Читать книгу Leise Wut - Cornelia Härtl - Страница 15

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Die Kripo stand am nächsten Morgen vor ihrer Tür. Ein Mann und eine Frau, beide ungefähr in Lenas Alter. Sie wollten nicht die Sozialarbeiterin befragen, sondern die Person, die Angelika Kiewitz vor ihrem Tod angerufen hatte. Man hatte das Handy gefunden und inzwischen auswerten lassen.

»Es lag im Badezimmer, in einem Korb von Schmutzwäsche verborgen. Der letzte Anruf, den die Frau getätigt hatte, galt Ihnen. Worum ging es?«

Die Kripobeamtin hatte blasse Haut und fahlblondes Haar, das sie zum Pferdeschwanz gebunden trug. Ihre Stimme war kräftig, der Ton sachlich.

Lena schilderte, was vorgefallen war. Dass sie zunächst keinen Schimmer gehabt hatte, wer da am anderen Ende gewesen war. Dass sie, als es ihr klar wurde, hingefahren war, aber nach der Aussage der Nachbarn keinen Grund gesehen hatte, weitere Schritte einzuleiten.

»Im Nachhinein frage ich mich natürlich, ob das ein Fehler war. Leider habe ich nicht verstanden, was genau Frau Kiewitz wollte.« Noch einmal wiederholte sie das Gespräch und die wenigen Worte, die sie mitgehört hatte, als die Anruferin mit jemandem vor der Tür sprach.

Die Beamtin blickte sie aufmerksam an, ihr Kollege schrieb mit.

»Sie haben die Familie betreut?«

Ihr war, als wechselten die beiden einen kurzen Blick, als sie das richtigstellte. »Nicht mehr. Ich wurde vor rund neun Monaten vom Jugendamt in einen neu geschaffenen Querschnittsbereich versetzt.«

»Warum, glauben Sie, hat Frau Kiewitz Sie dennoch angerufen?«

Lena zuckte die Schultern. »Vielleicht, weil sie meine Nummer noch eingespeichert hatte. Weil mein Diensthandy erreichbar war und das der inzwischen zuständigen Kollegin womöglich nicht«, mutmaßte sie. »Sie müssten ja sehen können, ob noch andere Nummern der Kreisverwaltung in ihren Kontakten stehen.« Wieder wechselten die beiden Beamten einen Blick, ließen Lenas indirekte Frage jedoch unkommentiert. »Die Mutter wurde im Wohnzimmer auf der Couch gefunden. Offenbar hat sie sich mit Schlaftabletten und Alkohol das Leben genommen. Der Junge lag in seinem Bett, ordentlich gekämmt und zugedeckt.«

So, als wolle die Mutter im Nachhinein gutmachen, was sie ihrem Kind angetan hatte.

»Tobys Körper trug Anzeichen andauernder Misshandlungen. Gestorben ist er an einer schweren Kopfverletzung. Hat Frau Kiewitz ihren Sohn früher schon geschlagen?«

»Nein. Definitiv nicht. Das passt nicht zu ihr«, entgegnete Lena bestimmt. »Sie war labil, ja. Gefährdet, was Alkohol betraf. Sie hat Toby vernachlässigt, sich zu wenig um ihn gekümmert. Vielleicht ist ihr hin und wieder die Hand ausgerutscht. Aber sie hat ihr Kind nicht körperlich misshandelt.«

»Könnte es sein, dass sie das Kind als Hemmnis betrachtet hat, dass er ihr im Weg stand? Schließlich soll sie eine neue Beziehung gehabt haben.«

Lena dachte kurz nach, bevor sie antwortete. »Man weiß nie, was in einem anderen Menschen vorgeht. Aber so, wie ich sie kannte, würde ich das ausschließen.«

»Wie war sie in Beziehungen?«

»Sehr anlehnungsbedürftig. Sie war jemand, die sich schnell unterordnete, es ging da um Verlustängste. Ihre Kindheit war schwierig. Es fehlte ihr an Anerkennung und als Erwachsene an einem gesunden Selbstwertgefühl. Doch sie hat Toby geliebt, auch wenn sie als Mutter unzulänglich war.«

Lena schoss der Gedanke durch den Kopf, dass der neue Freund nach dem Streit alleine in Urlaub gefahren sein könnte. Hatte das Tobys Mutter derartig in Rage versetzt, dass sie ihr Kind verprügelt hatte? Oder hatte doch der Mann etwas mit Tobys Tod zu tun?

»Wir suchen mit Hochdruck nach dem Mann. Im Moment ist er jedoch lediglich ein wichtiger Zeuge«, versicherten ihr die Polizisten.

»Der Vater des Kindes ist unbekannt?«

»Laut Aktenlage. Ja. Ich hatte immer das Gefühl, dass Frau Kiewitz weiß, von wem Toby war. Aber sie hat es mir nie gesagt.«

Oder war es ein Eifersuchtsdrama? War Tobys Vater zurückgekommen und hatte die Befürchtung, sein Sohn würde demnächst zu einem anderen Mann Papa sagen?

Am Ende überreichten die Polizisten ihr eine Visitenkarte.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, uns zu verständigen. Wir werden Sie womöglich auch noch einmal befragen müssen.« Als die beiden gegangen waren, fühlte Lena sich unendlich müde. Im Badezimmer schaufelte sie sich kühles Wasser ins Gesicht. Der Blick in den Spiegel sorgte nicht gerade ür Freude. Sie sah fertig aus. Dunkle Schatten ließen ihre Augen aussehen wie grüne Tümpel inmitten von Schlamm. Das dunkle, kurz geschnittene Haar wirkte nicht gewohnt fluffig, sondern klebte regelrecht am Kopf. Ein unangenehmes Kribbeln durchlief ihren Körper, als sie im Geist wieder die Stimme der Anruferin hörte. »Holen Sie Toby. Gleich jetzt. Bitte.« Angelika Kiewitz hatte gewusst, dass ihr Kind in Gefahr war. Nur, warum hatte sie bei Lena nicht insistiert, sondern gleich darauf alles zurückgenommen? Wenn es stimmte, was die Polizei annahm, hatte sie ihr Kind in einem Wutanfall getötet und danach sich selbst das Leben genommen.

Lena kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nahm an ihrem kleinen Schreibtisch Platz, zog einen Block aus der Schublade und schrieb systematisch auf, woran sie sich noch erinnern konnte.

»Nicht Toby. Kannst ihn … Azul … überlegt … nicht mehr.«

Azul. Das spanische Wort für Blau.

Mallorca, hatte Herr Buckpesch gesagt.

So ähnlich, seine Frau.

Lena musste keinen Atlas konsultieren. Mallorcas Nachbarinsel hieß Menorca. War sie gemeint? Oder hatten die beiden älteren Herrschaften etwas völlig missverstanden? Waren Madeira, Malta oder ganz was anderes das Ziel? Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Ob die Kripo den Mann bereits anhand seines auffälligen Wagens identifiziert hatte?

Der Freund, er hatte auch ein Kind. Ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter, geisterte Frau Buckpeschs Stimme durch ihren Kopf.

Sie konnte nicht stillsitzen, sprang auf und tigerte durch die Wohnung.

Ich muss etwas tun. Bloß was?

Die Suspendierung nagte an ihr, das Gefühl, ihr seien die Hände gebunden, setzte ihr zu.

Als seine Mutter mich anrief, lebte er noch.

Sie wusste, dass sie keine andere Chance hatte, als die Sache rational und professionell anzugehen. Dennoch schmerzte sie die Vorstellung, sie habe womöglich versagt. Um ihre Unruhe zu bekämpfen, beschloss sie, joggen zu gehen. Ein probates Mittel, um den Kopf frei zu bekommen. Danach würde sie klarer denken können.

Eine Viertelstunde später trabte sie am Mainufer entlang. Die Luft war mild, alles Grün wirkte hell und frisch, die Enten am Wasser schnatterten lebhaft. Sie fand schnell ihren Rhythmus und lief schon nach kurzer Zeit gleichmäßig und im richtigen Tempo. Erst als ihr Blick auf die Schlagzeile einer bekannten überregionalen Zeitung fiel, geriet sie aus dem Tritt.

»Schlamperei im Jugendamt! Warum musste der kleine Toby (4) sterben?« Daneben ein verwaschenes Foto des Jungen.

Lena blieb keuchend stehen. Der Mann, der auf einer Bank am Ufer sitzend die Zeitung las, blätterte um und die Schlagzeile verschwand aus ihrem Blickfeld. Lena drehte um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schlamperei, was sollte das denn heißen? Jugendämter gerieten jedes Mal, wenn ein Kind auf gewaltsame Weise innerhalb der Familie zu Tode kam, in den Fokus der Medien. Reflexartig wurde die Schuld dort gesucht. Sie hatte schon öfter solche Berichterstattungen aus anderen Kommunen verfolgt. Dieses Mal war die Angelegenheit ganz nah an ihr dran. Und das auf mehr als eine Weise. Bevor sie nach Hause zurückfuhr, kaufte sie am Aliceplatz sämtliche regionalen Zeitungen. Überall war der tote Junge erwähnt. Jedoch nicht so reißerisch wie in Brandheiß, dem Blatt, das für seine krassen Schlagzeilen bekannt war.

Trotzdem reichte die Berichterstattung aus, in Lena Übelkeit aufsteigen zu lassen. Woher hatten die Journalisten so viele Informationen? Dass Angelika Kiewitz Selbstmord verübt hatte, wurde genauso erwähnt wie die Tatsache, dass Tobys Vater unbekannt war. Angeekelt legte Lena die Zeitungen zur Seite. Das Ausschlachten menschlicher Tragödien war nicht ihr Fall.

Leise Wut

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