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26. April 2013

Nr. 82

2400 autonome Gemeinden?

Gouverner, c’est prévoir! Wenn in der Schweiz das Volk die Politik direkt bestimmt, muss dieses Volk auch vorausdenken. Wer denn sonst? Ein Recht wahrnehmen heißt auch die Verantwortung mittragen. Damit die Gemeindeautonomie nicht zum Mythos verkommt.

Die staatstragende Rolle der Gemeinden in der Schweiz steht hier nicht zur Diskussion. Wohl aber die Zahl 2400. Die Welt rückt zusammen, Europa fokussiert sich verstärkt auf den länderübergreifenden Strukturwandel, die Schweiz befördert laufend kantonale Aufgaben auf die Bundesstufe und kommunale Entscheidungsfelder nach oben zum Kanton. Die Einsicht, dass sich auch ein fantastisches System mit der Zeit verändern muss, steigt. Zwar warnen konservative Politikerkreise bei jeder Gelegenheit vor Föderalismusverlust. Doch darum geht es gar nicht – es geht um eine überfällige Strukturbereinigung, damit das beste Regierungssystem der Welt (wer hat’s erfunden?) gestärkt die zukünftigen Aufgaben meistern kann.

Zwar ist die Anzahl autonomer Gemeinden in den letzten 25 Jahren um rund 600 gesunken, doch diese Reduktion ist der Not gehorchend und keineswegs strategisch geplant oder begründet. Wo die Rekrutierung von Gemeindeexekutiven, Behörden- und Verwaltungsmitgliedern auf unüberwindbare Probleme stößt, wird gehandelt, zu oft erst auf Druck fehlender Finanzen oder des Kantons. Doch warum zuwarten, bis die Aufgaben nur noch mangelhaft erfüllt werden können?

Raum und Zeit verändern sich. In den letzten 20 Jahren reduzierte sich der Gemeindeanteil an den schweizerischen Staatsausgaben auf unter 25%, während die Anteile des Bundes respektive der Kantone entsprechend zunahmen. Dies unterstreicht einen konstanten Zuständigkeitswandel, der weitgehend unbemerkt und ohne Einfluss der Gemeinden abläuft.

Was von den Fahnenträgern unverrückbarer kommunaler autonomer Hoheiten aber übersehen oder verschwiegen wird, ist der starke Trend zur Aufgabendelegation aus den Gemeinden heraus in Gemeindekooperationen, andere Gefäße oder Zweckverbände. Sei es aus Ressourcen- oder Kapazitätsmangel, immer mehr Kernaufgaben werden in einem dichten Geflecht interkommunaler Zusammenarbeit (IKZ) erfüllt. Diese Entwicklung ist der urkommunalen Entscheidungsfindung abträglich und gaukelt nur mehr eine Autonomie vor. Meistens führt die IKZ zu einem höheren Verlust an Bürgernähe als eine Gemeindefusion.

Seien wir doch ehrlich. In unserer komplexen Welt quellen immer neue Herausforderungen aus dem Handlungsbereich einzelner Gemeinden heraus. Fürsorge, Altenpflege, Verkehr, Umweltschutz, Schulbauten, Feuerwehr, Sicherheit, Zivilstandsverordnung – die Liste wird länger und länger. Erst dieses Jahr trat das neue Kinder- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft – das kommunale Vormundschaftswesen gehört der Vergangenheit an.

Auch das Milizsystem stößt an Grenzen. In seinem Kantonsmonitoring hat Avenir Suisse 2012 aufgezeigt, wie z.B. in Oberägeri (ZG, 5500 Einwohner) nicht weniger als 23 Exekutivposten zu besetzen sind; rechnet man die 20 Kommissionen mit ein, sind es sage und schreibe über 100 politische Positionen. Aufwand und Ertrag? Da fragen sich vielleicht landauf, landab engagierte Menschen, auf welche Weise starke, autonome Gemeinden erhalten werden können. Gemeindeautonomie ist ja kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Wer ehrlich dafür eintritt, sieht Handlungsbedarf.

Wer sich umhört, erntet Kopfschütteln. Warum fusionieren? Uns geht es doch gut? Und überhaupt: Auf meinen Gemeindenamen würde ich nie verzichten! Sollen die Kleinen fusionieren – wir, Gemeinden mit über 5000 Einwohnern, haben das gar nicht nötig. So oder ähnlich würde es bei Umfragen vor der Kirche im Dorf wohl tönen. In der neugeschaffenen Gemeinde Bözberg – kürzlich hervorgegangen aus der Fusion von vier kleinen Nachbargemeinden – tobt gar eine erbitterte Auseinandersetzung um die Adressen. Viele Einwohner fühlen sich entwurzelt, seitdem ihr bisheriger Dorfnamen verschwunden ist. Doch warum überhaupt diese Aufregung?

Bei Gemeindefusionen geht es in erster Linie darum, zeitgemäße Exekutiv- und Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Dazu gehört auch, dass die vielerorts spärlichen finanziellen Mittel optimal »investiert« werden. Vielleicht nicht in ein neues, überdimensioniertes Gemeindehaus, dafür in die Stärkung des schulischen Umfelds? Werden sinkende Steuerbelastungen in Aussicht gestellt, schwindet das Misstrauen rasch. Umgekehrt, wo für eine Gemeinde höhere Belastungen resultieren würden, sind Fusionen erfahrungsgemäß praktisch chancenlos. Also doch das Geld?

Wer sich in einer ruhigen Minute überlegt, wie in unserem kleinen Land Tausende engagierter Bürgerinnen und Bürger jahrein, jahraus zusammensitzen, um – im großen Ganzen – die gleichen Aufgaben zu lösen, die fast identischen Probleme in den Griff zu bekommen, den neuen gesellschaftlichen Ärgernissen oder Auswüchsen zu begegnen: mit Strukturen aus dem vorletzten Jahrhundert, als es weder Autos, Eigentumswohnungen oder Handys gab. Gibt es da vielleicht doch Handlungsbedarf?

Ein Vorschlag zur Güte: Belassen wir doch die Ortsnamen auch nach Fusionen, wie sie immer waren. Dieses rein technische Problem ist im Computerzeitalter überhaupt keines. Wenn dadurch die Bereitschaft steigt, sich mit dem Gedanken an eine Fusion mit Nachbargemeinden überhaupt zu befreunden, wäre viel Zündstoff entsorgt. Hütten, Hirzel und Schönenberg im Kanton Zürich, deren strukturelle Defizite seit Jahren bekannt sind, fusionieren, aber die Ortsnamen belassen, wäre das ein Vorschlag? Bevor – wenn der Topf des Finanzausgleichs dereinst immer spärlicher fließen wird – auch der letzte Gemeindepräsident aus Schaden klug wird?

Visionen brauchen Zeit. Die Glarner Landsgemeinde entschied 2006 vorausschauend: Aus 25 Gemeinden wurden deren drei. Es ist nicht bekannt, dass Glarnerinnen und Glarner seither an Identitäts- oder Autonomieverlust erkrankt sind.

Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

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