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Marianne Maibaum, Sozialdezernentin des Landkreises Offenbach, residierte im obersten Stockwerk der Kreisverwaltung in der Werner-Hilpert-Straße. Vom Spessartviertel, wo sich die Büros des Querschnittsteams befanden, bis dorthin war es Lena noch nie so weit vorgekommen. Nun saß sie bereits seit einer Viertelstunde im Vorzimmer und wartete darauf, von ihrer obersten Vorgesetzten empfangen zu werden. Sieglinde Brohm rauschte irgendwann an ihr vorbei ins Büro der Politikerin. Als sie totenbleich wieder herauskam, würdigte sie Lena keines Blickes. Dabei waren beide einmal so etwas wie befreundet gewesen. Damals, als sie noch Sozialarbeiterinnen im Jugendamt waren. Nach Sieglindes Beförderung zur Abteilungsleiterin hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen verändert. Sieglinde war seither gezwungen, anders zu handeln als vorher. Vor allem die Effizienz der Abteilung stand nun im Vordergrund ihres Wirkens, ebenso quälte sie in zunehmendem Maße die Frage, wie immer mehr Arbeit mit immer weniger Personal bewerkstelligt werden konnte. Lena war ihr dabei ein Dorn im Auge, weil sie stets auf die Unvereinbarkeit von qualitativ guter Arbeit und zusammengeschusterter Lösungen aufgrund von Überlastung verwies. Als Sieglinde die Gelegenheit bekam, Lena in ein zunächst befristetes Vorzeigeprojekt der Dezernentin abzustellen, hatte sie nicht lange gezögert. Seither saß Lena mit rund einem Dutzend anderer Sozialarbeiter*innen in Büros direkt im Brennpunkt und war für einen ausgesuchten Personenkreis erste Ansprechpartnerin in allen Fragen der Hilfegewährung sämtlicher Ämter.

Die Tür flog auf und Lena wurde aus ihren Überlegungen gerissen. Doch nicht Marianne Maibaum stand dort, sondern Konrad Leiß. Der Personalchef sah aus, als habe man ihm die Luft abgelassen. Er winkte Lena herein. Beim Betreten des Raumes war es, als würde sie sich in eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre begeben. Die Maibaum saß am Kopfende des Besprechungstischs und blickte bei ihrem Eintreten von einem Schriftstück auf. Lena erkannte unverhohlene Abscheu in ihren Augen, bevor sich die Chefin wieder im Griff hatte. Neben der Maibaum saß Carola Bergmann, die persönliche Referentin der Politikerin. Ihre Miene war ernst und ausdruckslos. Leiß räusperte sich, bevor er Lena bat, ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen und sich ihr gegenüber niederließ.

Die nachfolgende halbe Stunde würde sie vermutlich nie vergessen. In einer Atmosphäre eisiger Kälte informierte sie Konrad Leiß über die Situation. Angelika Kiewitz war in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Ihr Sohn Toby lebte ebenfalls nicht mehr. Der kleine Junge war derartig schwer misshandelt worden, dass er die Tortur nicht überlebt hatte.

»Die Misshandlungen zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Sie als zuständige Sozialarbeiterin hätten sehen müssen, was in der Familie vorgeht«, hielt Leiß ihr vor.

»Moment«, meldete sich Lena zu Wort. »Ich war nicht mehr zuständig für die Familie.« Niemand antwortete, Leiß wich ihrem Blick aus.

»Frau Borowski, wir alle stehen hinter Ihnen. Die Kripo wird Sie womöglich befragen. Wir als Behörde sind jedoch aufgefordert, die Sache intern zu klären. Bis dahin sind Sie vom Dienst suspendiert. In Ihrem eigenen Interesse. Und selbstverständlich nach Rücksprache mit dem Betriebsrat, der der Maßnahme zugestimmt hat.«

Die Worte hallten nach wie ein viel zu lauter Gong, der in ihrem Kopf geschlagen wurde.

Sie sah von Leiß, der sichtlich bemüht war, die Sache so sachlich wie geschmeidig rüberzubringen, zu Carola Bergmann, die sie aufmerksam musterte. Was sie dachte, konnte Lena noch nicht einmal erahnen. Bei Marianne Maibaum verhielt sich das anders. Blanker Hass leuchtete aus den Augen der Dezernentin.

Die rächt sich jetzt an dir für das, was du ihr vor Kurzem zerschossen hast.

Doch keinesfalls wollte Lena eine solche Behandlung klaglos hinnehmen.

»Als ich sie zuletzt gesehen habe, hatte Angelika Kiewitz ihr Leben wieder im Griff. Doch seit meiner Versetzung gehörten sie und ihr Sohn nicht mehr zu meinen Klienten.«

Leiß blickte stirnrunzelnd zur Maibaum, die Lenas Worte mit einer leichten Handbewegung abtat. Erst jetzt sah Lena, dass die Finger der Dezernentin auf der Fallakte lagen.

»Schauen Sie nach!«, forderte sie die Politikerin auf.

Carola Bergmann blickte nun ebenfalls auf die Akte. Nachdenklich, wie Lena schien. Sie sagte jedoch nichts.

»Das werden wir tun. Wie gesagt, wir klären das. Nicht Sie. Wir stehen momentan im Fokus, es ist die Kreisverwaltung, mein Dezernat, das Jugendamt.« Marianne Maibaum erhob sich zum Zeichen, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete. Leiß und die Bergmann taten es ihr gleich. Lena schnappte empört nach Luft. »So geht das aber nicht! Sie können mich nicht einfach zur Seite schieben. Eine Suspendierung kommt einem Urteil gleich …«

»Frau Borowski. Wir haben uns das gut überlegt. Es ist momentan der einzig denkbare Weg.« Die Bergmann hatte sie unterbrochen. Nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Sobald wir klarer sehen, reden wir weiter.«

Keine Chance, die Sache noch zu drehen.

»Wir melden uns, falls es Neuigkeiten gibt.« Leiß reichte ihr als einziger die Hand.

Wie betäubt verließ Lena das Büro der Politikerin. Sie rannte die Treppe hinunter. Dann stand sie vor dem grauen Gebäude, immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Sie war total durcheinander. Wohin sollte sie sich wenden? Zurück an ihren Schreibtisch, das war ihr untersagt worden. Sie wusste, dass Norbert Müller sehr genau darauf achten würde, dass sie dieses Verbot einhielt. Und hier im Haus gab es für sie nichts mehr zu tun.

Wir heben die Suspendierung sofort wieder auf, sollte sich der Fall zu Ihren Gunsten klären, hatte der Personalchef ihr versichert, nachdem er ihre Schlüssel und das Diensthandy an sich genommen hatte. Lena fühlte sich, als habe man ihr einen Teil ihrer Identität geraubt. Sollte sie jetzt einfach nach Hause fahren? Während man hier so tat, als trüge sie die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an dem, was geschehen war? Wut erfasste sie. Am liebsten hätte sie gegen irgendetwas getreten. Nur, dass das auch nichts geändert hätte. Genauso wenig wie an ihrem permanent schlechten Gewissen. Hatte Angelika Kiewitz noch gelebt, als sie am Vortag vor ihrer Tür stand? Sie ging noch einmal die Optionen durch, die sie gehabt hatte. Doch genau wie am Sonntag kam sie zum Ergebnis, dass es keinerlei Handhabe für sie gegeben hätte, die Polizei zu rufen. Die hätte ganz sicher keine Wohnung aufgebrochen, deren Bewohner laut Auskunft der Nachbarn in Urlaub gefahren waren.

Lena wusste, dass ein Blick in die Akte die Sache klären würde. Nur, dass die Maibaum genau das verhindert hatte. Mit Argumenten, die Lena nur bedingt akzeptieren konnte. Während sie ziellos durch die Straßen lief, lächelte ihr die Maibaum mehrfach von Plakatwänden entgegen. Genauso wie der amtierende Landrat Hans-Joachim Söder. Die beiden würden sich in den kommenden Wochen bis zur Landratswahl ein heißes Gefecht liefern. Die Maibaum wollte unbedingt Söders Stuhl. Da war es für die ehrgeizige Politikerin fast ein Super-Gau gewesen, als zwei Monate zuvor eines ihrer geplanten Vorzeigeprojekte im Sozialbereich den Bach runterging, nachdem brisante Details zu Betrügereien durch den von ihr ausgesuchten Geschäftspartner ans Licht gekommen waren. Sie verdächtigte Lena, etwas damit zu tun zu haben. Das kam nicht von ungefähr. Doch sie konnte ihr nichts nachweisen. Jetzt würde sie versuchen, es ihr auf andere Weise heimzuzahlen.

Die Fäuste tief in den Taschen ihrer Lederjacke vergraben, lief Lena eine Weile ziellos umher. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie drehte auf dem Absatz um, und schlug den Weg zu den Hochhäusern des Spessartviertels ein.

Leise Wut

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