Читать книгу Leise Wut - Cornelia Härtl - Страница 16
09
ОглавлениеDer Notar las mit kräftiger Stimme den letzten Absatz des umfangreichen Schriftstücks vor, das vor ihm auf dem Tisch lag und schob es anschließend den Männern zu, die ihm in seinem Büro gegenübersaßen. Beide unterschrieben, wenige Minuten später brachte die Vorzimmerdame ein Tablett mit drei Gläsern Sekt. Es wurden Hände geschüttelt und die Vertragspartner verließen kurze Zeit später gemeinsam die Kanzlei im Frankfurter Westend. Sie verabschiedeten sich vor dem Jugendstilbau und strebten in entgegengesetzte Richtungen.
Es war kurz nach fünf Uhr am Nachmittag, der Tag war ungewöhnlich warm gewesen, in den Straßencafés saßen gut gelaunte Menschen, um den Feierabend mit einem Kaffee oder einem Apérol Sprizz einzuläuten.
Gerd Rohloff bestieg zwei Straßenecken weiter seinen Jaguar und fuhr in Richtung Bahnhofsviertel, wo er eine Viertelstunde später den Kinky-Club betrat. Zum letzten Mal, denn er hatte ihn soeben verkauft. Es war das letzte seiner Etablissements, von dem er sich trennte. Alles andere, darunter das wenige Schritte entfernt liegende Stundenhotel und ein Stripteaselokal, waren bereits in andere Hände übergegangen. Bei jedem Verkauf hatte er genau überlegt, wem er das anvertraute, was er über viele Jahre hinweg aufgebaut und geleitet hatte. Anders als die meisten seiner Konkurrenten im Bahnhofsviertel, hatte er sich in erster Linie als Geschäftsmann gesehen. Der gut verdiente, aber eben Grenzen hatte. Weder mit Drogen noch mit Prostitution hatte er sein Geld gemacht. Einen altmodisch anmutenden Ehrenkodex besaß er. »Stundenhotel ja, Bordell nein«, hatte er einmal auf eine entsprechende Frage geantwortet. Und dass seine Barfrauen auch nur das waren und er in keinem seiner Läden Animiermädchen beschäftigte. »Tabledance, Striptease und wer jemanden kennenlernt, kann stundenweise ein Zimmer mieten. Ich bin kein Zuhälter, verkaufe keine Drogen und habe mich schon immer erfolgreich aus allen anderen Arten von Kriminalität herausgehalten«, lautete seine offizielle Devise. Streng genommen stimmte das Letztere nicht, aber außer ihm wusste das kaum jemand. Gerd Rohloff hatte durchaus seine eigenen Grenzen, Regeln und Gesetze.
»Chef!« Die Barfrau war bereits da. »Wollen Sie es sich nicht doch noch mal überlegen?« Ihre kajalumrandeten Augen schwammen.
Rohloff strich ihr mit der Hand über den Arm. »Anita, Ihr habt alle eine Übernahmegarantie vom neuen Besitzer.« Zusätzlich hatte jeder, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit, vor einigen Tagen einen Umschlag mit ein paar persönlichen Worten, handschriftlich und individuell, ausgehändigt bekommen. Das, was sich darüber hinaus im Umschlag befand, war bei Anita besonders üppig ausgefallen. Sie hatte vor ihrer Zeit hier bereits in einem anderen Club für Rohloff gearbeitet, anschließend war sie vom Eröffnungstag der Kinky-Bar an hinter der Theke gestanden. Sie biss sich auf die Lippen, und als sie den Kopf senkte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
Rohloff betrat sein Büro, das bereits weitgehend leer geräumt war. Noch ein paar letzte Dinge verstaute er in einem Pappkarton. Dann sah er sich ein letztes Mal um. Wehmut ergriff ihn. Der Entschluss, sich aus dem Milieu und all den Geschäften hier zurückzuziehen, war nicht von heute auf morgen gereift. Es war ein schleichender Prozess gewesen, der vor einigen Monaten in Gang gekommen war. Lange hatte er das Für und Wider abgewogen. Dabei war ihm schnell klar geworden, dass seine Entscheidung rein aus dem Bauch heraus kam. Es gab keinen greifbaren Anlass dafür. Lediglich ein immer stärker werdendes Gefühl, das ihm signalisierte, diese Phase seines Lebens sei vorbei. Es war Zeit für etwas anderes.
Mit einem leichten Seufzen nahm er den Pappkarton auf. Als er durch die Tür trat, hielt er inne. Natürlich hatte er sich von jedem einzelnen seiner Mitarbeiter bereits verabschiedet. Doch nun standen sie alle vor seiner Tür Spalier. Keiner sprach, ihre Mienen sagten genug. Stumm, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, ging er zwischen ihnen durch, nickte jedem zu. Zuletzt dem Türsteher, zu dessen martialischen Tattoos, Piercings und Brandings die feuchten Augen so gar nicht passen wollten. Marek verneigte sich leicht und hielt Rohloff die Tür auf, begleitete ihn zum Wagen und half ihm, den Karton auf dem Beifahrersitz des Jaguar zu verstauen. Er würde den Club in der Zwischenzeit so lange führen, bis der neue Besitzer einzog. Rohloff selbst zog es vor, die Tage bis dahin nicht mehr hier zu sein. Es fühlte sich besser an, jetzt zu gehen. Das Tagesgeschäft hatte ihn sowieso nicht gebraucht, das handelten seine Leute.
»Alles Gute Chef. Und wenn Sie mal was brauchen, wir sind immer für Sie da.«
Rohloff nickte gerührt, als der Zwei-Meter-Hüne ihn plötzlich in den Arm nahm.
»Ihr wisst, dass das umgekehrt ebenfalls gilt.« Damit stieg er in den Wagen und fädelte sich, ohne noch einmal zurückzublicken, in den inzwischen dicht gewordenen Verkehr ein.
Eine halbe Stunde später betrat er das Haus in Bad Homburg, das er schon mit seiner verstorbenen Frau bewohnt hatte. Zu groß für ihn alleine, dennoch ein Teil seines Lebens, von dem er sich noch nicht trennen wollte.
Er stellte den Pappkarton in seinem Arbeitszimmer auf den massiven Schreibtisch aus dunklem Holz und packte ihn aus. Zwei handgeschliffene Whiskytumbler, ein paar Fotos, ein Montblanc-Füller, ein Brieföffner. Jetzt war alles erledigt. Der Moment, auf den er so lange gewartet hatte. Nur eines blieb noch zu tun. Das Schwierigste überhaupt. Er dachte an die Frau, für die er gerade sein Leben änderte. Ohne dass sie das Geringste davon ahnte.
Gedankenverloren faltete er den Karton zusammen und brachte ihn zum Altpapier. Als er die Tonne öffnete, lag obenauf das Krawallblatt, das seine Haushälterin immer las. Die Schlagzeile schrie ihm nur halb entgegen, er hätte sie, wie üblich ignoriert. Doch in diesem Fall ging das nicht. Was ihn elektrisierte, war das Foto. Darauf eine schlanke Frau mit kurzem, fast schwarzem Haar, die gerade durch eine gläserne Tür trat. Es war verschwommen und vermutlich aus weiter Entfernung aufgenommen. Dennoch erkannte er sie sofort. Der Karton fiel zu Boden. Rohloff griff nach der Zeitung, schlug sie auf und starrte Sekunden später verständnislos auf die Schlagzeile der Titelseite.
Lesbische Sozialarbeiterin: Trägt sie die Schuld am Tod des kleinen Toby (4)?
»Lena«, flüsterte er entsetzt.
Die Zeitung flatterte zurück, er war mit wenigen Schritten im Haus, am Telefon, tippte einen dort gespeicherten Kontakt an. Nur, um zu erfahren, der gewünschte Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar. Keine Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.