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DISPUT MIT HIMMLERS REICHSKOMMISSARIAT ZUR FESTIGUNG DES DEUTSCHEN VOLKSTUMS

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Vermutlich war es auch nicht zuletzt Josef Bürckels Fürsprache zu verdanken, dass Ludwig Erhard – unterstützt von zwei Kollegen aus dem Nürnberger Institut, Dr. Gerhard Holthaus und Dr. Albert Kerschbaum, die auch schon an der »Ostmark-Blitz-Studie« mitgewirkt hatten – im Sommer 1940 von der NS-Haupttreuhandstelle Ost (HTO) als Wirtschaftsgutachter bestellt wird. Hermann Göring hatte im November 1939 diese Treuhandstelle zur Beschlagnahmung und Veräußerung von jüdischem wie polnischem Eigentum, von Sachwerten wie Finanzmitteln in den besetzten Ostgebieten eingerichtet. Max Winkler, der umtriebige Reichstreuhänder und Leiter der HTO, erteilte Erhard und damit dem Institut im Herbst 1940 den Auftrag, die Wirtschaftsabläufe in zwei polnischen Gebieten zu analysieren. Die beiden Gebiete hatten bis zum Versailler Vertrag noch zum Deutschen Reich gehört, waren anschließend – mit Ausnahme der Stadt Danzig – dem neu entstandenen polnischen Staat zugewiesen worden und sind mittlerweile, zusammen so groß wie Bayern und Schleswig-Holstein, wieder formal dem Reich angeschlossen, im neuen Gau Danzig-Westpreußen und dem sogenannten »Warthegau« um Posen.

Abermals geht es dabei, wie schon zuvor bei Bürckel, um eine Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Möglichkeiten und Produktionsstätten, um eine rasche Ankurbelung der industriellen, aber auch landwirtschaftlichen Produktivität zur Verbesserung der Versorgungslage, um Rohstoffbeschaffung und Kapitaleinsatz, Liquidität, Sortimente, Kosten und Preise bis hin zur technischen Ausstattung der Betriebe. Im Rückblick mutet es fast bizarr an, dass der Mann, der nach dem Krieg in seiner Heimatstadt Fürth, anschließend in Bayern, in der Bizone, in Trizonesien und dann noch in der jungen Bundesrepublik fortwährend mit der fundamentalen Frage konfrontiert werden sollte, wie man die ökonomischen Verhältnisse der Menschen rasch und nachhaltig verbessern könne, damit tatsächlich schon 1938/39 beschäftigt gewesen ist, wenn auch zunächst bis 1945 unter den Bedingungen einer brutalen Diktatur und einer immer dominanteren Staats- und Kriegswirtschaft.

Ludwig Erhard hat die besetzten polnischen Gebiete verschiedentlich bereist und mehrere dortige Betriebe besichtigt. Er hat auch im Frühjahr 1941 mit Blick auf problematische hygienische Verhältnisse seiner Unterbringung bei der Stiftungsaufsicht eine Ausweitung seiner Krankenversicherungszeit auf ein Jahr beantragt. Am 15. Mai schreibt er diesbezüglich: »Meine Tätigkeit führt mich heute vielfach in neue, besetzte Gebiete, in denen die Wohnungsund Unterkunftsverhältnisse derart gelagert sind, dass ein Schutz vor Infektionskrankheiten nicht gewährleistet erscheint. So musste ich z.B. in Polen in polnischen Quartieren schlafen oder im Wartesaal zwischen der polnischen Zivilbevölkerung …« Konzediert werden ihm allerdings nicht 52, sondern nur 26 Wochen.1

Zwei Monate später, im Juni 1941, legte Erhard – er ist der federführend Verantwortliche – den 164 Seiten umfassenden »Vor- oder Zwischenbericht über die Markt- und Betriebsstruktur des neuen deutschen Ostraums sowie die sich daraus für den Aufbau ergebenden Schlussfolgerungen vom Institut für Wirtschaftsbeobachtung der Deutschen Fertigware, Stadt der Reichsparteitage Nürnberg« vor. Der Bericht selbst ist nicht erhalten geblieben. Aber es gibt im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg eine 15 eng beschriebene Seiten umfassende Zusammenfassung, die einen groben Eindruck vom Duktus der breit angelegten Argumentation vermittelt und die Christian Gerlach bereits 1997 publiziert hat.2 Bemerkenswert ist der sachliche Ton der Zitate, der sich von der nationalsozialistischen Blut- und Boden-Propaganda deutlich abhebt und insbesondere ein Polen-Bild transportiert, das überhaupt nicht der NS-Ideologie entsprach, auch wenn einige Konzessionen an NS-Rassenklischees im Text auftauchen. Zudem wussten die Nürnberger Wirtschaftsexperten, was das NS-Regime in den besetzten polnischen Gebieten bereits angerichtet hatte, auch wenn hier wie in allen überlieferten Auszügen aus den Ostgutachten das Wort »Juden« nicht auftaucht, und plädierten vorsichtig und unter Verweis auf wirtschaftliche Notwendigkeiten für eine zukünftig moderatere Polenpolitik. Aus einer längeren, dem Thema »Bevölkerung« gewidmeten Passage zu Beginn lässt sich all dies beispielhaft herauslesen. Dort heißt es:

»Das Miteinanderleben und Miteinanderarbeiten von Deutschen und Polen in den Betrieben wird als die wichtigste aller zu lösenden Aufgaben empfunden … Der polnische Arbeiter hat sich ja als willig und fleißig erwiesen, wenn auch seine Leistung nicht an reichsdeutschen Maßstäben zu messen ist. Dies ist Ausfluß mangelnder Erziehung und rassisch bedingter Eigenschaften … Nach der Evakuierung der sog. polnischen Intelligenz und der Ausschaltung der polnischen Betriebsführer aus dem wirtschaftlichen Leben können keine Bedenken mehr dagegen bestehen, die große Masse der in wirtschaftlicher Abhängigkeit tätigen polnischen Menschen einkommensmäßig so zu stellen, daß sie nicht nur als Erzeuger, sondern auch als Konsumenten in Frage kommen. Auf die Heranbildung polnischer Facharbeiter, die für eine führende Stellung im Betrieb geeignet wären, kann wahrscheinlich nicht verzichtet werden. Der Mangel an deutschen Arbeitskräften zwingt dazu, deshalb glaubt das Nürnberger Institut den Vertretern einer auf lange Sicht versöhnlich ausgerichteten Politik der Menschenführung recht geben zu können. Es kommt darauf an, ohne Preisgabe der Persönlichkeit und der Würde seines Volkes Vorbild zu sein und zugleich möglichst spannungsfrei mit der polnischen Bevölkerung zusammenzuarbeiten.«3

Bei der HTO ist man so zufrieden über die Studie, dass man einen ungewöhnlich großen Verteiler für die Versendung der Kurzfassung wählte. Zu ihm gehörten 18 Reichsminister – mit Ausnahme von Dr. Hans Heinrich Lammers, dem Chef der Reichskanzlei –, Himmler, fünf Staatssekretäre, die Vierjahresplanbehörde, das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt, der Generalgouverneur in Polen, der Reichsrechnungshof sowie zahlreiche Dienststellen in den »eingegliederten Ostgebieten«.4

Zeitgleich erhalten die Nürnberger eine positive Rückmeldung. Ludwig Erhard und seinem Team wird von der HTO mitgeteilt, sie hätten in ihrer Untersuchung »die ostdeutschen Wirtschaftsprobleme, die volks- wie betriebswirtschaftlichen Fragen richtig erkannt und aus diesen Erkenntnissen Ihre Folgerungen und Forderungen für den Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft klar vorausschauend abgeleitet«. Weiter heißt es: »So gelangen Sie zu einer Fülle von Anregungen für den Kräfteeinsatz, für die Produktion und die Absatzwirtschaft ebenso wie für den Krediteinsatz, Abschreibungen und Investitionen usw. und damit zu Vorschlägen, die in hohem Maße geeignet sind, den Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft zu steuern. Für Ihre erfolgreiche Arbeit spreche ich Ihnen meine ganz besondere Anerkennung und meinen Dank aus.«

Erhard ist so stolz über dieses Lob, dass er es in einem Brief vom 29. September 1941 an August Heinrichsbauer, den Hauptgeschäftsführer der mit dem Nürnberger Institut vertraglich verbundenen Südosteuropa-Gesellschaft in Wien, ausführlich zitiert, nachdem er ihm schon zwei Wochen zuvor »vertraulich und zu treuen Händen« eine Kopie des Berichts hatte zukommen lassen. Er offeriert dabei, geschäftstüchtig wie er ist, eine ähnliche Untersuchung auch für die »Südostländer« Europas anzufertigen, die wie Rumänien, die Slowakei oder die Türkei dem Reich nicht feindlich gegenüberstehen und für die vom Weltmarkt abgeschnittenen Deutschen noch als Handelspartner infrage kommen.5

Entsprechend zuversichtlich äußert er sich auch gegenüber Vershofen, dem er am 20. Oktober 1941 schreibt: »Von meiner vierzehntägigen Ostreise bin ich mit einer Fülle neuer Eindrücke zurückgekehrt. Das Erfreuliche an dieser Reise war vor allem die Überzeugung, die Ihnen Herr Dr. Holthaus bestätigen wird, daß unsere Arbeit bei allen Stellen im Osten die höchste Beachtung gefunden hat und daß wir von nun an sicherlich zu allen Aufgaben herangezogen werden, die in jenem Raum anfallen.«6

Bei der HTO ist man von der Studie zunächst wirklich angetan, weil sie eine »gesunde Mischung zwischen staatlicher Wirtschaftslenkung und unternehmerisch wirtschaftlicher Initiative« darzustellen scheint.7 Das belegen auch die Ausführungen des HTO-Leiters Winkler in seinem Begleitschreiben vom 10. Oktober 1941, mit dem er den »Vorbericht« an den Leiter der Stabshauptstelle des Reichskommissars für die Festigung des Deutschen Volkstums, SS-Obergruppenführer Ulrich Greifelt, übermittelt. Das Gutachten enthalte »wichtige und beachtenswerte Beiträge zu den Planungen über den neuen deutschen Ostraum«, schreibt Winkler voller Zustimmung – allerdings nicht ohne sich abzusichern, man lebt schließlich in einer Diktatur. Er gibt seine positive Stellungnahme ausdrücklich ab mit der klaren Einschränkung: »ohne mir die Feststellungen und Vorschläge im einzelnen zu eigen zu machen …«8

Tatsächlich war dieses Votum aus der HTO bzw. von Görings Vierjahresplanbehörde ebenso unwichtig wie die Ablehnung des mit »Streng vertraulich – nur für den Dienstgebrauch« klassifizierten Gutachtens in Ribbentrops Außenressort. Entscheidend für die Bewertung und weitere Bearbeitung ist Himmlers Behörde, sein Stabshauptamt, das am Kurfürstendamm 143/45 in Berlin sein zentrales Büro hat. Himmler selbst ist neben seiner Funktion als Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei von Hitler durch den Führererlass vom 7. Oktober 1939 zugleich zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF) bestellt worden – eine Schlüsselposition für die Umsetzung der NS-Rassen- und Siedlungspolitik, die vor allem in den besetzten osteuropäischen Gebieten gewaltsam und massenmörderisch verwirklicht werden sollte. Auch die verwaltungstechnisch in den Reichskörper integrierten eroberten polnischen Gebiete, nicht nur das weiterhin separierte Generalgouvernement, wo sich bald die Vernichtungslager konzentrieren werden, sind SS-Land, Schlüsselterritorien des nationalsozialistischen Maßnahmenstaates. Überall dort werden viele Tausend Menschen unter schrecklichen Bedingungen erfasst, eingesperrt, deportiert, liquidiert. Hier soll die große nationalsozialistische »Umvolkung« ins Werk gesetzt, sollen die Juden zuerst in Ghettos gepfercht, anschließend umgebracht und die polnische Bevölkerung nach Liquidation der Eliten entrechtet, versklavt und teilweise – nach »Öffnung und Eroberung des russischen Raums« – weiter nach Osten abtransportiert werden, um deutsche arische Übermenschen an ihrer Stelle ansiedeln zu können. In seiner Denkschrift vom Mai 1940 hatte Himmler die Kernelemente dieser gnadenlosen, staatliche Kindesentführungen einschließenden Volkstums- und Germanisierungspolitik getreu dem NS-Prinzip »Das Wichtigste ist das Blut« offen skizziert und zugleich den zentralen Führungsanspruch der SS festgeschrieben, wie bereits der folgende kleine Ausschnitt belegt:

»Es muß in einer etwas längeren Zeit möglich sein, in unserem Gebiet die Volksbegriffe der Ukrainer, Goralen und Lemken verschwinden zu lassen. Dasselbe, was für diese Splittervölker gesagt ist, gilt in dem entsprechend größeren Rahmen für die Polen. Eine grundsätzliche Frage bei der Lösung aller dieser Probleme ist die Schulfrage und damit die Frage der Sichtung und Siebung der Jugend. Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schulen geben. Eltern, die ihren Kindern von vorneherein eine bessere Schulbildung sowohl in der Volksschule als auch später an einer höheren Schule vermitteln wollen, müssen dazu einen Antrag bei den Höheren SS- und Polizeiführern stellen. Der Antrag wird in erster Linie danach entschieden, ob das Kind rassisch tadellos und unseren Bedingungen entsprechend ist. Erkennen wir ein solches Kind als unser Blut an, so wird den Eltern eröffnet, daß das Kind auf eine Schule nach Deutschland kommt und für Dauer in Deutschland bleibt …«9

Auf die Durchsetzung exakt dieser Politik war man in der SS-Stabshauptstelle verpflichtet. Entsprechend irritiert zeigte man sich nach der Lektüre des Nürnberger Gutachtens. Dabei fiel weniger ins Gewicht, dass in ihm explizit jegliche Äußerungen zu »den besonderen Problemen« von Litzmannstadt (Lodz) und Oberschlesien fehlten, die einem »Hauptbericht« vorbehalten bleiben sollten, wie Winkler in seinem oben erwähnten Schreiben bereits mitteilte. Dass Erhard auf diese Passagen verzichtet hätte, nachdem er im Januar 1941 bei seinem Besuch dort Kenntnis von den schrecklichen Verhältnissen im großen Ghetto bekommen hatte, muss Spekulation bleiben, den fehlenden Teil des Gutachtens zu diesem besonders von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik kontaminierten Gebiet hat er jedenfalls nie nachgereicht. Befremdlich war für die Mitarbeiter in Himmlers Stabsstelle vielmehr, dass in den Vorschlägen Erhards gänzlich die völkischen Wörter wie »Parasit«, »Volksschädling«, »Untermensch« oder das Verb »ausmerzen« fehlten. Was für sämtliche von Erhard überlieferte Texte aus der NS-Zeit gilt, trifft also auch auf dieses Gutachten zu, das uns zwar nicht im Original vorliegt, aber dessen Diktion in einer Vielzahl ausführlicher Zitate in den diversen SS-Gutachten und Stellungnahmen aufscheint.

Der erste aufseiten von Himmlers Stäben, der entsprechend irritiert reagiert, ist SA-Standartenführer (i.e. Oberst) Heise, der als Beauftragter des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums beim Reichsstatthalter des Reichsgaues Warthegau – das ja mit im Zentrum des Gutachtens steht – nach der Lektüre Anfang November 1941 SS-Hauptsturmführer Schmidt, »einen der besten Kenner der Volkstumsfragen des Ostens« (so Heise), mit einer umfassenden Analyse des Gutachtens betrauen wird.

Im Warthegau und im neuen Gau Danzig-Westpreußen ist zu diesem Zeitpunkt längst mit der Umsetzung des in Himmlers Stäben unter Federführung des Berliner Agrarwissenschaftlers Professor Konrad Meyer entwickelten »Generalplans Ost« begonnen worden. In diesen Territorien, wo 1939/40 etwa 9,5 Millionen Menschen lebten, der größte Teile davon mittlerweile Polen, ferner etwa 1,3 Millionen Deutsche und 560 000 polnische Juden, die rasch in Ghettos gepfercht, anschließend ins Generalgouvernement deportiert und ab Ende 1941 ermordet werden sollten, ist die sukzessive Vertreibung von mindestens 3,5 bis 4,5 Millionen Polen und die Neuansiedlung reichsdeutscher Siedler in gleicher Zahl vorgesehen. Von den deutschen Neuankömmlingen sollten mindestens 35 Prozent im Bereich der bäuerlichen Siedlung verbleiben, war diese doch für Himmler und die Vordenker des »Blut-und-Boden-Konzepts« zur Sicherung des »Volksbodens« zentral. In jedem Fall sollte der deutsche Bevölkerungsanteil zügig massiv um drei bis vier Millionen auf fünfzig bis siebzig Prozent erhöht werden. Der Besitz der zu vertreibenden Polen wurde dabei unter ähnlichen Bedingungen wie zuvor der jüdische »arisiert«, das heißt, er musste weit unter Wert an die neuen deutschen Besitzer veräußert werden, wobei anschließend der Staat den größten Teil des Verkaufserlöses abkassierte. Den »volksdeutschen« Käufern wurden zudem die Schulden erlassen und günstige staatliche Kredite eingeräumt, um die Verdrängung der polnischen Eigentümer noch attraktiver erscheinen zu lassen.


Der Beauftragte Himmlers im Warthegau, SA-Standartenführer Heise, ist der Erste in den SS-Stäben, der im November 1941 massive Kritik an Erhards Ostgutachten äußert und ein Gutachten darüber in Auftrag gibt, das seine Ablehnung bestätigt.

In Erhards Gutachten kam von alledem nichts vor, wie SS-Hauptsturmführer Schmidt in seiner zwölfseitigen und insgesamt vernichtenden Bewertung feststellt: »Im gesamten Text wird wiederholt die Frage der wirtschaftlichen und politischen Behandlung des polnischen Arbeiters und des Polen allgemein als Konsument angeschnitten. Dabei wird stark betont, daß den Polen das Recht auf Arbeit, das ihnen z.Zt. noch nicht gewährt wird, zuerkannt werden müsse, daß im polnischen Volk Bedürfnisse geweckt werden müssen und der Lebensstandard der polnischen Bevölkerung nicht so niedrig gehalten werden darf, daß über die Deckung des Grundbedarfs eine Erhöhung des Lebensstandards unerreichbar erscheine.«

Die Verachtung für einen solchen Ansatz, wie ihn Erhard und seine Mitautoren vertreten, spricht aus jeder Zeile. Die Polen waren doch allenfalls Untermenschen, Heloten, Arbeitssklaven – und keine Menschen mit berechtigten Bedürfnissen, schon gar nicht verdienten sie eine Erhöhung des Lebensstandards! Entsprechend geht es bei Schmidt weiter: »Es wird ferner gesagt, daß den Vertretern einer auf lange Sicht versöhnlich ausgerichteten Politik der Menschenführung recht gegeben werden kann, daß die von mancher Seite gewollte Dummhaltung der polnischen Massen in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu den Plänen der deutschen Ostwirtschaft steht.«

Versöhnlich ausgerichtete Politik der Menschenführung? Was für ein Unsinn! Kennt man die oben zitierte Passage aus Himmlers Denkschrift – und Schmidt kannte sie sicher –, kann man ermessen, wie brisant Erhards Aussage wirken musste, lässt sich aus ihr doch eine deutliche, wenn auch geschickt mit Wirtschaftsinteressen verbrämte Kritik an Himmlers Politik der gezielten Verdummung der »polnischen Untermenschen« herauslesen.

Die Nürnberger Gutachter, so fährt Schmidt fort, würden die Auffassung vertreten, »daß auch dem polnischen Arbeiter im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Leben des Ostens wieder eine feste Verankerung und das Gefühl der Ansässigkeit, nicht allein des Geduldetseins, gegeben werden müsse«. Ihnen fehle mithin ganz offenbar die Kenntnis über die »Volkstumsprobleme des Ostens« nicht nur im Warthegau, wo »durch konsequente Abschiebung der noch vorhandenen Polen nach dem weiteren Osten und dem gleichzeitigen Ansatz entsprechend ausgewählter deutscher Menschen eine Eindeutschung erreicht« werde. Ebenso befremdlich wirke das Bestreben der Nürnberger Wirtschaftsexperten, den »Polen die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg und zu neuerlichen Eindringen in höhere Berufskreise offenhalten« zu wollen und zu verlangen, »diese polnischen Schichten seelisch und materiell mit dem Schicksal ihrer Heimat zu verknüpfen und den Lebensstandard der polnischen Massen zu heben«, zugleich vor dem »starken Nationalgefühl der Polen« zu warnen, weil diese »die Sehnsucht nach politischer Befreiung weiter im Herzen tragen werden …« Dass man die polnischen Arbeiter, wie von den Nürnberger Gutachtern abschließend gefordert, »an den Fortschritten und der wachsenden Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit teilhaben lassen« müsse, hält Schmidt für völlig absurd: »Es ist deshalb keinesfalls die Notwendigkeit einzusehen, dem polnischen Element irgendwelche Konzessionen zu machen … Schließlich muß nochmals betont werden, daß im Gegensatz zu der im Vorbericht vertretenen Auffassung mindestens im Warthegau nicht die Absicht besteht, große Teile der polnischen Bevölkerung auf Dauer im Gau zu belassen und daß also auch alle Erwägungen über die Gewinnung der Polen zur weltanschaulichen Mitarbeit und Beteiligung an den Fortschritten der menschlichen Arbeit als völlig abwegig und gegenstandslos abzulehnen sind.«10

Diese Analyse setzt den Ton. Kein Zweifel, aufseiten der SS ist man über das Nürnberger Papier entsetzt, hält die Vorschläge von Erhards kleinem Team über weite Strecken für realitätsferne Gefühlsduselei. Bereits in seinem Brief vom 26. November 1941, mit dem er die ausführliche Stellungnahme von Schmidt an Rechtsanwalt Schäfer im SS-Stabshauptamt am Kurfürstendamm in Berlin-Halensee weiterleitet, stellt Standartenführer Heise dementsprechend fest:

»Um zu einer wirklich richtigen Wirtschaftserkenntnis zu gelangen, müssen alle auftauchenden Probleme von der volkspolitischen Seite aus betrachtet werden. Der Grundpfeiler unseres wirtschaftlichen Denkens also ist das genaue Wissen von den volkstumsmäßigen und den politischen Ansichten. Die Grundsätze, die sich aus der neuen deutschen Ostpolitik ergeben, haben in dem Bericht des Instituts für Wirtschaftsbeobachtungen in Nürnberg keinerlei Berücksichtigung gefunden. Wenn in dem Bericht auch verschiedene Probleme richtig behandelt wurden, so muß er doch in seiner Gesamtheit abgelehnt werden. Beim Lesen des Berichts gewinnt man die Überzeugung, daß zwar bedeutende Wirtschaftswissenschaftler an dem Zustandekommen des Werkes gearbeitet haben, daß aber die neue deutsche Ostpolitik keineswegs einen nur irgendwie gearteten Niederschlag gefunden hat.«11

Das hieß nichts anderes, als dass Erhard und seine Helfer über die aktuellen ostpolitischen Zielsetzungen der NS-Führung vom Generalplan Ost bis zu den geplanten und teilweise schon ins Werk gesetzten gewaltigen Bevölkerungstransfers überhaupt nicht im Bilde waren und daher insgesamt ein ziemlich unbrauchbares Papier abgeliefert hatten, so interessant ihre wirtschaftlichen Hinweise auch sein mochten.

Mit diesen Stellungnahmen hatte die sich nahezu über ein Jahr hinziehende interne Begutachtung von Erhards Untersuchungsbericht im SS-Stabshauptamt begonnen. Die Akzente werden weiterhin durchweg ähnlich negativ gesetzt. In der ausführlichen, sechs Seiten umfassenden Auswertung der vorwiegend für die Landwirtschaft zuständigen Hauptabteilung IV vom 1. Mai 1942 heißt es etwa:

»Bei der Durchsicht des Berichts fällt auf, dass der Verf. offenbar von der Ansicht ausgeht, daß die in den eingegliederten Ostgebieten vorhandene polnische Bevölkerung nicht abgeschoben, sondern dort verbleiben wird. Nur so sind z.B. Erörterungen darüber verständlich, daß die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung gehoben werden müsse und daß auch die polnische Arbeiterschaft sich dem Niveau des Altreichs angleichen müsse (S. 139–40) … Es scheint sehr zweifelhaft, daß Menschen, die den niedrigen Lebensstandard der polnischen Bevölkerung seit Generationen ertragen haben, ihren Lebensstandard bei Besserung der Einkommensverhältnisse ändern werden, wie der Berichterstatter erwartet, nämlich, daß sie als Abnehmer für die Fertigprodukte der aufzubauenden Industrie in Erscheinung treten werden (Seite 63 unten) … Bei der Abfassung des Berichts war allerdings der bisher russische Raum noch verschlossen. Durch die Öffnung des Raumes ergeben sich grundlegend neue Gesichtspunkte … Der Bericht rechnet mit dem Verbleiben der polnischen Bevölkerung. Es müßte erwähnt werden, daß neben diese bereits jetzt schon zahlreiche deutsche Bauern getreten sind … Auch die neue deutsche Stadtbevölkerung tritt mit neuen Bedürfnissen auf, so daß sich das Marktbild bereits wesentlich verschoben hat. Es muß stark betont werden, daß sich diese Verschiebung nur dadurch ergeben hat, daß das deutsche Element in den eingegliederten Ostgebieten neu aufgetreten ist, während die polnische Bevölkerung hierzu nichts beigetragen hat. Hieraus ist gerade der Schluß zu ziehen, daß die Ausschaltung der polnischen Bevölkerung und die Stärkung des deutschen Bevölkerungsanteils nicht dringlich genug gefördert werden kann.«

Der Konflikt wird hier einmal mehr überdeutlich: Wo Ludwig Erhard Menschen, Arbeiter/Bauern, Konsumenten sieht und ihnen als Verbraucher eine Schlüsselfunktion für das Funktionieren des Marktes zuweist – die Institutszeitschrift, deren Mitherausgeber er ist, heißt nicht von ungefähr ab 1939 Markt und Verbrauch –, denkt man aufseiten der SS bei der angestrebten Germanisierung des Ostens in den fundamental anderen Kategorien des Rassenwahns, der 1933 in Deutschland Staatsdoktrin geworden ist. Man denkt völkisch-hierarchisch und hält die polnische Bevölkerung insgesamt vom Bauern bis zum Stadtbewohner für gänzlich minderwertig. Wirklichen Fortschritt hätten allein die deutschen Umsiedler in den dem Reich angeschlossenen Gebieten bewirkt und würden ihn weiter bewirken.

Diese Haltung vertritt ganz besonders hart und entschieden die Abteilung I Umsiedlung/Volkstum/Menscheneinsatz im Stabshauptamt, wie man einem erhalten gebliebenen Vermerk des dortigen Sachbearbeiters, SS-Hauptsturmführer (i.e Hauptmann) Dr. Günther Stier, vom 17. April 1942 entnehmen kann. Während man in der Abteilung III, der Hauptamtschef Greifelt im April 1942 die Federführung in Sachen Gutachten übertragen hatte, nicht allein ideologische Gesichtspunkte zur Bewertung heranzog, sondern auch an Antworten auf die Frage interessiert war, wie man die Wirtschaft in den besetzten Gebieten überhaupt produktiv in Gang halten, eventuell sogar zu Produktivitätssteigerungen veranlassen könne, dominierte in der Abteilung I allein die nationalsozialistische Sicht der Dinge mit ihrer dortigen »Menschenlenkungspolitik«. Ihr hatte sich die Wirtschaftspolitik zwingend unterzuordnen, so Hauptsturmführer Stier, der ein zutiefst überzeugter Anhänger des »Führers« und der NS-Ideologie gewesen sein muss, wie die folgende Passage bereits verdeutlicht:

»Für einen Nationalsozialisten ist es Sache des Glaubens und Wollens gegenüber einem Führerbefehl, daß die neu gegliederten Ostgebiete so schnell wie möglich und so vollständig wie möglich von den Polen geräumt werden. Dabei ist der Wirtschaftsaufbau in den Ostgebieten nicht nur Folge, sondern auch eine Ursache für die Bevölkerungsbewegung in den Ostgebieten. Wenn z.B. die Wirtschaft in den Ostgebieten schon jetzt darauf eingestellt wird, daß die Polen wichtige Arbeitsplätze in der Hand behalten, so wirkt dies hemmend auf den Zuzug von Reichsdeutschen…Die weitestgehende Räumung wenigstens der näheren Ostgebiete von Polen ist eine volkspolitische Notwendigkeit und entspricht einem Befehl des Führers. Sie wird durchgeführt werden, weil sie durchgeführt werden muß. Die Wirtschaft hat sich darauf einzustellen und nicht – wenn auch vielleicht unbewußt, durch entgegengesetzte Maßnahmen – diesen Prozeß zu erschweren.«12

Eine etwas andere Position und Argumentation findet sich in der Aufzeichnung von Dr. Eggers, dem Sachbearbeiter der Abteilung III/Wirtschaft im Stabshauptamt, vom 15. Mai 1942. Ihm oblag es, die unterschiedlichen Stellungnahmen der einzelnen Abteilungen einzuholen. Nachdem er sich in längeren Ausführungen mit den Kernpassagen des Erhard-Berichts auseinandergesetzt hat, geht er auch explizit – und durchaus kritisch – auf die Position von Dr. Stier ein. Zunächst fasst er aber die für die SS problematischen Aussagen zusammen:

»Es wird in dem Bericht von der Vorstellung ausgegangen, daß trotz aller Wünsche, Pläne, Forderungen, Maßnahmen und Bemühungen der Zuzug der deutschen Volksgenossen nach den Deutschtumsfestigungsgebieten des ehemals polnischen Raumes (eingegliederte Ostgebiete) nicht groß genug sein wird, um das bestehende zahlenmäßige polnische Übergewicht zu beseitigen … Das Institut stellt, von der Vorstellung ausgehend, daß die deutsche Minderheit als solche weiterhin in den eingegliederten Ostgebieten bestehen bleiben werde, außerordentlich weitgehende Forderungen für die Volkstums- und Wirtschaftspolitik auf: ›Die allenthalben gehörte Äußerung, daß der Pole lediglich als eine Art Kuli an dem wirtschaftlichen Aufbau des Ostens mitarbeiten dürfte, stößt in der Wirklichkeit des Alltags auf Grenzen und Widerstände, denn die volle Leistungsentfaltung einer Wirtschaft bedingt auch den vollen Kräfteeinsatz der in ihr tätigen Menschen (vgl. S. 18) … Das soll bedeuten, daß eine Unterdrückung der Polen lediglich um des Prinzips der Unterdrückung willen nicht angängig erscheint, wenn man diese sog. Zwischenschicht im wirtschaftlichen Leben nicht entbehren kann … Die Gerechtigkeit gebietet überhaupt anzuerkennen, daß sich der polnische Arbeiter als willig und fleißig erwiesen hat (vgl. S. 19) … ›Nichts ist jedenfalls mehr geeignet, die Autorität der deutschen Oberschicht zu untergraben als ein unsicheres Schwanken zwischen milder Schwäche und brutaler Härte, aber gerade deshalb wird es als ein großer Mangel empfunden, daß es an einer einheitlichen Ausrichtung der Ostpolitik in allen Sektoren des beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens heute noch ermangelt‹ (vgl. S.20). Es wird vorgeschlagen, die Polen im Rahmen des nationalsozialistischen Wirtschaftsdenkens zur weltanschaulichen Mitarbeit zu gewinnen und sie aus ihrer sozialen Deklassierung zu befreien (vgl. S. 79). Sie sollen aus den Fesseln befreit werden, die ihnen die polnische Führung auferlegte. Sie sollen durch die deutsche Ordnung zu loyaler Mitarbeit herangezogen werden (vgl. S. 88).«13

Das umfangreiche Nürnberger Wirtschaftsgutachten war für die SS-Stellen nicht allein deshalb so problematisch, weil in ihm ein fundamental anderes Polen-Bild gezeichnet wurde, als es in der NS-Ideologie vorgegeben war und in Himmlers Stäben vorherrschte. In ihm versteckt war auch – wie diese Passagen belegen – eine Kritik an der herrschenden Besatzungs- und Eindeutschungspolitik, die tatsächlich zwischen brutaler Härte aufseiten der SS und Konzessionsbereitschaft der Zivilverwaltung bzw. der auf die polnischen Arbeiter angewiesenen Unternehmer und Bauern schwankte. Dr. Eggers, der insgesamt Erhard und seinem Team gegenüber nicht komplett abweisend auftritt, kritisiert aber am Ende seines vierseitigen Vermerks – ein kleines Beispiel für das im NS-Staat übliche Kompetenzgerangel innerhalb der jeweiligen Institutionen – auch die Hauptabteilung I, die es »bis heute abgelehnt hat, sich zur Frage der Menscheneinsatzplanung in den eingegliederten Ostgebieten konkret zu äußern. Herr Dr. Stier weist nur darauf hin, daß es für einen Nationalsozialisten Sache des Glaubens und des Wollens gegenüber dem Führerbefehl sei, daß die neu eingegliederten Ostgebiete so schnell wie möglich und so vollständig wie möglich geräumt werden.« Eggers hält diese Haltung für leichtfertig, oberflächlich und unangemessen. Er stellt fest, dass nach seiner Auffassung jedenfalls »der Erlaß des Führers vom 7.10.1939 sich nur durchführen« lasse, wenn »hinreichende Kenntnis über das Wirtschaftsgefüge der zu besiedelnden Räume«, »Klarheit über die anzuwendende Aufbautaktik«, »Klarheit über die Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten des Wirtschaftsgefüges der Siedlungsräume und der angrenzenden Wirtschaftsräume« sowie die »Kenntnis des übrigen großdeutschen Wirtschaftsgefüges, insbesondere in Bezug auf die Verbesserungsmöglichkeiten der Struktur durch Beseitigung von Entwicklungsbehinderungen« aufseiten der beteiligten deutschen Stellen vorhanden sei.

Eggers, davon dürfen wir also ausgehen, gehörte zu denjenigen im SS-Stabshauptamt, die den Bericht nicht gleich in den Papierkorb werfen, sondern substantiell ausgewertet sehen wollten. Allerdings war auch Eggers klar, dass zunächst einmal den drei Autoren des Nürnberger Instituts gründlich der Kopf gewaschen werden musste, weil sie in ihrem Text so überhaupt kein Sensorium für die NS-Rassen- und Raumpolitik bewiesen hatten, von Verständnis ganz zu schweigen. Für den 3. Juni 1942 wurden daher Dr. Erhard, Dr. Holthaus und Dr. Kerschbaum in die Stabshauptstelle nach Berlin-Halensee zitiert. Ihnen gegenüber saß neben Dr. Eggers und dem Protokollanten Regierungsrat Schäfer von der Hauptabteilung III auch mit dem oben erwähnten Dr. Stier ein Vertreter der Studien-Gegner aus der Hauptabteilung I. Insgesamt eine wissenschaftlich gebildete Runde mit immerhin fünf promovierten Teilnehmern, zwei davon aufseiten der SS; nicht untypisch für die damalige Zeit, in der sich auch eine Vielzahl von Akademikern in Himmlers Dienst stellten und besonders die Bevölkerungspolitik von ihnen mitgestaltet wurde.14

Das von Dr. Eggers angefertigte kurze Protokoll der mehrstündigen Sitzung ist erhalten geblieben und recht aufschlussreich:

»Die Herren des Instituts … erklärten, in ihrem Bericht von der Notwendigkeit ausgegangen zu sein, aus der industriellen Wirtschaft das Höchstmögliche im Interesse des Reiches herauszuholen. Bei dieser Aufgabe habe sich die Notwendigkeit herausgestellt, den Polen als möglichst qualifizierten Arbeiter und anspruchsvollen Verbraucher in Rechnung zu stellen. Ich habe dem entgegengehalten, daß die Aufgabe nur dann für den Reichskommissar befriedigend verwertbar gelöst werden könne, wenn umgekehrt die Notwendigkeiten für den Wirtschaftsaufbau von der Forderung aus betrachtet worden wären, die Polen als fremdstämmig zu betrachten, d.h. als Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Volkskörper der deutschen Wirtschaft ausgemerzt werden müßten. Damit spitzte sich die Erörterung auf die Frage der Menschenbeschaffung zu. Die Herrn des Instituts vertraten die Auffassung, daß die deutsche Wirtschaft nach dem Kriege unter einem noch gar nicht übersehbaren Menschenmangel leiden würde mit der Folge, daß Menschen für den Ostraum nicht verfügbar sein würden. Demgegenüber stellte Dr. Stier das unabänderliche Postulat der Lösung der Volkstumsfrage entgegen. Es sei unabänderliche Forderung, daß die Polen weichen müßten. Die Herrn des Instituts zeigten keine Neigung, sich mit den politischen Fragen auseinanderzusetzen, da nach ihrer Meinung diese von den dazu berufenen Stellen gelöst werden müßten. Sie räumten ein, daß das Ergebnis der Arbeit anders gelautet hätte, wenn die ihnen gestellte Aufgaben so gewesen wären, daß das Institut von diesem Postulat auszugehen Gelegenheit gehabt hätte. Ich machte den Vorschlag, in einer neuen Arbeit zu den Fragen des Aufbaus der Industrie im Osten Stellung zu nehmen. Es könnte nur wertvoll sein, zu erfahren, zu welchem Ergebnis die Untersuchungen führen würden, wenn die dargelegte politische Forderung als unveränderlicher Ausgangspunkt der Betrachtung zugrunde gelegt werde. Dr. Erhard erbot sich zur Anfertigung einer solchen Arbeit und nannte als Preis hierfür unverbindlich die Summe von RM 6.000,–. Die Anfertigungsdauer würde etwa 6 Monate betragen.«15

In dieser Unterredung wurden Erhard und seine Nürnberger Mitautoren vermutlich erstmals unmittelbar und unzweideutig auf den Primat der Rassenpolitik hingewiesen, dem – Himmlers Anweisungen folgend – sich alle Entscheidungen im SS-Stabshauptamt unterzuordnen hatten. Sie mussten nun hören, wie mangelhaft und angreifbar ihr Papier dementsprechend für ihre Gegenüber von der SS ausgefallen war. Der Schreck wird ihnen gehörig in die Glieder gefahren sein. Vonseiten der SS-Herren wurde Tacheles geredet, vom »Ausmerzen« der »fremdstämmigen Polen« aus dem »deutschen Volkskörper« ist jetzt explizit die Rede. Die Gutachter kontern nicht ungeschickt mit dem Hinweis auf den sich immer stärker abzeichnenden Menschen- und damit Arbeitskräftemangel – ein sich im Verlauf des Krieges tatsächlich stark zuspitzendes Kernproblem, das auch bei der SS bald zu einem perversen Umdenken führen wird. Dem Regime sollen ab 1943 möglichst viele Arbeitssklaven zur Verfügung gestellt werden, wodurch die Vernichtung durch Gas in den Vernichtungslagern auf Himmlers Weisung um das Prinzip der Vernichtung durch Arbeit ergänzt wird und Häftlinge in großer Zahl als billige Arbeitssklaven an Industrieunternehmen »verliehen« werden.

In der Sitzung am 4. Juni 1942 war es aber noch nicht so weit. Dr. Stier von der Hauptabteilung I, ideologisch viel stärker auf Hitlers und_Himmlers rassenpolitische Positionen festgelegt als seine beiden Kollegen, besteht darauf, dass »die Polen weichen müssten«, dass also der Bevölkerungsaustausch unbedingt und unabänderlich Vorrang haben müsse vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten, etwa dem Arbeitskräftemangel. Auf diesen Druck reagieren die Gutachter betont ausweichend. Sie erklären erstaunlich freimütig, keinerlei Neigung zu haben, sich mit den politischen Fragen auseinanderzusetzen, diese sollten vielmehr »von den berufenen Stellen« gelöst werden – Experten ziehen sich auf ihre Expertenposition zurück. Zugleich räumen sie ein, dass das Gutachten anders ausgefallen wäre, hätten sie das Postulat des Reichskommissars und seiner Behörde vorher gekannt – eine wichtige Konzession, denn sonst hätte sich jedes weitere Gespräch erübrigt. Dass man mit der SS über zentrale Punkte völkischen Denkens schlecht diskutieren konnte und sich mit ihr besser nicht anlegen sollte, hatte sich gewiss schon bis Nürnberg herumgesprochen. Das galt nicht zuletzt auch für das Stabshauptamt. Als eine Himmler direkt zugeordnete Behörde war es gegenüber allen anderen Hauptämtern und sonstigen Dienststellen der SS ebenso wie gegenüber der gesamten deutschen Polizei nicht nur weisungsbefugt, sondern verfügte über die Befehlsgewalt.16

Nun wurden die drei Ökonomen aber nicht gleich verhaftet, sondern erhielten zum Glück von Dr. Eggers ein Angebot zur Wiedergutmachung. Sie sollten auf Basis der ihnen ja nun in extenso erläuterten politischen Forderungen die Studie überarbeiten bzw. in einer neuen Studie zu »Fragen des Aufbaus der Industrie im Osten« Stellung nehmen. Die Forderung ging auf den internen Wunsch der HTO als Auftraggeberin zurück, wo man ja ursprünglich von den Qualitäten des Gutachtens überzeugt gewesen war und jetzt als Reaktion auf die hereinprasselnde SS-Kritik eine Überarbeitung und Aktualisierung verlangte. Dr. Eggers und dann auch Regierungsrat Schäfer knüpfen mit ihrer Anregung, die Studie zu überarbeiten, daran an. Ludwig Erhard war es, der diesen rettenden Strohhalm sofort ergriff, sich zu einer Überarbeitung bereit erklärte, auch gleich einen Preis, 6000 Reichsmark (das entspricht etwa 25 000 Euro) und eine »Ausfertigungsdauer« nannte, sechs Monate. Eine sehr günstige Offerte – für eine Analyse des Schuhfabrikationsfilialsystems verlangte das Institut im Frühjahr 1941 40 000 Reichsmark als Gesamthonorar – bei einem Gesamtjahresetat von rund 290 000 Reichsmark, wovon 90 000 Reichsmark aus dem städtischen Etat von Nürnberg stammten und 200 000 Reichsmark vom Institut erwirtschaftet werden mussten. Allerdings waren im März schon 215 000 Reichsmark an eigenen Einnahmen gesichert, der städtische Anteil musste folglich nicht in voller Höhe ausgeschöpft werden.17

Die Anregung zur Überarbeitung war tatsächlich ungemein hilfreich, das muss Erhard sogleich klar gewesen sein. Sie nahm die Brisanz aus dem abgelieferten Vorbericht. Sie versprach wertvollen Zeitgewinn. Sie verhinderte massiv negative Konsequenzen durch die SS, indem den Verfassern nun nicht Zweifel an der Regimetreue – die schon aus weit nichtigerem Anlass geweckt werden konnten – unterstellt wurden, sie also keine entsprechenden Ermittlungsverfahren zu befürchten hatten, von denen man nie wissen konnte, wie sie ausgingen. Außerdem war ein solcher Auftrag wie eine Art Schutzschirm, kannte das Regime doch unzählige Sonderbeauftragte und begegnete ihnen mit Respekt und Entgegenkommen.

Zurück in Nürnberg, diktierte Erhard in seinem Büro in der Badstraße 11, einem vom NS-Staat arisierten ehemals jüdischen Besitz, wo das Institut seit Ende Juni 1939 residierte, seiner Sekretärin Ella Muhr – wie das Kürzel E/Mu. unter dem Briefkopf verrät – einen kurzen, nichtsdestotrotz geradezu euphorischen Brief an einen seiner »Retter« in Berlin, an Regierungsrat Schäfer. Darin bedankte er sich überschwänglich für den »freundlichen Empfang und die ebenso interessante wie freimütige Aussprache, die im Ganzen sicher zu einer weiteren Klärung der in meinem Vorbericht angeschnittenen Fragen beitragen könnte«. Und formulierte die entscheidenden zwei Sätze: »Je mehr ich mir den von Ihnen vorgebrachten Gedanken überlege, desto mehr lockt mich die Aufgabe, umso mehr als ich überzeugt bin, daß die Betrachtung von einem anderen festen Pol aus nicht weniger interessante Einblicke vermitteln wird. Falls deshalb die Besprechungen in Ihrem Hause zu einem Entschluß nach dieser Richtung hin reichen werden, so werde ich gern bereit sein, mich der von Ihnen gestellten Aufgabe in voller Hingabe zu unterziehen«. Unter dem obligatorischen »Heil Hitler!« unterzeichnete er mit »Ihr sehr ergebener Ludwig Erhard«.18

Was Erhard hier mit keinem Wort verrät, sind die heftigen Turbulenzen, in die er im Nürnberger Institut gerade in diesen Wochen und Monaten geraten ist. Aus der Geschäftsführung ist er im heftigen Zorn bereits Ende April ausgeschieden, ganz verlassen wird er es Ende September, die Mitarbeit in der GfK legt er zum Jahresende nieder. Auf diese Querelen wird im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen werden. Bezeichnend ist, dass er all das gegenüber den Herren der Stabshauptstelle über Wochen und Monate hinweg mit keinem Wort erwähnt. Gerade jetzt, wo er zu neuen Ufern aufbrechen muss und möchte und im Institut von einigen schlecht über ihn geredet wird, kann er sich eine Konfrontation mit der SS überhaupt nicht leisten, geschweige denn eine Beschädigung seines Images als Wirtschaftsfachmann durch öffentlich wirksame Rügen oder Beschwerden bei der städtischen Institutsaufsicht. Zweifeln an seiner Systemloyalität gilt es gerade jetzt entschlossen und umfassend jede Basis zu entziehen. Er muss daher in der Gutachtenfrage vor allem eines tun: Zeit gewinnen.

Wohl auch deshalb bemühte er sich so engagiert um eine Zusage, eine neuerliche Auftragserteilung bei der SS-Hauptabteilung. Er verspricht das Blaue vom Himmel, offeriert ohne Zögern das Einschwenken auf den geforderten Standpunkt der Regimevertreter, nennt diesen für ihn eigentlich konträren Ausgangspunkt »einen anderen festen Pol«, will sich der neu gestellten Aufgabe »voller Hingabe« unterziehen. Ja, dieser kurze Brief Erhards vom 8. Juni 1942 ist das Dokument einer opportunistischen Unterwerfung. Er will diesen Überarbeitungsauftrag unbedingt. Zu einem überzeugten Nazi wird er damit aber nicht, denn auch hier gilt: Papier ist geduldig und entscheidend ist, was am Ende bei alledem herauskommen wird.

Zunächst einmal kommen gute Nachrichten aus Berlin. Am 22. Juli 1942 lässt Schäfer den Nürnberger Konsumforscher wissen, »daß ich den Gedanken einer Ergänzung zum Vorbericht gestern SS-Gruppenführer Greifelt vorgetragen habe. Er hat diesen Gedanken zustimmend aufgenommen. Wegen des damit in Aussicht genommenen Auftrages … werden Sie zu gegebener Zeit nähren Bescheid erhalten.«

Doch so einfach, wie Schäfer und Erhard gehofft haben mochten, gestaltet sich die Sache nicht. Aufseiten der Stabshauptstelle herrscht nach der Aussprache in Berlin keine einheitliche Position, wie mit den Nürnberger Gutachtern weiter verfahren werden sollte. Kein Geringerer als der Chef von Himmlers Stabshauptamt, SS-Obergruppenführer Greifelt – er gehörte zum engeren Kreis um Himmler, war am 27. November 1941 von Reinhard Heydrich zur Wannseekonferenz eingeladen worden, am 20. Januar 1942 dann allerdings verhindert; nach dem Krieg wird er im Nürnberger Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden und im Landsberger Gefängnis sterben – meldete kurz nach Schäfers Schreiben und anders als von diesem signalisiert starke Zweifel an der Verwertbarkeit der Studie an.

In Greifelts Schreiben vom 28. Juli an den Leiter der HTO, Dr. Max Winkler, in der Potsdamer Straße 28 wird die Ambivalenz sichtbar, wenn es dort u. a. heißt: »Der Vorbericht lässt erkennen, dass das Nürnberger Institut offenbar eine umfassende Arbeit geleistet hat, deren Ergebnis ebenso interessant wie aufschlußreich ist. Ich bemerke schon jetzt, daß auch der noch ausstehende Abschlußbericht mein uneingeschränktes Interesse finden wird. Wegen der praktischen Verwertbarkeit der Arbeit glaube ich jedoch, erhebliche Vorbehalte machen zu müssen. Da der Bericht von den Bedürfnissen der Wirtschaft im eingegliederten Osten, wie das Institut sie sieht, ausgeht, gelangt er zu volkstumspolitischen Forderungen, die im direkten Gegensatz zu den von mir vertretenen Grundsätzen und Anordnungen stehen.« Ein solches Votum von ganz oben, von der SS-Führungsebene, war natürlich intern in den Abteilungen nicht einfach beiseitezuschieben, und deshalb passierte über Wochen und Monate hinweg erst einmal – nichts.

Am 15. September 1942 fragt Erhard – unter privatem Briefkopf mit der Anschrift Forsthausstraße 49 in Fürth – bei Schäfer schriftlich nach, nachdem er ihn zwischenzeitlich – urlaubsbedingt – telefonisch nicht hatte erreichen können, und avisiert für die nächsten Tage einen Besuch in Berlin. Weil er keine Antwort bekommt, fasst er am 25. September 1942 in einem weiteren Privatbrief nach. »Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir mitteilen wollten, welchen Verlauf die Angelegenheit genommen hat. Meine Bereitschaft zur Ausarbeitung des Ost-Gutachtens in der von Ihnen gewünschten Fragestellung habe ich ja bereits zum Ausdruck gebracht«, heißt es jetzt – verständliche Ungeduld spricht aus seinen Zeilen. Endlich, am 15. Oktober 1942 meldet sich Schäfer und teilt immerhin mit, es sei weiterhin »vorgesehen«, Erhard mit der »Abfassung des bereits besprochenen Nachberichts zu beauftragen«. Zugleich macht er deutlich, wo die Schwierigkeiten liegen: »Um Ihnen Ihre Arbeit zu erleichtern, wird es notwendig sein, eine ganz klare Problemstellung zu finden. Die Formulierung ist nur nach Abstimmung mit den hier beteiligten Sachbearbeitern möglich. Daraus erklärt sich die Verzögerung.«

Diese interne Abstimmung erwies sich als kompliziert. Erst im Dezember liegen dem Erhard weiterhin durchaus wohlgesinnten Schäfer von der Hauptabteilung III (Wirtschaft) als federführendem Sachbearbeiter die Stellungnahme der Ämter I (Umsiedlung und Volkstum), IV (Landwirtschaft), V (Finanzverwaltung) und VII (Bauten) vor, wie aus seinem Rundschreiben an alle im Haus Beteiligten vom 28.12.1942 hervorgeht. Alle zugezogenen Ämter hätten, so stellt er darin fest, in ihren »in den wesentlichen Punkten übereinstimmenden Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht, daß die vom Institut geforderte Volkstumspolitik unvereinbar mit den Forderungen des Stabshauptamtes sei«. Er, Schäfer, habe nach der Aussprache mit den »maßgeblichen Herren« Hauptamtschef Greifelt »den Vorschlag gemacht, einen Ergänzungsbericht anfertigen zu lassen, in welchem diese Forderungen des Stabshauptamtes zum Ausgangspunkt für die Betrachtung der Wirtschaft in den Ostgebieten und die Gewinnung von Erkenntnissen für die Gestaltung dieser Wirtschaft gemacht werden«. Damit sei SS-Gruppenführer Greifelt einverstanden gewesen. Zugleich bittet Schäfer nach Abschluss der internen Abstimmungen nunmehr rasch, also »bis zum 31.d.Mts, 10 Uhr spätestens«, um Zustimmung der einzelnen Abteilungen zur Auftragserteilung. Er fügt abschließend hinzu: »Der Auftrag um Ergänzung kann nur dem Geschäftsführer des Instituts, Dr. Erhard persönlich, erteilt werden, da das Institut begreiflicherweise vermieden wissen möchte, daß es selbst die Ergebnisse seines Berichtes bei einer erneuten Betrachtung korrigiert, überdies ist sein ursprünglicher Auftraggeber die HTO. Die Bearbeiter des Ergänzungsberichts würden dieselben des Vorberichts sein.«

Schäfer muss Erhard mittlerweile wirklich geschätzt haben. Er kam ihm weit entgegen, indem er ihn als einzig adäquaten Auftragnehmer präsentierte. Für seine wohlwollende Grundhaltung spricht auch die angedeutete Lockerung der zunächst gemachten Auflagen in der Schlusspassage des Rundschreibens: »Eine über das von mir in dem anliegenden Schreiben gewährte Maß hinausgehende Einengung des Themas könnte den Berichterstatter daran hindern, nach eigentümlichen Methoden zu suchen. Ich halte es jedoch für gut, wenn das vermieden wird.«

Unter dem Datum des 28. Dezember 1942 hatte Schäfer zudem bereits ein Schreiben für SS-Gruppenführer Greifelt an Ludwig Erhard entworfen und seinem Rundschreiben als Anlage beigefügt, mit dem diesem nunmehr definitiv der Auftrag erteilt werden sollte. Schäfer rechnete wohl jetzt mit einer raschen Entscheidung. In seinem Entwurf knüpfte er an die Besprechung mit den Nürnberger Gutachtern in Berlin vom Sommer an und schrieb:

»In der Besprechung vom 3.6. war festgestellt worden, daß das Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware, Nürnberg, in seinem der Haupttreuhandstelle Ost, Berlin, gelieferten Vorbericht über die Markt- und Betriebsstruktur der eingegliederten Ostgebiete von der Überlegung ausgegangen ist, daß als entscheidende Aufgabe zu gelten habe, die Wirtschaft dieser Ostgebiete, insbesondere die Industrie, auf ein Höchstmaß der Leistungsfähigkeit zu bringen. Diesem Ziele hätte sich auch die Volkstumspolitik unterzuordnen, daß der polnische Volkszugehörige zum möglichst qualifizierten Arbeiter und anspruchsvollen Verbraucher entwickelt werde. In demselben Gespräch war von meinen Mitarbeitern dargelegt worden, daß von mir gerade die umgekehrte Forderung erhoben werde, wonach sich nämlich die Entwicklung der Wirtschaft nach den Forderungen zu richten habe, die im Interesse der Festigung des deutschen Volkstums generell gestellt werden müsse.

Daraus folgt, daß die Ergebnisse der umfangreichen Arbeiten des Nürnberger Institutes erst dann praktischen Wert erhalten, wenn die Auswertung der angestellten Ermittlungen unter den soeben erwähnten Gesichtspunkten erfolgt. Es wurde in diesem Zusammenhang die Anfertigung eines Ergänzungsberichtes erwogen …

Bevor ich Sie, Ihrem grundsätzlichen Erbieten entsprechend, mit der Anfertigung des erörterten Ergänzungsberichtes beauftrage, bitte ich um Ihren bindenden Bescheid über das von Ihnen geforderte Honorar und die voraussichtliche Dauer der Anforderung des Ergänzungsberichtes.

Der Chef des Stabshauptamtes / SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei (Greifelt)«.

Die einzige Reaktion auf Schäfers Rundschreiben und Briefentwurf bis zum Silvesterabend 1942, die in den umfangreichen Akten der Stabshauptstelle überliefert ist, stammt von Otto Schwarzenberger, seit Oktober 1940 und bis Kriegsende Amtschef V im Stabshauptamt, seit Juni 1941 im Rang eines SS-Oberführers (zwischen Oberst und Generalmajor), dem höchsten Offiziersrang der SS unterhalb der Generalsränge. Der 1900 Geborene, der nach dem Krieg im Nürnberger Rasse- und Siedlungshauptamtsprozess zu zwei Jahren und acht Monaten wegen Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation verurteilt werden sollte, war für die gesamte Finanzverwaltung des RKF sowie die Finanzverwaltung nachgeordneter Dienststellen wie der Deutschen Umsiedlungs-Treuhand (DUT), der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft (DAG) oder der Einwandererzentralstelle (EWZ) zuständig. Damit hatte er auch über die Honorierung von Ludwig Erhard mitzuentscheiden und diese im Rahmen seiner Budgetplanung dem Reichsfinanzministerium vorzulegen, da er all seine Geldmittel von dort erhielt. Schwarzenberger, der bei der DANAT-Bank eine Lehre zum Bankkaufmann absolviert hatte und nach den Märzwahlen 1933 als typischer »Märzgefallener« im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten war, interessierte sich ähnlich wie Schäfer bei aller gebotenen Fixierung auf die völkische Grundausrichtung der Stabshauptstelle für Wirtschaftskonzepte, wie seine kurzen Zeilen vom 31. Dezember 1942 belegen. »Ich stimme«, so schreibt er Schäfer, »Ihrem Schreiben an den Leiter des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung in vollem Umfange zu. Die von dort vertretene Theorie, betreffs Volkstumspolitik, in der Richtung zu betreiben, daß der polnische Volkszugehörige zu einem anspruchsvollen Verbraucher entwickelt wird, widerspricht nicht nur der Festigung des Deutschen Volkstums im Ostraum, sondern nach meiner Ansicht den gesamten politischen Zielen. Ich halte es für richtig, daß das Institut in der von Ihnen vertretenen Form veranlaßt wird, unbeeinflußt die auftauchenden wirtschaftlichen Probleme zu erörtern.«

Nach der politisch korrekten Aussage im ersten Teil, dem prinzipiellen Bekenntnis zur von Hitler und Himmler vorgegebenen Volkstums-Politik, signalisiert Schwarzenberger im zweiten Teil seines kurzen Briefes ausdrücklich Sachbearbeiter Schäfer Rückendeckung für dessen Position, Erhard bei seiner Studie unvoreingenommen vorgehen zu lassen, also nicht vollständig in ein ideologisches Raster zu pressen. Das Schlüsselwort, aus dem wir das herauslesen können, lautet »unbeeinflußt«.

Tatsächlich war zum Jahreswechsel 1942/43 wegen der sich verschlechternden Kriegslage bereits absehbar, dass die nationalsozialistische »Umvolkungspolitik« nicht würde im ursprünglich geplanten Umfang fortgesetzt werden können. Ob noch mehr als die rund 200 000 bis 300 000 Reichsdeutschen würden neu angesiedelt werden können, schien mittlerweile manchem ebenso zweifelhaft wie eine Fortsetzung der massenhaften Vertreibung der polnischer Bevölkerung. Nach dem Debakel von Stalingrad wurde vielen überdies immer klarer, dass der »russische Raum« wohl doch nicht, wie noch 1941/42 angenommen, für die Verwirklichung deutscher Herrschaftsfantasien zur Verfügung stehen würde. Schwarzenberger kannte wie kaum ein anderer alle Zahlen und Statistiken zum Stand der »Umvolkung« und wusste als einer der Ersten, wie massiv der gesamte Prozess schon ins Stocken geraten war. Untersuchen zu lassen, wie unter diesen veränderten schwierigeren Rahmenbedingungen die Wirtschaft im »Ostraum« weiter angekurbelt werden konnte, ohne dabei durch ideologische Vorgaben allzu sehr eingeschränkt zu werden, machte daher wohl in seinen Augen durchaus Sinn.

Wenig Sinn erblickte darin dagegen in jenen Wochen des Jahreswechsels Amtschef Greifelt, wie ein erhalten gebliebener kurzer Vermerk für Regierungsrat Schäfer vom 15. Januar 1943 belegt, den Rechtsanwalt Götz, der Leiter der Hauptabteilung III, angefertigt hatte. In ihm stand kurz und knapp: »Das Antwortschreiben vom 28.12.42 möchte Gruppenführer Greifelt nicht unterzeichnen. Er hat im Augenblick überhaupt wenig Lust und Neigung, den Auftrag zur Umarbeitung zu erteilen.« Götz, der vermutlich ähnlich wie Schäfer das »Erhard-Projekt« für sinnvoll hielt, gab die Sache aber noch nicht ganz verloren. Er hatte für Schäfer ausdrücklich hinzugefügt: »Ich halte es für zweckmäßig, wenn Sie nach Ihrer Rückkehr nach Rücksprache mit mir die Angelegenheit nochmals zum Vortrag bringen.«

Von alledem weiß Ludwig Erhard in Fürth natürlich nichts. Er schreibt am 11. Januar 1943 in Sachen »Untersuchungsbericht: Die Wirtschaft des neuen deutschen Ostraums« an den Sachbearbeiter Schäfer, übermittelt ihm »zuvörderst meine besten Wünsche für Ihr persönliches Wohlergehen und eine erfolgreiche Arbeit in einem glück- und sieghaften 1943«. Seit der Besprechung in Berlin-Halensee sind sieben Monate verstrichen, und in Ludwig Erhards Leben hat sich eine einschneidende Veränderung ereignet. Er ist nach dem Ausscheiden aus dem Vershofen-Institut gerade damit beschäftigt, mithilfe der Reichsgruppe Industrie und seines weiterhin vorhandenen Netzwerks ein neues, eigenes kleines Wirtschaftsforschungsinstitut, eine Art Spin-off des Vershofen-Instituts, auf die Beine zu stellen. Neben seiner Sekretärin Ella Muhr werden ihm dabei eine Reihe von Mitarbeitern wie die beiden Co-Gutachter Holthaus und Kerschbaum folgen. Eine neue Büroadresse hat er aber noch nicht – und wohl auch noch nicht viele Aufträge. Vor diesem Hintergrund ist der ganze, aus der Privatwohnung in der Fürther Forsthausstraße stammende Brief zu lesen, die mehr als freundlichen Worte zu Beginn, aber auch die Schlusspassage: »Ich habe meine Dispositionen getroffen, daß ich bereit bin, Ihrem Rufe Folge zu leisten, aber ich wäre Ihnen gleichwohl dankbar, wenn Sie mir bald einmal mitteilen wollten, in welchem Stadium sich die Angelegenheit befindet. Ich würde mich freuen, wenn ich die mich auch menschlich und persönlich interessierende Arbeit bald in Angriff nehmen dürfte und empfehle mich Ihnen mit meinem Dank für Ihre Mühewaltung.«

Am 5. Februar antwortet der aus dem Urlaub in die Dienststelle zurückgekehrte Schäfer – endlich. Von den internen Schwierigkeiten verrät er nichts. Aber er regt eine neuerliche gemeinsame »Aussprache über die in Aussicht genommene Arbeit« in Berlin an. Diese könne vergleichsweise kurzfristig nach Voranmeldung durch Erhard terminiert werden. Nun ist es aber Erhard, der lange schweigt. Er muss erst einmal sein Leben, seine Geschäfte neu ordnen. Am 8. April 1943 fragt Schäfer nach, wann denn nun die von ihm angeregte neuerliche Besprechung stattfinden könne? In seiner Antwort vom 17. April – wiederum aus der Forsthausstraße – äußerte Erhard »besondere Genugtuung, daß unser lang besprochener Plan nun offenbar der endgültigen Verwirklichung näherrückt« und offeriert einen Besprechungstermin zwischen dem 2. und 8. Mai in Berlin.

Doch es kommt zu einer weiteren, gänzlich unerwarteten Wendung. Ausgerechnet jetzt wird Regierungsrat Schäfer einberufen und an die Front versetzt. Neuer Sachbearbeiter im SS-Stabshauptamt wird Dr. Hubrich, der Erhard vom Gestellungsbefehl für Schäfer am 29. April 1943 in Kenntnis setzt und für die Zeit vom 5. bis 7. Mai eine Unterredung mit dem Leiter des Amtes III, Rechtsanwalt Götz, in Berlin-Halensee anbietet, nicht ohne hinzuzufügen, »eine Vorbesprechung mit dem Unterzeichneten wäre sicherlich zweckmäßig«.

Zu diesem Zeitpunkt weiß der neue Sachbearbeiter Hubrich bereits, dass Rechtsanwalt Götz – die Abteilung III hält augenscheinlich auch nach dem Marschbefehl für Schäfer weiterhin an dem »Erhard-Projekt« fest – Hauptamtschef Greifelt erneut »die Zweckmäßigkeit eines Ergänzungsberichts vorgetragen und ihm als wahrscheinliches Honorar den Betrag von 5 bis 6.000,– Reichsmark genannt« hat. Nunmehr, so können wir seinem Vermerk ebenfalls vom 29. April entnehmen, waren alle entscheidenden Hürden beseitigt, denn: »Der Hauptamtschef hat seine Zustimmung zu der Beauftragung von Dr. Erhard gegeben.«

Am 5. und 6. Mai traf sich Hubrich in Berlin mit Erhard und Dr. Kerschbaum, der mit ihm und Dr. Holthaus, dem dritten Gutachter der ersten Studie, das Nürnberger Institut verlassen hatte und ebenfalls an der neuen Studie mitarbeiten sollte. Auch über dieses Treffen fertigte Hubrich einen internen Vermerk an. Dort heißt es: »Dr. Erhard nimmt den Auftrag an, im Sinne unseres Schreibens vom 28.12.42 einen Ergänzungsbericht anzufertigen. Er erklärt sich bereit, durch Rücksprache mit den einzelnen in Betracht kommenden Ämtern des Stabshauptamtes die volkstumspolitischen Forderungen und die Planungsziele des Reichskommissars sowie die neuesten wirtschaftlichen Entwicklungen in den Ostgebieten festzustellen. In vergleichender Betrachtung mit dem ersten Untersuchungsbericht will er die wirtschaftlichen Folgen darstellen, die sich aus bestimmten volkstumspolitischen Forderungen ergeben.« Bei dem Honorar von 6000 Reichsmark bleibt es, der Bericht soll bis August 1943 fertiggestellt sein.

Ludwig Erhard bittet Hubrich am 17. Mai postalisch um eine Bestätigung seiner Auftragserteilung und verleiht der Hoffnung Ausdruck, »daß irgendwelche Schwierigkeiten in der Zwischenzeit nicht mehr aufgetaucht sind. Umgekehrt bestätige ich meinerseits, daß ich nach erteiltem Auftrag sofort mit den verschiedenen Abteilungsleitern Ihres Hauses persönlich Fühlung aufnehmen werde, um das Gutachten, seine Voraussetzungen und seine Zielsetzung dem neuesten Stand anzupassen.« Anschließend geht tatsächlich alles rasch und glatt. Das erbetene kurze, vom Chef des Stabshauptamtes abgezeichnete Bestätigungsschreiben verlässt das Amt in Berlin am 19. Mai. Bereits fünf Tage später bedankt sich Erhard mit einem Vierzeiler bei Hubrich für den Auftrag, dankt zugleich ausdrücklich dem Sachbearbeiter »für Ihre freundliche Vermittlung«.

Wer nur diese kleinen Schriftstücke aus dem Mai 1943 liest und nicht die ganze Entwicklungsgeschichte von Erhards Gutachten kennt, könnte meinen, dass er sich hier endgültig für einen Pakt mit der SS entschieden und damit ihrem Diktum unterworfen hatte. Was nun scheinbar definitiv vereinbart worden war, stand in krassem Gegensatz zum Inhalt des ersten eingereichten Vorberichts und bedeutete ein vollständiges Einschwenken auf die volkstumspolitische Linie des Regimes. Tatsächlich durchlebte er, dem in diesen Wochen auch noch die Einberufung zur Wehrmacht drohte, gerade »die kritischsten Monate seines Lebens« – wie selbst der ihm gegenüber ansonsten recht skeptisch eingestellte Karl Heinz Roth in seiner Untersuchung der Kriegsaktivitäten Erhards durchaus treffend festgestellt hat –, weil seine berufliche Zukunft noch weitgehend ungesichert schien und keineswegs garantiert war, dass er nach dem bitteren Abschied von Vershofen ohne Schwierigkeiten in eine neue Beraterrolle hineinfinde würde.19 Deshalb gab er sich überaus konzessionsbereit. Allein, war Ludwig Erhard, als er diese Abmachung aus taktischen Gründen einging, wirklich bereit und entschlossen, sie zu erfüllen und einen vollständig anderen Bericht abzuliefern? Das scheint schon zum damaligen Zeitpunkt, Anfang Mai 1943, fraglich. Es deutet manches darauf hin, dass er jetzt alles abnickte, um es sich nicht mit der SS zu verderben, er aber bereits entschlossen war, auf Zeit zu spielen, hinhaltend zu taktieren – und den Folgebericht niemals fertigzustellen beabsichtigte.

Was spricht für diese Annahme? Zunächst einmal, dass Dr. Hubrich das vom Chef des Stabshauptamtes, SS-Gruppenführer Greifelt, abgezeichnete Bestätigungsschreiben Erhard ausdrücklich nach Saarbrücken ins noble Hotel Messmer schicken sollte (es ging allerdings unter dem Datum des 19. Mai dann doch nach Fürth). In Saarbrücken hatte Josef Bürckel, der alte Mentor Erhards aus den Zeiten des »Anschlusses der Ostmark«, von 1940 bis 1944 sein Hauptquartier als Reichsstatthalter der Westmark und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen. Dorthin hatte er Ludwig Erhard seit 1940 immer wieder zu kürzeren oder längeren Aufenthalten geholt und ihn regelmäßig mit neuen Aufgaben betraut – diesmal sollte er wohl den Wiederaufbau und Absatz der lothringischen Glas- und Porzellanproduktion vorantreiben. Damit war der Auftrag der Stabshauptstelle in Berlin nicht mehr wirklich notwendig – sowohl materiell wie als Rückversicherung. Die aktuelle Rückendeckung durch Bürckel genügte völlig, und dieser Auftraggeber war hochrangig genug, um ihn auch vor etwaiger Drangsalierung durch das SS-Stabshauptamt zu schützen. Die versprochenen Treffen mit den Abteilungsleitern in Berlin fanden jedenfalls nicht statt. Rückmeldungen von Erhard an das dortige Amt über eigene Aktivitäten unterblieben. Der August verstrich – und nichts war geschehen, geschweige denn, dass der Bericht wie versprochen fertiggestellt und abgegeben worden wäre. Am 10. September 1943 wird aus der Abteilung IV an Dr. Hubrich die Bitte gerichtet, »für den Fall, daß der Bericht inzwischen eingegangen sein sollte«, ihn weiterzuleiten. Der betreffende Sachbearbeiter ist nicht ganz im Bilde – er spricht noch vom »Untersuchungsbericht des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware, Nürnberg«.

Aber eigentlich ist die ganze Stabshauptstelle nicht richtig im Bilde. Denn tatsächlich hatte bereits im April das Nürnberger Institut seinen 246 Seiten umfassenden Schlussbericht über die Wirtschaft des neuen deutschen Ostraumes bei der HTO abgeliefert. Er ist vollständig erhalten und kann im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg eingesehen werden. Auch in diesem Bericht wird wie schon im von der Stabshauptstelle monierten Vorbericht Erhards ein ganz anderes Polenbild transportiert, als es den Apologeten des Rassenwahns vorschwebt, auch wenn Ludwig Erhard von Vershofen Anfang August 1942 wegen interner Institutsstreitigkeiten die Federführung entzogen und an Erich Schäfer übertragen worden war. Auf Seite 97f. steht etwa – und diese Passage sei pars pro toto zitiert:

»Wenn sich jemand über die Arbeitsfähigkeit der Polen in durchaus positivem Sinn ausspricht, so kann dieses Urteil von den Berichterstattern des Instituts nur bestätigt werden. Es sind ihnen bei ihren persönlichen Beobachtungen der Betriebsverhältnisse in den angegliederten Ostgebieten kaum je Klagen über die mangelnde Arbeitsfähigkeit der polnischen Gefolgschaftsmitglieder zu Ohren gekommen. In vielen Fällen wurde von den Betriebsführern nicht nur die Willigkeit, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Polen ausdrücklich anerkannt. Es ist nach Meinung der Gutachtenden keine Frage, dass eine Qualitätssteigerung der Leistungsergebnisse der polnischen Arbeitskräfte und eine Wertangleichung an die deutsche Arbeit bei richtigem Arbeitseinsatz, zulänglichen Arbeitsbedingungen, verantwortlicher Betriebsführung und nicht zuletzt durch Maßnahmen der Arbeitsschulung zu erzielen sind.«

Vom Eingang dieses Berichts weiß die Stabshauptstelle ebenso wenig wie von der Nürnberger Ausbootung Erhards, und sie wird auch über Monate nichts davon erfahren. Der Abschlussbericht ist offenbar von der HTO nicht weitergeleitet worden – eventuell ein Indiz für den bereits einsetzenden Bedeutungsverlust dieser SS-Stelle? Jedenfalls bleibt man hier auf Erhard fixiert. Ende September wendet sich Dr. Hubrich wieder an ihn in Sachen »Untersuchungsund Ergänzungsbericht«, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Die Diktion ist kurz und mittlerweile merklich ungehalten: »Haben Sie schon mit einigen meiner Dienststellen Besprechungen über deren volkspolitische Forderungen geführt? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich bald über den Stand der Arbeiten unterrichten wurden.« Jede Grußformel fehlt. »Im Auftrage …« muss genügen.

Wieder ist es Erhard, der sich Zeit lässt mit einer Antwort, sehr viel Zeit. Sein Brief vom 28. Oktober 1943 hat Schwejk’sche Qualitäten. Wie der brave Soldat Schwejk will Erhard die Gunst der Obrigkeit – hier des SS-Stabshauptamtes – nicht verspielen, aber dennoch unbedrängt tun, wonach ihm der Sinn steht. Für die lange Frist, die er seit Auftragserteilung hat verstreichen lassen, ohne etwas zu unternehmen, nennt er einen in der Hitler-Diktatur als Abwehrmittel bürokratischer Rückfragen beliebten Grund: »Ich war nahezu die ganze Zeit zwecks Durchführung kriegswichtiger Aufgaben verreist, so daß ich mich der Erstellung des Gutachtens noch wenig widmen konnte.« Ob seine Beratertätigkeit für Bürckel in Lothringen tatsächlich wie behauptet »kriegswichtig« – so lautete hier das Schutz- und Zauberwort – war, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall reichte diese Verbindung aus, um Hubrichs Nachfrage ihre Schärfe zu nehmen. Zugleich gibt sich Erhard ganz versöhnlich und zeigt für die Fertigstellung eine neue Perspektive auf: »In der Zwischenzeit aber habe ich in Verbindung mit der Reichsgruppe Industrie das ›Institut für Industrieforschung‹ gegründet und verfüge im Rahmen dieser Arbeitsgemeinschaft auch über einen größeren Mitarbeiterkreis, so daß ich mich nunmehr mit Intensität dem Auftrag des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums zuwenden werde. Zu diesem Zwecke komme ich in der nächsten Woche nach Berlin und werde am Mittwoch, dem 3. November, mit meinem Mitarbeiter Herrn Dr. Binder bei Ihnen vorsprechen.«

Das war eine wichtige Information. Ludwig Erhard hatte tatsächlich nach dem Ausscheiden bei Vershofen inzwischen ein eigenes kleines Wirtschaftsforschungsinstitut mit allerdings überschaubarer Mitarbeiterzahl gegründet. Einer dieser Mitarbeiter war Dr. Rudolf Binder, den Erhard vom Vershofen-Institut abgeworben hatte und nun nach Berlin mitbringen und Hubrich vorstellen würde – er sollte dort eingeführt werden, damit er anschließend an Erhards Stelle hauptverantwortlich die geforderte Studie anfertigen konnte. Das jedenfalls war vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt Erhards Plan. Zusammen wollten sie endlich auch mit den anderen beteiligten Abteilungen Gespräche führen, was Erhard ja eigentlich schon im Frühjahr – »sofort« – hatte tun wollen: »Ich wäre Ihnen besonders dankbar, wenn Sie veranlassen könnten, daß wir anschließend an unsere Besprechung am Mittwoch und in den folgenden Tagen auch mit den verschiedenen Abteilungsleitern das Hauses konferieren können«, schreibt er an Dr. Hubrich, den wiederzusehen er sich »freut«.

Das Treffen muss zustande gekommen sein. Ein Vermerk darüber ist allerdings nicht erhalten geblieben. In der Kürze der Zeit – binnen Wochenfrist – war es Dr. Hubrich aber offenbar nicht möglich gewesen, die Treffen mit allen Abteilungsleitern zu arrangieren. Am 20. November bittet Binder ihn bzw. die Dienststelle des Reichskommissars deshalb, ihm zwecks Fortsetzung der begonnen Gespräche bei der Reservierung eines Zimmers in Berlin behilflich zu sein, nachdem er als »Zivilist« vom – durchaus noblen – Zentralhotel eine Absage erhalten hatte. Anschließend will er nach Posen, seinem Untersuchungsgebiet, weiterreisen. Doch die schweren Bombenangriffe des RAF Bomber Command in der Nacht vom 23. auf den 24. November verhindern Binders Berlin-Reise. Wegen der mittlerweile massiven britischen »Terrorangriffe« auf Berlin habe er, Hubrich, auf jede Zimmerbeschaffung verzichtet und es sei im Übrigen das Stabshauptamt mittlerweile auch an die Ausweichstelle Schweiklberg bei Vilshofen in Niederbayern verlegt worden, wie Dr. Binder aus einer Nachricht vom 9. Dezember 1943 erfährt (die ihn vermutlich erst nach seiner Rückkehr aus Posen erreichte).

Viel wichtiger als diese Post war ein weiteres amtliches Schreiben, das zunächst nicht in seine Hände, sondern in diejenigen von Ludwig Erhard gelangte: der Einberufungsbefehl für Binder. Erhard versuchte sogleich, Binder als Helfer vor dem Fronteinsatz zu bewahren, setzte dazu seinen Kontakt zum Stabshauptamt ein, um mit Schreiben vom 21. Dezember Hubrich zu mobilisieren. Es ist dies der letzte Brief, der aus dieser Verbindung überliefert ist. Seine Kernpassagen lauten:

»… Nachdem mir der Tatbestand der geplanten Einberufung des Herrn Dr. Binder bekannt wurde, hat während einer Dienstreise mein Stellvertreter, Herr Dr. Holthaus, in einem Blitzgespräch mit Ihrem Amt in Berlin zu erreichen versucht, daß Sie bei dem Kommandeur des Wehrmeldeamtes Nürnberg eine Zurückstellung der Einberufung unterstützen bzw. beantragen. In Ihrer Abwesenheit hat Herr Dr. Hoffmann meinem Herrn Dr. Holthaus diese Zusicherung gegeben, aber wie ich heute gelegentlich einer persönlichen Vorsprache beim Wehrmeldeamt feststellen konnte, liegt ein solcher Antrag des Reichskommissars dort bislang nicht vor. Ich habe jedoch, gestützt auf die Zusicherung des Herrn Dr. Hoffmann, die bindende Erklärung abgegeben, daß Sie mir die Unterstützung zugesagt haben und nur in diesem Falle hat sich der Kommandeur bereit erklärt, die Einberufung des Herrn Dr. Binder bis Ende Februar bzw. Anfang März zurückzustellen. Ich möchte Sie daher in aller Form bitten, einen schriftlichen Antrag auf Zurückstellung des Herrn Dr. Binder auszufertigen, in dem Sie dafür eintreten, daß Herr Dr. Binder noch die Möglichkeit erhält, in den Monaten Januar und Februar an der Fertigstellung der Untersuchung zu arbeiten. Herr Dr. Binder hat sich nun schon seit längerer Zeit in die Materie vertieft und bei seiner neuerlichen vierwöchigen Reise in die Ostgebiete neue Einblicke und Erkenntnisse gewonnen, deren Verwertung für die Untersuchung unbedingt erforderlich ist. Ich selbst kann die Arbeit des Herrn Dr. Binder nur beratend überwachen, da ich durch anderweitige Untersuchungen im Auftrag des Reichsministers für die Rüstung und Kriegsproduktion außerordentlich überlastet bin. Selbst unter Auslegung schärfster kriegswirtschaftlicher Gesichtspunkte bin ich überzeugt, daß eine Zurückstellung des Herrn Dr. Binder in dem vorgesehenen Ausmaß vertreten werden muss. Davon abgesehen habe ich, wie gesagt, gestützt auf die telefonische Zusage des Herrn Dr. Hoffmann, bereits eine diesbezüglich bindende Erklärung abgegeben, daß der schriftliche Antrag Ihrer Dienststelle nachgereicht wird. Herr Dr. Binder wird Ihnen wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit dieses Schreiben persönlich überreichen und ich bitte Sie deshalb, Verständnis dafür zu haben, wenn er noch in eigener Sache bei Ihnen vorspricht. Für Ihre Mühewaltung sage ich Ihnen im Voraus verbindlichen Dank …«

Ob Rudolf Binder dank Erhards kurz entschlossener, tatkräftiger Intervention und seiner – nüchtern betrachtet – reichlich dreisten Instrumentalisierung des Stabshauptamtes tatsächlich vor einem Fronteinsatz bewahrt werden konnte, wissen wir nicht. Wir wissen allerdings, dass er den Krieg überlebt hat, denn in den Fünfzigerjahren arbeitete und publizierte er am renommierten Institut für Weltwirtschaft der Universität Kiel. Ludwig Erhard selbst verabschiedete sich mit diesen Zeilen zugleich ganz beiläufig, quasi en passant, von dem Auftrag der Stabshauptstelle, ein neues überarbeitetes, die Gesichtspunkte der NS- Rassen- und Volkstumspolitik berücksichtigendes Gutachten zu erstellen. Der Verweis auf »anderweitige Untersuchungen im Auftrage des Reichsministers für die Rüstung und Kriegsproduktion«, also einer noch höheren Instanz, die ihn bis zur Überlastung in Atem hielten und, so ließ er gleichzeitig durchblicken, zugleich noch kriegswichtiger waren, ist der zentrale Hinweis in diesem Kontext.

Solche Aufgaben gab es wirklich, sie kamen ihm nun aber sehr zupass. Was es mit ihnen auf sich hatte, werden wir im folgenden Abschnitt sehen. Es bleibt anzumerken, dass ein zweites Gutachten von ihm tatsächlich nicht mehr angefertigt und eingereicht worden ist. Die Bedeutung der Stabshauptstelle des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums schwand, der Kriegslage geschuldet, nach der durchgeführten Verlegung nach Niederbayern allerdings auch rasant. An nahezu allen Fronten hatte der deutsche Rückzug mittlerweile begonnen. Gerade in Osteuropa platzten alle nationalsozialistischen Pläne einer gigantischen »Umvolkung« in ihrer charakteristischen Mischung aus Rassen- und Größenwahn wie Seifenblasen, nachdem sie zuvor viel Unheil und Elend gestiftet und nicht zuletzt die Wurzeln gelegt hatten für eine schon bald einsetzende neuerliche Welle der Vertreibung von Millionen – diesmal aber von Deutschen und in Richtung Westen. Ludwig Erhard selbst hat nach dem Krieg über die hier geschilderten Vorgänge, seine Gutachtertätigkeit für die HTO und die Stabshauptstelle, nie ein Wort verloren. Auch wenn er uns hier keineswegs als Propagandist der NS-Umvolkungspolitik begegnet, war der Bereich wohl doch für ihn so kontaminiert, dass er lieber den Mantel des Beschweigens über ihn gedeckt wissen wollte.

Kampf ums Kanzleramt

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