Читать книгу Leise Wut - Cornelia Härtl - Страница 7
Prolog
ОглавлениеDer Junge wimmerte, sie konnte es durch die dünne Wand hören.
Die Männer waren gegangen und hatten sie mit ihm allein gelassen. Sie vertrauten ihr. Ihrer Angst vor ihnen. Das war ein Fehler.
In der Küche lag unter der Spüle ein Wohnungsschlüssel versteckt. Vor Wochen, als sie alle in diese Bruchbude einzogen, hatte ER einmal kurz den Überblick verloren. Seitdem wartete sie auf ihre Gelegenheit. Jetzt schien der Zeitpunkt gekommen zu verschwinden.
Vorsichtig öffnete sie die Tür zu dem Zimmer, in dem der Junge lag. Schlief er? Er schniefte und hielt ein zerfleddertes Kuscheltier an sich gedrückt. Sie wollte sich bereits zurückziehen, als er den Kopf hob. Im Halbdunkel des Raumes trafen sich ihre Blicke. Er war klein, so zart, mit blondem Flaum und hellen Augen. Still sah er sie an. Sie konnte ihn nicht alleine hierlassen. Sie seufzte, stieß die Tür ganz auf und ging zu ihm. Der Mann, der GOTT war, hatte dem Jungen die Hände zusammengebunden. Sie löste den schmutzigen Gürtel, der irgendwann einmal zu einem Bademantel gehört hatte, von den blassen Handgelenken. Er starrte sie an, urplötzlich flackerte Angst in seinen Augen auf. Er verzog den Mund zu einem Greinen.
»Pst!«, signalisierte sie ihm, den Finger an die Lippen gelegt, die Augen warnend aufgerissen. Sie zog ihn hoch, ängstlich presste er die Stoffgiraffe an sich.
»Ich haue ab. Wenn du willst, nehme ich dich mit«, flüsterte sie in ihrer Sprache. Er antwortete nicht. Starrte nur auf den Schlüssel in ihrer Hand. Wie hypnotisiert ließ er sich in den Flur führen. Sie lauschte kurz an der Tür, dabei fiel ihr etwas ein.
»Bleib hier.« Sie rannte in die Küche, griff nach dem Stoffbeutel am Haken hinter der Tür. Dorthinein warf sie alles, was sie im Kühlschrank und im Regal fand. Es war nicht viel. Ein Stück Salami, eine kleine Packung Milch, ein Apfel, eine Packung Cracker. Mit einem Ohr nach draußen lauschend, durchsuchte sie danach den Schrank und die Schubladen nach Geld. Sie fand zwei 10-Euro-Scheine in einer Tasse und einen Fünfziger in einem alten Briefumschlag, auf dem jemand unter dem Wort »Einkäufe« Streichhölzer, Seife und Spülmittel notiert hatte.
Der Junge stand genauso an der Tür, wie sie ihn verlassen hatte. Er atmete durch den geöffneten Mund, seine Nase in dem tränenverschmierten Gesicht war rot vom Weinen. So konnte sie unmöglich mit ihm auf die Straße gehen.
Ich sollte ihn hierlassen. Der ist eh fertig.
Der Junge hob die Hand und fuhr damit unter der Nase entlang. Er sah sie an. Vertrauensvoll auf eine Weise, die sie berührte. Erneut ging sie zurück, dieses Mal ins Bad, um ein Handtuch zu holen. Als sie ihm das Gesicht abgewischt hatte, ließ sie es einfach zu Boden fallen.
Nun endlich drehte sie den Schlüssel im Schloss. Langsam zog sie die Tür der Wohnung auf. Bereit, innerhalb von Sekunden ihren Plan für diesen Tag aufzugeben, falls ausgerechnet jetzt jemand kommen würde. Draußen war es still. Sie trat in den Hausflur hinaus. Niemand zu sehen. Sie griff nach der Hand des Jungen, zog ihn mit sich. Sie nahmen die Treppe, hasteten hinunter. Erst, als sie auf der Straße standen, begann etwas in ihrem Magen zu rumoren. Angst. Wenn jetzt der Transporter angefahren käme. Die Männer sie hier sehen würden. Mit dem Jungen …
Schnell schob sie den Gedanken an die Konsequenzen weg. In aller Eile orientierte sie sich. Sie befanden sich in einer Siedlung, in der mehrere lang gestreckte, fünfgeschossige Häuser schräg zur Straße standen wie große Legosteine. Dazwischen ungepflegter Rasen, ein Sandkasten, eine Schaukel, Teppichstangen.
Der Himmel hing grau über ihnen, es nieselte und ein leichter Wind bauschte eine weggeworfene Zeitung auf.
Der Junge brummelte etwas, sie achtete nicht auf ihn, zog ihn über die Straße. Sie rannten zwischen zwei Häusern hindurch, bis sie zu einem Fußpfad kamen. Hier erst bemerkte sie, wie unpassend sie angezogen waren. Der Junge trug lediglich eine kurze Hose und ein T-Shirt, er hatte keine Jacke an und an den Füßen nur Socken. Sie selbst trug ein viel zu dünnes Kleid unter ihrer Strickjacke. Hektisch sah sie sich um. Wohin? Sie war so sehr darauf konzentriert gewesen, die Wohnung zu verlassen, dass sie sich über das weitere Vorgehen kaum Gedanken gemacht hatte. Ausgerechnet jetzt fing der blöde Junge wieder an zu weinen.
Gerda Bahlmann prüfte mit dem Finger die Erde ihrer Topfpflanzen. Noch feucht genug, sie stellte die Gießkanne zur Seite und blickte hinunter in den Durchgang zum Nachbarhaus. Ein dunkelhaariges, mageres Mädchen lief dort, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. An der Hand hielt sie einen kleinen, blonden Jungen, der ein Stofftier hinter sich herschleifte. Die Nervosität, die die beiden ausstrahlten, erregte ihre Aufmerksamkeit. Ebenso die Kleidung. Beide waren nicht dem Wetter entsprechend angezogen. Trug der Junge überhaupt Schuhe? Sie schob die Brille etwas höher auf die Nase. Das Mädchen hatte es eilig, sie sah sich ständig um. Der Junge weinte. Er kam nicht richtig mit, stolperte. Verlor sein Spielzeugtier. Das Mädchen wollte weiter, aber der Kleine war bockig. Sie mussten zurück. Er umklammerte die Giraffe jetzt so fest, als wolle er sie erwürgen. Sie verschwanden hinter dem Nachbarhaus. Wohin sie wohl wollten, ohne Kopfbedeckung, ohne Schirm bei dem feuchten Wetter? Achteten denn Eltern heutzutage nicht mehr auf sowas? Die Rentnerin zuckte die Schultern. Sie wohnte schon lange in dieser Siedlung am Stadtrand von Heilbronn. Inzwischen zogen immer mehr merkwürdige Leute hierher, bald wunderte einen gar nichts mehr.