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VI. Kapitel

33.

1. Viel trägt aber die durch die Vorübung erlangte Fertigkeit dazu bei, daß man das Nötige sieht. Übungsfeld für den Geist kann aber nur das Geistige sein. Dessen Wesen ist dreifach und wird im Zählbaren und Meßbaren und Gedachten166 gesehen.

2. Denn die auf Beweise gestützte Lehre flößt der Seele dessen, der sich von ihr leiten läßt, unerschütterlichen Glauben ein, daß er nicht einmal an die Möglichkeit denkt, das Bewiesene könnte sich auch anders verhalten, und sie läßt ihn den Bedenken nicht unterliegen, die sich, um uns zu täuschen, heimlich bei uns einstellen.

3. Bei solcher Beschäftigung mit den Wissenschaften wird also die Seele von den Sinnendingen gereinigt und neubelebt, damit sie endlich die Wahrheit sehen kann.167

4, „Wenn nämlich die gute Erziehung und die treffliche Bildung festgehalten werden, so bringen sie tüchtige Naturen hervor, und die trefflichen Naturen, die eine solche Bildung erhalten, werden noch besser als die früheren, sowohl im übrigen als auch hinsichtlich der Fortpflanzung des Geschlechts, wie das auch bei den anderen Lebewesen der Fall ist.“168

5, Deshalb sagt auch die Schrift: „Gehe zur Ameise hin, du Fauler, und werde weiser als sie“, die in der Erntezeit reichliche und mannigfache Speise für die drohende Winterzeit aufspeichert.

6. „Oder gehe zur Biene und lerne, wie tätig sie ist!“169 Denn auch sie holt Honig von der ganzen Wiese und stellt eine einzige Wabe her.

34.

1. Wenn du aber in deiner Vorratskammer zu Gott flehst, wie der Herr lehrte,170 und im Geiste anbetest,171 so soll deine Fürsorge nicht mehr nur deinem Hause gelten, sondern auch deiner Seele, auf welchen Gebieten du für sie Nahrung suchen sollst und auf welche Weise und wie viel, und was du in ihr aufbewahren und aufspeichern sollst,172 und wann du das hervorholen sollst und für wen.173 Denn nicht durch Geburt, sondern durch Lernen entstehen die tüchtigen und erfahrenen Männer, wie Ärzte und Steuerleute.174

2. Wir sehen zwar alle in gleicher Weise den Weinstock und das Pferd, aber nur der Weingärtner wird erkennen, ob der Weinstock gut oder schlecht im Fruchttragen ist, und nur der Pferdekenner wird leicht unterscheiden, ob das Pferd leidenschaftslos oder feurig ist.

3. Daß aber einige mehr Anlage zur Tugend haben als andere, das zeigt sich darin, daß die in dieser Hinsicht besser als die anderen Veranlagten die Neigung zu gewissen Tätigkeiten haben.

4. Damit ist aber noch in keiner Weise bewiesen, daß die besser Veranlagten irgendwie schon die Vollkommenheit in der Tugend erreicht hätten, da ja auch die zur Tugend schlecht Veranlagten, wenn sie nur die richtige Erziehung erhielten, in der Regel treffliche Leistungen vollbrachten und andererseits im Gegensatz dazu die vorzüglich Veranlagten durch Vernachlässigung schlecht geworden sind. Gott hat uns aber mit der natürlichen Anlage für die Pflege der menschlichen Gemeinschaft und für die Gerechtigkeit geschaffen.

35.

1. Daher darf man auch nicht behaupten, daß, was gerecht ist, sich nur dadurch zeige, daß es festgesetzt wird; vielmehr muß man erkennen, daß durch das Gebot nur die von der Schöpfung herrührende Anlage zum Guten angeregt wird, indem die Seele durch den Unterricht zu dem Entschluß erzogen wird, das Edelste zu wählen.175

2. Wie wir es aber für möglich erklären, daß man ohne Kenntnis der Schreibkunst gläubig sein kann,176 so sind wir darüber einig, daß man die im Glauben enthaltenen Lehren unmöglich verstehen kann, ohne zu lernen. Denn die richtigen Lehren anzunehmen und die anderen zu verwerfen, dazu befähigt nicht einfach der Glaube, sondern nur der auf Wissen beruhende Glaube.

3. Und wenn Unwissenheit die Folge davon ist, daß man nicht unterrichtet wurde und nichts lernte,177 so gewährt der Unterricht die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge.178

4. Wie man aber bei Armut an Lebensunterhalt ein rechtschaffenes Leben führen kann, so ist es auch bei Überfluß möglich, und nach unserer Ansicht kann man leichter und zugleich schneller mit Hilfe der Vorbildung die Tugend erjagen, die auch ohne sie nicht unerreichbar ist, freilich auch dann nur für die, die etwas gelernt haben und „geübte Sinne“179 besitzen.

5. „Denn der Haß“, sagt Salomon, „erregt Streit, dagegen die Wege des Lebens wahrt die Bildung“180 so daß wir nicht getäuscht, so daß wir nicht betrogen werden von denen, die zum Schaden ihrer Hörer Arglist ersonnen haben.

6. „Eine Bildung aber, die nicht mit zurechtweisender Widerlegung verbunden ist, geht in die Irre“, heißt es181 und man muß sich mit der Gattung (der Rhetorik), die das Widerlegen lehrt, beschäftigen,182 damit man die trügerischen Meinungen der Sophisten abweisen kann.

36.

1. Trefflich schreibt gewiß auch der Vertreter der eudämonistischen Ethik Anaxarchos183 in seiner Schrift über das Königtum: „Vielwissen nützt zwar sehr, schadet aber auch sehr dem, der es besitzt. Es nützt dem, der geschickt ist, schadet aber dem, der leichtfertig jedes Wort und vor allem Volk ausspricht. Man muß die Grenzen der richtigen Zeit kennen, denn das ist der Markstein der Weisheit. Wer aber zur Unzeit einen Satz vorträgt, mag er auch an sich verständig sein, gilt nicht als weise, sondern wird für töricht gehalten“.184

2. Und Hesiodos sagt: „Musen, die ja den Sänger mit Reichtum an Worten beschenken, Göttlich begeistert ihn machen und kundig der Sprache.“185 Denn mit dem Ausdruck (xxx) polyphradmon meint er den, der reich an Worten ist, mit (xxx) audäeis den, der sie wirksam zu verwenden weiß, und mit (xxx) thespios den, der erfahren, weisheitsliebend und der Wahrheit kundig ist.

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