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Ein Tag vor dem Gipfel, 11:15 Uhr
ОглавлениеHauptkommissar Werner Jensen blättert lustlos in den verknitterten Dokumenten einer Akte. Gewöhnlich bestimmen digitale Akten sein Tagesgeschäft, klickt er sich mit der Maus durch Ermittlungsergebnisse und nutzt die automatisierten Analysefunktionen der Polizeisoftware auf seinem Computer. Doch eingescannte Dokumente vermitteln ihm nicht den taktilen Reiz einer papierenen Akte.
Er nimmt gern Papier in die Hand, riecht die leicht würzige Muffigkeit der Vergangenheit und hofft, dass zusammen mit dem Geruch ein Körnchen verborgener Wahrheit aus den Dokumenten zu ihm hinüberströmt.
Jensen ist mit einem wieder aufgerollten Fall beschäftigt, einem Altfall. Zwölf Jahre ist es her, dass ein Obdachloser in der Nähe des Hamburger Rathausmarktes ermordet wurde. Der Täter konnte nicht ermittelt werden und läuft immer noch frei herum.
Der Hauptkommissar krault gedankenverloren seinen Vollbart, für den es an der Zeit ist, gestutzt zu werden.
Seine Kolleginnen Wiebke Maurer und Conny Schrader sind vor drei Tagen abgezogen worden. Sie stehen zusammen mit über dreißigtausend anderen Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet und dem Ausland Tag und Nacht auf der Straße. Sie sollen mit dafür sorgen, dass der Gipfel der zwanzig mächtigsten Regierungschefs reibungslos und ohne Störungen verläuft.
»Welch ein Wahnsinn«, denkt Jensen. »Wie kann man nur ein solches Ereignis inmitten einer Großstadt stattfinden lassen? Und dann noch am Rande eines Viertels, das nicht nur als Partyviertel, sondern auch als Hochburg alternativer Ideen und Proteste gilt.«
Schon zu Ostern, vor knapp einhundert Tagen, wurden Beamte aus den Kommissariaten abgezogen und zu Alarmhundertschaften zusammengefasst, um Osterfeuer zu bewachen, auf der Reeperbahn zu patrouillieren, den Stall der Polizeipferde oder die Polizeiboote auf der Außenalster zu schützen. Selbst Drogenspürhund Trude muss seit Wochen Wache schieben, statt Drogendealer zu enttarnen oder im Hafen Schmuggelgut aufzuspüren.
Jensen ist froh, nicht auf die Straße abkommandiert worden zu sein. Sicher hätte er mit seinem in der letzten Zeit umfangreicher gewordenen Bauch Demonstranten stoppen können. Aber das hat er niemand vorgeschlagen. Sein Alter war es nicht, was ihn vor dem Außendienst gerettet hat. Andere Kollegen an die fünfzig müssen auch nach draußen.
Doch sein Innendienstdasein hat eine gewaltige Schattenseite: Die nicht in Alarmhundertschaften eingesetzten Beamten müssen Zwölfstundenschichten schieben. Und das im Sommer. Er würde lieber seine Abende mit einem Glas kühlen Weißweins im Garten genießen und in die Farben des Sonnenuntergangs schauen.
Jensen blickt zum wiederholten Mal rechts unten auf seinen Bildschirm, wo ein Newsticker läuft und im Minutentakt Meldungen ausspuckt. Er möchte wissen, wie es seinen Kolleginnen auf der Straße ergeht und wie die Stadt die Gipfeltage übersteht.
Die Nachrichten sind wie erwartet: Straßentheater, Demonstrationen, Blockaden, Verkehrschaos, Straßensperrungen. Seit Tagen nehmen die Anzahl der Aktionen, die Anzahl der Teilnehmer daran und die polizeilichen Maßnahmen zu.
Er wendet sich wieder dem Altfall in der muffigen Akte zu. Allen Spuren ist nachgegangen worden, und einen neuen Anhaltspunkt hat er nicht gefunden. Er beschließt, ein weiteres Mal die Zeugenaussagen durchzugehen. Vielleicht findet er das eine Wort, an dem etwas nicht stimmt und das den Weg auf eine bisher übersehene Spur weist. Aber wo in dieser verdammten Akte hat sich dieses Wort versteckt?
Wieder verlangt der Nachrichten ausspuckende Newsticker seine Aufmerksamkeit und entzieht diese dem hoffnungslosen Fall. Die Worte auf dem Bildschirm lassen Jensen erstarren. »Eilmeldung: Polizistin in Hamburg auf offener Straße erschossen.«