Aufgabe zu. Politik und Gesellschaft von überfälligen Reformschritten zu überzeugen, dürfte eine spannende und lohnende Herausforderung sein. Im 19. Jahrhundert war das Ständemehr für die Stabilität des Landes wichtig. Soll es das bleiben, ist eine werterhaltende »Renovation« nötig. In der jetzigen Form wirkt es eher wie ein Relikt.