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Eine Woche vor dem Gipfel

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Cairo hält Isa im rechten Arm. Ihr schwarzes Haar fällt auf ihre nackten Schultern. Es ist Sommer und der Asphalt der Straßen hat die Strahlen der Sonne in sich aufgesogen. Es ist angenehm, dort zu sitzen, wo sich zu Berufsverkehrszeiten endlose Blechlawinen stauen.

Mit der linken Hand hält Cairo ein selbst gemaltes Schild in die Höhe: »Wenn ihr unser Viertel abriegelt, blockieren wir euren Gipfel!«

Wütend zeigt Sven auf das Schild. »Und sie werden trotzdem das Viertel abriegeln. Ständig werden wir uns ausweisen müssen. Aber ob du durchkommst, das ist ungewiss. Und wenn deine Freunde in der Nähe der Messehallen wohnen, darfst du sie nicht besuchen.«

»Wissen wir doch.«

Cairo grinst und hofft, dass sich sein Freund bis zum Gipfel beruhigen wird. Ruhe behalten, das wird wichtig sein. Damit es jedem gelingt und niemand bei den kommenden Protesten zu Schaden kommt, haben sie sich in einer Bezugsgruppe zusammengeschlossen, üben sie das Blockieren, um während der Gipfeltage die Fahrten der Staatsgäste zu den Messehallen zu behindern. Sie, das sind Cairo und seine Freundin Isa, sein langjähriger Freund Sven, der leicht aufbrausende Hakim, der phlegmatisch wirkende Pawel und die ruhelose Petra.

»Ist das nicht geil?«

Isa lehnt sich an Cairo und schaut zu ihm auf. Selbst im Sitzen macht es sich bemerkbar, dass ihr Freund fast zwei Meter groß ist.

»Was meinst du?«

»Wie wir hier alle sitzen, ein kunterbunter Haufen und total gute Stimmung. Alle Altersklassen sind vertreten, und jeder redet mit jedem.«

»Und vor allem: Rund um das Viertel ist der Verkehr zusammengebrochen.«

Cairos Augen, die das Braun der Augen seiner Mutter geerbt haben, strahlen. Aus der Ferne wummern die Bässe der Musik herüber, die der Lautsprecherwagen der Blockierer in die Straßenschluchten schüttet.

Die Polizei kündigte am gestrigen Tag auf einer Pressekonferenz eine Nulltoleranzstrategie an. Grund genug für Cairo, am Morgen eine Regenjacke einzupacken. Nicht, weil er der Sonne nicht traute, sondern um – wenn nötig – einen Schutz gegen das Nass der Wasserwerfer zu haben.

Doch Cairos Jacke bleibt im Rucksack neben der Wasserflasche verstaut. Die Polizei hält sich auffallend zurück, nur wenige Beamte sind vor der Straßenblockade stationiert worden. Statt ihre Helme auf dem Kopf zu tragen, haben sie diese am Gürtel festgeschnallt.

»Ich fühle mich wie auf einem riesigen Picknick. Oder wie auf einem Festival.«

Isa ist in derselben freudigen Erregung wie ihr Freund.

»Lieber tanz ich als G20!« Petra springt auf und bewegt sich zu dem Takt der herüberschallenden Musik.

»Rocken wir den Gipfel platt!«, feuern Cairo und Isa sie an.

»Letztes Jahr im November wollte ich glatt meine Monatskarte kündigen. Erinnert ihr euch an die Ankündigung, dass seit dem Frühjahr keine Haftbefehle wegen Schwarzfahrens oder nicht gezahlter Schulden mehr vollstreckt werden sollten, damit die Gefängnisplätze freigehalten werden für die Gipfeltage? Ich bin gespannt, was die vorhaben«, traut Hakim, der Älteste von ihnen, dem Frieden nicht.

»Schwarzfahren kann teuer werden«, gibt Cairo, der nur halb zugehört hat, zu bedenken. Ob er dieses Wissen von den Plakaten der Hamburger Verkehrsbetriebe erworben oder diese Erfahrung selbst gemacht hat, verrät er nicht.

»Einfach nicht erwischen lassen.«

Isa scheint sich auszukennen.

»Noch bedenklicher finde ich«, erinnert sich Hakim an nicht verdaute Pressemeldungen, »dass die Krankenhäuser seit Tagen keine Operationen mehr durchgeführt haben, damit in den nächsten Tagen ausreichend Betten frei sind. Auch das Personal wurde aufgestockt.«

»Man kann echt Angst bekommen«, kommentiert Sven.

Isa und Petra in ihrer Festivallaune sowie Cairo, Hakim, Pawel und Sven in ihrer Diskussion bemerken erst spät die Unruhe, die sich vor ihnen ausbreitet. Wasserwerfer sind aufgefahren, schicken blaugrauen Rauch aus ihren Auspuffrohren in den Himmel. Zwischen ihnen steht ein Lautsprecherwagen der Polizei, die Scheinwerfer auf seinem Lichtmast sind trotz der vom Himmel strahlenden Sonne eingeschaltet. Behelmte Einheiten der Bundespolizei lösen ihre Hamburger Kollegen ab und formieren sich vor der Blockade.

»Scheiße, es geht los.«

Cairo wühlt seine Regenjacke aus dem Rucksack, zieht sie sich an und die Kapuze über den Kopf. Eine Sonnenbrille hat er schon auf. Hakim und Sven tun es ihm gleich.

»Jetzt gibt es eine Abkühlung. Gut bei der Hitze. Und, Jungs, macht kein Stress.«

Petra tanzt unbeeindruckt weiter zur Musik. Isa schließt sich ihr an.

»Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Räumen Sie die Straße. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, werden polizeiliche Zwangsmittel gegen Sie eingesetzt. Dieses ist die erste Aufforderung. Es ist elf Uhr und zwölf Minuten.«

Cairo weiß, wie es weitergehen wird. Nach zwei weiteren Aufforderungen wird die Straße geräumt werden. Vielleicht gibt es als Goodwill noch eine vierte Aufforderung, aber mehr nicht. Einige der Blockierer werden nach der zweiten die Straße verlassen, andere werden sich wegtragen lassen, noch andere werden sich wehren. Wie es in einer halben Stunde aussehen wird, kann niemand vorhersagen.

»Kommt, setzt euch.«

Isa und Petra setzen sich zu ihren Freunden. Sie haken sich unter, sie werden weiter blockieren, sie fallen ein in die lautstarken Sprechchöre der Menschen um sie herum.

Nachdem auch die dritte Aufforderung aus dem Polizeilautsprecher einen Großteil der Menge nicht beeindruckt hat, rückt die Polizeikette vor. Vom Straßenrand außerhalb der Blockade werden Böller auf die Polizisten geworfen. Die Wasserwerfer schalten das Wasser ein, richten ihren harten Strahl auf die Menschen am Straßenrand, aber auch auf die auf dem Boden Sitzenden. Einige trotzen dem enormen Druck, andere springen auf und flüchten.

Die Polizisten beginnen zu laufen und vertreiben die Menschen von der Straße. Wer nicht aufsteht, wird unsanft weggetragen oder weggeschleift. Blaulicht zuckt, Martinshörner übertönen sich gegenseitig.

Cairo und seine Freunde springen auf, rennen los, schließen sich dem Pulk der Flüchtenden an. Zu spät, sie kommen nicht weit. Aus einer Seitenstraße rückt eine weitere Hundertschaft an und schneidet ihren Fluchtweg ab. Sie müssen in eine andere Richtung ausweichen.

Sven stürzt. Cairo versucht, ihm aufzuhelfen. Ein Polizist schlägt auf seinen Nacken. Cairo wird von Sven weggedrängt und flüchtet zusammen mit seinen Freunden.

Einige hundert Meter entfernt, am Heiligengeistfeld, bleiben sie außer Atem stehen. Hier fühlen sie sich sicher, Polizei ist nicht zu sehen. Niemandem ist etwas Ernsthaftes passiert, nur Sven fehlt.

»Ob sie ihn festgenommen haben?«, sorgt sich Isa.

»Wehe, wenn ihm etwas passiert ist.«

Hakim ist wütend.

***

Stunden vergehen, und Sven bleibt unauffindbar. Der Ermittlungsausschuss der Protestler, ein Zusammenschluss ehrenamtlich arbeitender Rechtsanwälte, auch Legal Team genannt, weiß nichts über seinen Verbleib. Dort hätte er sich nach einer Festnahme melden sollen, so haben sie es abgesprochen; und Isa hat gesehen, wie Sven sich die entsprechende Telefonnummer auf den linken Unterarm schrieb.

Jetzt wischt sie lustlos über das Display ihres Smartphones und lässt Facebook-Posts an sich vorbeiziehen, während Cairo nach Tweets auf Twitter sucht, um neuste Nachrichten von dem Geschehen in der Stadt zu bekommen.

»Langsam mache ich mir Sorgen.«

Isa wickelt eine Strähne ihres schwarzen Haars um ihren linken Zeigefinger. Wie so oft, wenn sie unruhig ist. An ihrem in die Ferne schweifenden Blick erkennt Cairo, dass es ihr ernst ist.

»Vielleicht lassen sie ihn nicht telefonieren. Das gibt es manchmal.«

»Und wenn etwas Schlimmes passiert ist?«

»Mensch, Isa.« Cairo nimmt sie in den Arm, zieht sie an sich und küsst ihre Stirn. »Mal doch nicht den Teufel an die Wand.«

Ihre beginnende Zärtlichkeit stört ein Gitarrenakkord der Goldenen Zitronen, den Cairos Handy in den Raum schleudert. Er löst sich von Isa, nimmt das Gespräch an und nennt lautstark seinen Namen. Wenig später verstummt er, sein Gesicht wird bleich. Bevor er auflegt, stammelt er Unverständliches.

»Was ist los?«

Isa blickt ihn irritiert an.

»Das war Svens Mutter. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert.«

»Warum?«

»Er ist gestürzt, und in der Panik sind andere über ihn hinweggetrampelt.«

»Und, ist es schlimm?«

»Er liegt im Koma. Die Ärzte wissen nicht, wie lange das dauern wird. Und auch nicht, ob er jemals wieder aufwachen wird.«

Die Welt im Viertel

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