Читать книгу Die Welt im Viertel - Cord Buch - Страница 6

100 Tage vor dem Gipfel

Оглавление

Rot flackernder Feuerschein zuckt auf den Fassaden der Wohnhäuser, ätzender Qualm zieht über den Marktplatz in Eimsbüttel. Auf dem Parkplatz der Außenstelle des Kommissariats 23 brennen abgestellte Fahrzeuge. Sirenen der Feuerwehr kündigen ihr Kommen an.

Am nächsten Morgen verschafft Nele sich im Redaktionskeller der Stadtrundschau einen Überblick: Die Brandbekämpfer konnten nicht viel ausrichten. Vier Mannschaftstransporter sind ausgebrannt, vier weitere Fahrzeuge beschädigt. Heiße Tage anheizen, heißt es in einem Bekennerbrief.

Die Hamburger Polizei reagiert umgehend und umzäunt das Präsidium mit NATO-Stacheldraht.

Patrouillen umrunden Tag und Nacht das Areal. Gebüsch, das möglichen Angreifern Schutz bieten könnte, wird abgeholzt. Es wird eine Anordnung erlassen, dass jedes Kommissariat eine Streife abstellen muss, um ihr eigenes Objekt zu schützen. Für die Bürger der Stadt bedeutet das weniger Sicherheit.

Der Innensenator schätzt die Lage neu ein und begreift, dass die Hamburger Polizei, schon lange am Rande ihrer Kraft, bereits hundert Tage vor dem G20-Gipfel nicht mehr in der Lage ist, die wichtigsten Objekte zu schützen. Er fordert Verstärkung aus anderen Bundesländern an. In einigen Tagen sollen Mannschaftswagen in die Stadt hineinrollen und Bereitschaftspolizisten von außerhalb das Hamburger Rathaus und andere wichtige Gebäude bewachen.

Nele schreibt G20-Gipfel auf ein Whiteboard und pinnt ein Foto darunter, das die rußgeschwärzten Gerippe der ausgebrannten Mannschaftswagen zeigt. Daneben und darunter hängt sie Zeitungsausschnitte aus den Konkurrenzprodukten der Stadtrundschau.

In einem dieser Berichte wird empfohlen, sich während der Gipfeltage Urlaub zu nehmen und die Stadt zu verlassen. Der angeblich einer Zeitung vorliegende interne Lagebericht der Polizei schließe Tote nicht aus, vor allem, falls die Kolonne mit dem amerikanischen Präsidenten bei der Fahrt zu einer der Tagesstätten aufgehalten werden sollte. Die ihn begleitenden Sicherheitsleute würden das nicht hinnehmen.

Andere Artikel spekulieren über mögliche Sabotageaktionen. Es werden Blockaden von Bahnstrecken, des Hafens und des Elbtunnels befürchtet. Funkmasten könnten gestört, die Stromversorgung unterbrochen und Ampeln manipuliert werden. Möglicherweise sollen mit Helium gefüllte Ballons den Flugverkehr lahmlegen und die Ankunft der Staatsgäste verhindern. Nele wird es heiß und kalt angesichts der beschriebenen Szenarien.

»Kommt doch mal her«, ruft sie ihre Kollegen zu sich und zeigt auf ihre Sammlung von Vorberichten. Bernd und Max lassen ihre Blicke über Neles Sammlung schweifen.

»Da wird jetzt schon ein Bürgerkriegsszenario zusammengeschrieben. Dabei ist der Gipfel erst in hundert Tagen«, entsetzt sich Bernd. Er hat in morgendlicher Eile einen ungebügelten Pullover von der Wäscheleine genommen, der schlabbrig über seine ausgefranste Jeans hängt. Obwohl er gerade erst vierzig geworden ist, eroberte das Grau unerbittlich seine Haare.

»Und wir sind bisher ziemlich zurückhaltend, was den Gipfel anbelangt.«

Max streicht sich nachdenklich über seinen Dreitagebart und Nele fragt sich, wie ein Mann einen Dreitagebart jeden Tag wie einen Dreitagebart aussehen lassen kann. Kürzt Max jeden Tag die Bartstoppeln um ein Viertel, damit aus einem Viertagebart wieder ein Dreitagebart wird? Noch nie hat sie sein Kinn ohne die Zier millimeterlanger Haare gesehen. Sie wendet ihre Gedanken wieder der Arbeit zu.

»Wir müssen ab sofort mehr auf das Thema setzen, auf alternative Berichte. Nur trockene Demoaufrufe zu verbreiten bringt nichts. Ich habe gehört, dass eine Unmenge kleiner und fantasievoller Aktionen geplant ist, auch im Vorfeld. Aber«, Nele legt eine nachdenkliche Pause ein, »es geht nicht nur um Aktionen. Wir sollten das Thema öffentlich diskutieren.«

»Was gibt es denn da zu diskutieren?«

Bernd schaut Nele ungläubig an.

»Manche sehen im Gipfel das Böse überhaupt, andere ärgern sich, dass er in unserer Stadt stattfinden soll. Aber viele finden es gut, dass die zwanzig mächtigsten Regierungschefs sich treffen. Diese Menschen sind nicht gegen das Treffen, sie sind gegen die Politik, die diese Staaten machen.«

»Warum soll es gut sein, wenn die zwanzig sich treffen und neue Schweinereien aushecken?«

»Wer redet, der schießt nicht. Das ist das Wichtigste überhaupt – Krieg zu verhindern.«

Nele bringt die Männer zum Nachdenken, doch sie beschäftigt sich bereits mit den vor ihnen liegenden Aufgaben.

»Ich schreibe ein Konzept, wie wir die Diskussion über G20 befördern können. Und ich fände es gut, wenn einer von uns am kommenden Wochenende zur Aktionskonferenz ins Millerntor-Stadion geht. Anschließend basteln wir uns einen Aktionskalender, den wir ständig aktualisieren.«

»Schaut mal.« Bernd hält Nele und Max eine aufgeschlagene Zeitung hin. »Dieses Boulevardblatt hat einen Counter eingerichtet: Noch 100 Tage bis zum Gipfel. Die werden ab heute jeden Tag etwas bringen.«

»Das werden wir auch. Aber ohne Zähler.«

Die drei sind sich einig. Nele und Max wenden sich ihrem Arbeitsplatz zu, Bernd bleibt nachdenklich vor der Pinnwand stehen.

»Meint ihr, es wird wirklich Tote geben?«, ruft er den beiden hinterher.

Die Welt im Viertel

Подняться наверх