Читать книгу Kampf ums Kanzleramt - Daniel Koerfer - Страница 17

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Spätestens jetzt hatte Adenauer erkannt, welch ansehnlicher Fisch da im bürgerlichen Parteienteich noch gänzlich frei und ungebunden herumschwamm. Er tat nun alles, um ihn ins Netz zu holen und ans christdemokratische Ufer zu ziehen. Daher signalisierte er allen Anwesenden: Er, Konrad Adenauer, und der Wirtschaftsfachmann Ludwig Erhard, sie waren sich einig, sie zogen am selben Strang. Und Adenauer sparte nicht mit Komplimenten. Wann hat Erhard später jemals wieder zu hören bekommen, dass seine große Begabung darin liege, komplexe Zusammenhänge einfach und verständlich darzustellen? Das Lob der einfachen Formeln und Begriffe ist für Adenauer ungemein charakteristisch. Noch Jahre später wird er, den man als »simplificateur« von hohen Graden bezeichnen könnte, die Gabe, Dinge in ihrem Wesenskern zu erfassen, als wichtigste politische Fähigkeit bezeichnen, weil das Wirkliche in der Tiefe »immer einfach« sei.65 Er selbst war ein Meister darin, sich die Dinge so zurechtzulegen, dass er zu klaren Alternativen gelangte. Das galt auch für den Wahlkampf 1949. Für ihn und für Erhard gab es von jetzt an keinen Zweifel. Die kommende Bundestagswahl würde durch die Wirtschaftspolitik entschieden werden.

Aber würde sich die Union, würde sich erst einmal die CDU der britischen Zone auf eine Wirtschaftskonzeption, wie sie Erhard skizziert hatte, festlegen können? Anfänglich schien das in Königswinter noch keineswegs sicher – deshalb unterstützte Adenauer seinen neuen »Schützling« so nachdrücklich. Erhard sah sich nämlich mit mancherlei Vorwürfen konfrontiert. So äußerte etwa der aus Köln stammende Delegierte Johannes Albers, ein Mitglied der Sozialausschüsse, den Einwand, bei Erhard handele es sich um einen verkappten Liberalen, einen Fremdkörper im Gefüge der Union, dem es lediglich darum gehe, das Ahlener Programm vollständig aufzuheben.66 Darauf reagierte Adenauer rasch und geschickt. Er antwortete: »Akut ist beim kommenden Wahlkampf die Frage: Planwirtschaft oder Marktwirtschaft. Darum dreht es sich jetzt hier. Das hat, Herr Albers, mit dem Ahlener Programm, zu dem ich restlos stehe, nichts zu tun.«

Natürlich stand die Frage nach einer Umwandlung des Ahlener Programms im Raum, aber indem Adenauer hier apodiktisch erklärte, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun, verhinderte er den Ausbruch einer Grundsatzdiskussion, deren Ausgang ungewiss sein mochte. Kurz entschlossen verkündete er außerdem, den Text von Erhards Vortrag für den Wahlkampf drucken lassen zu wollen. Generell verhielt er sich auf dieser Sitzung ausgesprochen zuvorkommend gegenüber Erhard, umschmeichelte ihn nach allen Regeln der Kunst, etwa als er sagte: »Ich mache Ihnen, Herr Erhard, ein aufrichtiges Kompliment. Bisher habe ich Sie noch nicht so klar und gut Ihre Grundsätze entwickeln gehört. Sie haben schon sehr hinreißend gesprochen, aber so klar habe ich es noch nicht gehört.«

Aber es war wohl nicht allein Schmeichelei. Die Rede Erhards muss den meisten Zuhörern imponiert haben. Schließlich verzichtete sogar Franz Etzel, der sich zu Erhard damals in einer Art Idealkonkurrenz befand, darauf, sein angekündigtes Korreferat auch tatsächlich zu halten, und ließ sein Manuskript in der Aktentasche. Nach seiner Auffassung sollte die Programmkommission vielmehr die Gedankengänge Erhards als Basis für ein geschlossenes Wirtschaftskonzept betrachten und darauf aufbauen, denn: »Wir haben, wenn ich es glatt heraussagen darf, ja gar keine Wirtschaftspolitik der CDU, sondern die Wirtschaftspolitik von Prof. Erhard gemacht, und von der CDU her haben wir sie sanktioniert.«

Tatsächlich, so war es. Und der parteilose fränkische Wirtschaftsexperte hatte mit seinem Vortrag, seinem klaren Bekenntnis zur Union nun auch skeptische Zuhörer wie Etzel zu überzeugen vermocht. Er gewann noch mehr Sympathien, flößte zunehmend Vertrauen ein. Eugen Gerstenmaier meinte später, unter den vielen Ansprachen Erhards sei diejenige vom Februar 1949 »eine seiner erfolgreichsten« gewesen67, weil er die im wirtschaftspolitischen Bereich noch uneinige Union endgültig von der Richtigkeit seines Weges habe überzeugen, sich die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit habe sichern können und weil es ihm gelungen sei, dabei einen besonders hohen Grad der Übereinstimmung mit Konrad Adenauer zu erreichen oder zumindest den Eindruck davon zu vermitteln.68

Erhard war vermutlich nach der Tagung in Königswinter in der Überzeugung bestärkt worden, dass ihn der wichtigste Mann in der Union von nun an bedingungslos unterstützen und verteidigen werde. Es sei, so berichtete er später, in diesen Monaten eine »gewisse Verehrung für Adenauer« in ihm entstanden; er habe sich getragen gefühlt von einer »zart entwickelten Gläubigkeit, daß man vielleicht doch (gemeinsam) eine neue Welt bauen könnte«69 – Worte der Verehrung, die wir schon aus seiner Vershofen-Zeit kennen. Oder, wie er ebenfalls rückblickend über jene Wochen im Frühjahr und Sommer 1949 sagte: »Seinerzeit waren ja auch Adenauer und ich noch ein Herz und eine Seele; ich wußte, was er politisch bedeutet, aber er wußte wohl auch, was er an mir hatte«.70

Kurz, Erhard hoffte damals, es werde eine lange Phase der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem über zwei Jahrzehnte Älteren beginnen. So kehrte der Wirtschaftsfachmann im Mai und Juni 1949 nach gemeinsamen Besprechungen in Bonn, erfüllt von der Bewunderung für den ehemaligen Kölner Oberbürgermeister, in sein Arbeitszimmer in der von Amerikanern freigegebenen McNair-Kaserne nach Frankfurt-Hoechst zurück und ließ es jeden wissen: »Ja, der Adenauer ist schon ein Mann!«71 Hätte er den Brief gekannt, den Adenauer kurz nach seinen Elogen von Königswinter am 12. Februar an den Frankfurter CDU-Fraktionsvorsitzenden Holzapfel geschrieben hatte, wäre er wohl etwas weniger euphorisch gewesen. Dort stand zu lesen: »Ich darf ganz offen sein und Ihnen sagen, daß Herr Erhard sicher vorzügliche Eigenschaften hat, daß er aber gern dazu neigt, sich etwas schnell neuen Aufgaben zuzuwenden … Sie müssen ihn mit eisernen Ketten an seine Aufgabe während der nächsten Monate festbinden.«72 Adenauers Erhard-Bild war also längst nicht so ungetrübt, wie der Wirtschaftsprofessor glaubte. Die Ketten würde ihm allerdings nicht Holzapfel anzulegen suchen, sondern Adenauer selbst – aber noch war es nicht so weit.

Beide verband damals ja auch eine tiefe Grundüberzeugung: Der Wahlkampf gegen die SPD musste gewonnen werden, die Sozialdemokraten durften nicht die Regierungsgeschäfte übernehmen. Mithilfe der Erhard’schen Wirtschaftskonzeption würde sich dieses Ziel erreichen lassen. Sie wirkte auf die Wähler polarisierend und mobilisierend zugleich, gerade weil sie die Sozialdemokraten zusammen mit den Kommunisten so erbittert bekämpften. Kurt Schumacher meinte giftig, dieses Wirtschaftsprogramm sei doch bloß »ein dicker Propaganda-Ballon des Unternehmertums«, gefüllt mit den »Abgasen des weiter verwesenden Liberalismus«.73 Adenauer rieb sich vermutlich die Hände. Wenn sich die Union jetzt geschlossen hinter Erhard stellte, dann bekam sie ein Wahlkampfthema frei Haus geliefert, mit dem sich die SPD ausmanövrieren ließ; dachten die Menschen in diesem Sommer 1949 doch ohnehin kaum an etwas anderes als an die notdürftige Sicherung der materiellen Existenz. Planwirtschaft? Staatliche Wirtschaftslenkung? Die hatten versagt, da musste man nicht nur an Hitler oder Stalin denken, sondern allein – und ganz in der Nähe – auf die sowjetisch besetzte Zone schauen. Die Marktwirtschaft bot demgegenüber eine neue Chance, eine klare Alternative. Da gab es doch wirklich nur Rot oder Schwarz.

Die Union schwenkte auf diese Linie ein. In den Düsseldorfer Leitsätzen, die eine Gruppe von CDU-Politikern um Franz Etzel, Karl Müller, Johannes Albers, Hugo Scharnberg und am Ende sehr intensiv auch noch Ludwig Erhard selbst formuliert und am 15. Juli 1949 der Öffentlichkeit vorgestellt hatte, war das Bekenntnis der Partei zur Sozialen Marktwirtschaft festgeschrieben worden. Es bewahrheitete sich, was Adenauer schon im Februar 1949 nach dem Vortrag von Erhard verkündet hatte: »Herr Professor Erhard hat die Grundprinzipien so klar herausgestellt, daß wir … unsere Leitsätze sehr schnell daraus entnehmen können.«74

In den Düsseldorfer Leitsätzen lehnte die CDU jede Planung und Lenkung von Produkten, Arbeitskraft und Absatz ab75 – das war, in knappen Worten, der Kern von Erhards Konzeption und zugleich so etwas wie »eine programmatische Plattform für das Zusammengehen mit der FDP« bei einem entsprechenden Wahlergebnis im Herbst.76 Auch mit den weiteren Ausführungen konnten sich die Liberalen gewiss anfreunden. Der Verbraucher sollte als Schiedsrichter über Verlust und Gewinn, über Wohl und Wehe der Unternehmen entscheiden, nicht der Staat.77 Das ungebrochene Vertrauen von Erhard und seinen Anhängern in die regulierende Kraft eines freien Marktes prägte das Programm – und die tiefe Skepsis gegenüber allen planwirtschaftlichen Konzepten: »Die Planwirtschaft kann weder das Problem der höchstmöglichen Produktion noch das Problem einer gerechten, zugleich effizienten Verteilung der Rohstoffe und Erzeugnisse meistern. Sie kann letzten Endes nicht auf die staatliche Lenkung des Absatzes verzichten und beschränkt damit den Verbraucher in der freien Bestimmung über sein Einkommen. Statt einer freiheitlichen Ordnung entsteht mit zwingender Folgerichtigkeit die Diktatur oder das Chaos.«78

Diktatur oder Chaos – die düsteren Begleiter der Planwirtschaft. War dies nicht eine ungemein geschickte Diskreditierung der sozialdemokratischen Wirtschaftsvorstellungen? Wurde die SPD nicht auf diese Weise in die Nähe der verabscheuten stalinistischen wie der nationalsozialistischen Diktatur gerückt beziehungsweise mit dem Chaos des Schwarzen Marktes in Verbindung gebracht? Mit der Verabschiedung ihrer »Düsseldorfer Leitsätze«, die weit über die CDU der britischen Zone hinauswirkten, und mit ihrer Wahlkampfparole »Planwirtschaft oder Marktwirtschaft?« legte die Union den Schwerpunkt ihres Wahlkampfs jedenfalls ganz eindeutig auf wirtschaftspolitische Themen. In zahlreichen Reden gingen ihre Politiker die Sozialdemokraten, mit denen sie auf Landesebene in etlichen Koalitionen einträchtig zusammengearbeitet hatten oder noch zusammenarbeiteten, scharf an, versprachen zugleich, dass eine Regierung unter christdemokratischer Führung die vorhandene Not weiter tatkräftig lindern, den Vertriebenen helfen, den Wohnungsmangel beseitigen und den privaten Wohlstand mehren werde.79 Warum diese verbale Aggressivität, diese Versprechungen? War man denn im Sommer 1949 noch nicht über den Berg? Nein, davon konnte wirklich nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil.

Zunächst war es nämlich keineswegs so, dass die weitere wirtschaftliche Entwicklung nach Überwindung der ersten schweren Anpassungskrise im November/Dezember 1948 Erhard als Initiator der Wirtschaftsreform unmittelbar recht gegeben hätte. Vor allem ein Problem ließ sich nur schwer in den Griff bekommen und belastete die Wahlkampagne der Union erheblich: Ein Jahr nach der Währungsreform, im Juni 1949, gab es 1,23 Millionen registrierte Arbeitslose, und dieser Strom schwoll immer noch an, weil heimkehrende Kriegsgefangene sowie Flüchtlinge und Vertriebene das Heer der Arbeitsuchenden ständig vergrößerten.80 Da blieb nur übrig, an den Mut zur Zukunft zu appellieren, den Bürgern Zuversicht zu vermitteln. Und gerade darin war Ludwig Erhard in den Sommerwochen 1949 so erfolgreich wie kein anderer Parteipolitiker neben ihm. Erhard – und nicht Adenauer – entwickelte sich zum begehrtesten Redner im Wahlkampf 1949. Wo immer er auftrat – damals noch nicht so füllig, aber mit dem unverwechselbaren rundlichen Gesicht, schon mit glimmender Zigarre, jenem später so zugkräftigen Symbol, das an rauchende Schornsteine, an Prosperität und damit an heimeligen Wohlstand erinnerte –, zog er die Massen an. Stets verkündete er: »Nicht eine gleichmäßige Verteilung der Armut des deutschen Volkes steht zur Debatte, sondern die Frage: Wie führt man das deutsche Volk aus seiner Armut heraus?«81 Und er ließ niemand im Unklaren darüber, dass er den Weg kenne. Offenbar glaubte man ihm.

Seine Popularität wuchs rasch. In einer Meinungsumfrage des Bielefelder Emnid-Instituts vom Juni 1949 in allen drei Westzonen hatten zwar nur 35 Prozent der rund 3000 Befragten einen Politiker mit Namen genannt, den sie in der kommenden Bundesregierung zu sehen wünschten; in dieser Gruppe aber rangierte der Name Ludwig Erhards ganz oben, direkt hinter Kurt Schumacher und deutlich vor Konrad Adenauer. Ob dies den Alten von Rhöndorf berührte oder ihm gleichgültig war, wissen wir nicht. Sicher ist, dass nun mit einem Schlag eine unterschwellig ja schon früh vorhandene Spannung sein Verhältnis zu Erhard zu belasten begann. Erhard erinnerte sich später: »Ich weiß nicht, ob die Einstufung Konrad Adenauers auf den dritten Platz mit eine Ursache dafür war, daß sich unser Verhältnis offensichtlich etwas komplizierte. Dies ging aber während des Wahlkampfes und der Bildung der ersten Bundesregierung nie so weit, daß die Öffentlichkeit davon Kenntnis erhielt.«82

Allerdings ließ Erhard nicht den geringsten parteipolitischen Ehrgeiz erkennen, war tatsächlich kein ernsthafter Rivale, den Adenauer hätte beachten, gar eifersüchtig überwachen müssen. Andererseits ließ sich Erhard aber auch nicht parteipolitisch einbinden. Obwohl er sich in Königswinter zur Union bekannt hatte, sie im Wahlkampf tatkräftig unterstützte – nicht umsonst führte die SPD ihren Wahlkampf unter der Parole »Prof. Erhard – CDU ruiniert die Wirtschaft. Wer SPD wählt, wählt den Aufbau«83 –, wurde er nicht formell Mitglied der Partei.84 Verblüffenderweise verband Erhard die Übernahme einer Kandidatur für die CDU im Wahlkreis Ulm-Heidenheim gerade nicht mit einem Parteieintritt. Das Parteibuch war für ihn zweitrangig.85 Dass er nicht in Bayern antrat, hing wohl mit seinen unerquicklichen Erfahrungen während der dortigen Ministerzeit zusammen.

Außerdem stand er ursprünglich der FDP ja auch viel näher als der Union; das mag dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Auf Vorschlag der Liberalen war er zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt worden – sie hatten ihn immer unterstützt. Mit dem damaligen FDP-Vorsitzenden Theodor Heuss – und seiner Frau Elly Heuss-Knapp und deren Freundin Toni Stolper – war er befreundet, mit dem Vorsitzenden der bayerischen FDP Thomas Dehler gut bekannt. Kurz vor der endgültigen Annahme seiner Bundestagskandidatur für die CDU in Ulm-Heidenheim hatte sich Erhard im Juni 1949 in Stuttgart mit führenden Vertretern der FDP, mit Heuss, Reinhold Maier, Wolfgang Haußmann getroffen, ihnen etwas verschämt seine Überlegungen erläutert. Wie Thomas Dehler später – 1965 – dem Journalisten Alfred Rapp schrieb, habe Erhard damals erklärt, »er müsse zur CDU, um ihr liberale Korsettstangen einzuziehen, der Unterstützung der FDP in seiner Wirtschaftspolitik sei er an sich gewiß …«86 Nur mit den stärksten Bataillonen, mit der CDU im Rücken würde sich – wie Erhard klar erkannte und kurz vor Eröffnung des Bundestagswahlkampfes recht offen Reinhold Maier, Thomas Dehler, Theodor Heuss in handschriftlichen Briefen schrieb – seine Wirtschaftskonzeption gegen den anhaltenden, massiven Widerstand der SPD durchsetzen lassen. Das kleine Fähnlein der Liberalen allein wäre dazu niemals in der Lage gewesen. Also musste er sich, so unwohl er sich dabei fühlte, von den Freien Demokraten distanzieren, die dort in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschen. Nach der klärenden Aussprache mit Heuss – beide versprachen, sich im Wahlkampf in Württemberg wechselseitig in einer Art Lobekartell zu unterstützen –, mit Maier und Haußmann konnte Erhard sich nun verstärkt darum bemühen, vor den Wählern die Soziale Marktwirtschaft, seine Person und die Union als Einheit darzustellen. Vermutlich ist ihm das gelungen, wie er rückblickend feststellte:

»Im Wahlkampf 1949 war ich wohl der ›Matador‹ der CDU, denn seinerzeit verfügte Adenauer noch nicht über die Geltung späterer Jahre. Der erste Wahlkampf ist praktisch nur um die Soziale Marktwirtschaft geführt worden und um die Probleme, die sich darum herumrankten, wie Preise, Selbständigkeit, Freiheit … In jenem ersten Wahlkampf waren ›Soziale Marktwirtschaft‹ und ›CDU‹ zu einer Identität geworden. Ich weiß gar nicht, ob ich den Namen CDU häufig verwandt hab. Jedermann wußte indessen, daß ich für die CDU spreche. Ich galt im Lande als der Verkünder der Sozialen Marktwirtschaft.«87

Am 14. August 1949 ging der zwischen Union und SPD erbittert geführte Wahlkampf zu Ende. Hatte Konrad Adenauer die SPD vor allem als Partei der ungeliebten britischen Besatzungsmacht zu stigmatisieren versucht, so bemühte sich Kurt Schumacher auf eine noch grobschlächtigere Weise, die Union mit dem Klerus, den Franzosen und dem Großkapital in Zusammenhang zu bringen.88 Allgemein erwarteten politische Beobachter einen Sieg der Sozialdemokraten, erblickten in Schumacher den ersten Kanzler der jungen Bundesrepublik. Doch es kam anders. Das Wahlergebnis fiel denkbar knapp aus – aber die Union hatte hauchdünn die Nase vorn. Sie erreichte 31 Prozent der Stimmen, auf die SPD entfielen 29,2 Prozent. Eine Überraschung. Schließlich besaß die SPD in Kurt Schumacher eine Führungspersönlichkeit, die das vom Nationalsozialismus unbelastete, aufrechte Deutschland verkörperte, verfügte die Partei außerdem über eine funktionstüchtige Organisation und mit den Gewerkschaften über einen kampfkräftigen Verbündeten, während die CDU in sich heterogen blieb und ein nennenswerter Parteiapparat noch gar nicht existierte, sie als Bundespartei ja überhaupt erst ein Jahr später in Goslar gegründet werden sollte.


Wahlplakate aus dem Bundestagswahlkampf 1949: Die Union mobilisiert die Ängste vor der »roten Gefahr«, die sich hinter der SPD versteckt, die Sozialdemokraten suchen die Union als Helfer der Reichen zu diskreditieren.

Ihre unbestrittene Führungspersönlichkeit – Konrad Adenauer – traute es sich allerdings zu, die Regierungsbildung zu lenken und dabei selbst das Kanzleramt zu übernehmen. Schon im Frühjahr 1949 hatte er zu Parteifreunden gesagt: »Wir müssen jetzt an die Macht kommen. Und wir müssen wenigstens acht Jahre an der Macht bleiben. Dann haben wir Deutschland auf den Weg gebracht, auf dem es weitergehen kann.«89 Der Wille zur Macht – er war bei Adenauer stets ausgeprägt. Nun bot sich ihm die Chance, zumindest innerhalb einer Legislaturperiode »Deutschland auf den Weg« zu bringen. Man musste nur selbstbewusst genug sein, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Und über das Selbstbewusstsein verfügte der Fuchs von Rhöndorf.

Kaum weniger selbstbewusst verhielt sich in diesen Tagen Ludwig Erhard. Er stellte im Rückblick fest: »Der Ausgang der Bundestagswahl vom 14. August war – nicht nur nach meiner Auffassung – auch ein eindeutiges Vertrauensvotum für meine Politik und meine Person, denn die Parteien, die sich für die Planwirtschaft einsetzten (SPD und KPD), hatten nur ca. 35 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigen können.«90 Der Katholik Konrad Adenauer und der Protestant Ludwig Erhard, das waren zwei der Hauptpersonen bei der Entscheidung über die Regierungsbildung, über den Gang der Koalitionsverhandlungen – auch wenn Adenauer in seinen Erinnerungen die Bedeutung Erhards kaum sichtbar werden lässt, ja, diesen nur ganz gelegentlich, beinahe als Randfigur erwähnt.

Gewiss war es Adenauer, der die Initiative ergriff. Er behielt die Fäden in den Wochen nach dem 14. August in der Hand. Kaum waren drei Tage vergangen, da erklärte er, seine Partei beanspruche auf jeden Fall das Wirtschaftsministerium.91 Ein geschickter Schachzug. Für die SPD forderte Kurt Schumacher nämlich ebenfalls dieses Ministerium und hatte dafür auch einen prominenten Mann parat: Erik Nölting, den sozialdemokratischen Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen. Jene Entwicklung, die im Wirtschaftsrat begonnen hatte, setzte sich also fort. Wieder wurde die Besetzung des Wirtschaftsressorts wechselseitig zur conditio sine qua non erklärt, wieder gingen die beiden stärksten Parteien über die Besetzung dieser Position auf Konfrontationskurs.

Eine angesichts der immensen Aufbauprobleme keineswegs absurde Große Koalition wurde daher immer unwahrscheinlicher, obwohl dieser Gedanke im Kreis der Union, hauptsächlich auf Länderebene, durchaus Befürworter fand. Karl Arnold etwa, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, oder Peter Altmeier, Regierungschef von Rheinland-Pfalz, auch Gebhard Müller, Staatspräsident von Württemberg-Baden, sowie Werner Hilpert, der hessische CDU-Vorsitzende, galten als Anhänger eines schwarz-roten Regierungsbündnisses, weil sie alle in ihren Ländern eine recht gedeihliche Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten praktizierten.92 Müsse man nicht – so argumentierten sie – die Kriegsfolgen klugerweise gemeinsam mit der SPD bewältigen? Sollten gerade dabei die beiden entscheidenden demokratischen Kräfte nicht auch in Bonn an der Spitze der gerade erst wenige Wochen alten Republik zusammenstehen?

Adenauer leuchteten alle derartigen Überlegungen überhaupt nicht ein. Eine starke Regierung, eine starke Opposition nach dem Vorbild des englischen Parlamentarismus brauchte man jetzt.93 Außerdem hatte die Frontstellung von CDU und SPD im Wirtschaftsrat, hatte der anschließend sehr aggressiv geführte Wahlkampf, die fundamental unterschiedliche Wirtschaftsprogrammatik, aber auch die tiefe persönliche Animosität zwischen dem rheinischen CDU-Vorsitzenden und Kurt Schumacher ein Zusammengehen der beiden großen Parteien bereits nahezu unmöglich werden lassen. Die Weichen waren daher nach der Bundestagswahl eigentlich schon gestellt, nur der Regierungszug hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt. Dazu mussten noch die letzten Bremsklötze gelöst werden. Das tat Adenauer in der Woche zwischen dem 14. und 21. August 1949.

Mit seinem frühen Anspruch auf das Wirtschaftsministerium hatte der kluge Taktiker aus Rhöndorf nicht nur den Graben zwischen CDU und SPD – planmäßig – vertieft, sondern auch den Handlungsspielraum all derer in der Union weiter eingeschränkt, die eine Große Koalition für wünschenswert hielten und an einem möglichst langen formalen Offenhalten der Situation interessiert sein mussten. Für sie wurde es nach seinem Schritt noch schwerer, eine Kleine Koalition mit den Liberalen zu verhindern. Zugleich hatte Adenauer natürlich auch Erhard sein Vertrauen ausgesprochen, ihm deutlich signalisiert, dass das Amt des Wirtschaftsministers für ihn bestimmt sei. In einem Gespräch mit Erhard und dem Kölner Bankier Robert Pferdmenges am 19. August wurde dann die weitere Marschroute, die Adenauer einzuschlagen gedachte, genauer abgesprochen.94

Erhard erklärte daraufhin vor Journalisten, es sei »ausgeschlossen, dass eine Große Koalition auf Kosten unserer Wirtschaftspolitik gemacht wird« – eine Äußerung, die er bezeichnenderweise nach einem zweiten Treffen mit Adenauer noch an diesem 19. August abschwächte. Jetzt gab er bekannt, seine Bemerkung dürfe natürlich nicht als »grundsätzliche Ablehnung einer SPD-CDU-Koalition« gedeutet werden.95 Offenbar wollte Adenauer eine starke Mobilisierung aller Gegner einer Kleinen Koalition in den eigenen Reihen vermeiden, hatte Erhard deshalb zu größerer Zurückhaltung gegenüber der neugierigen Presse gedrängt. Bevor man an die Öffentlichkeit treten konnte, sollten erst wichtige Verbündete in der eigenen Partei gewonnen werden.

Zu diesem Zweck fand am folgenden Tag eine Aussprache zwischen Adenauer, dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Hans Ehard sowie weiteren CSU-Politikern im Hause der bayerischen Landesvertretung beim Länderrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Frankfurt statt.96 Bei diesem Meinungsaustausch war zeitweise auch Ludwig Erhard anwesend, den Adenauer damals tatsächlich eng an den Verhandlungen beteiligte. Niemals ist er später bei einer Regierungsbildung unter Adenauers Verantwortung wieder so stark einbezogen worden wie hier.

Die Unterredung in Frankfurt nahm einen für alle Teilnehmer erfreulichen Verlauf. Adenauer einigte sich mit dem Bayern Hans Ehard, einem der wichtigsten »Landesfürsten«, der im Gegensatz zu seinem Parteifreund Josef »Ochsensepp« Müller nicht als Befürworter einer Großen Koalition galt, über die Besetzung der Schlüsselpositionen, sicherte seinerseits zu, die Belange der CSU bei der Regierungsbildung gebührend berücksichtigen zu wollen. Bundespräsident sollte Theodor Heuss (FDP) werden, den Adenauer schon frühzeitig für diesen Posten ins Gespräch gebracht hatte, wohl um der Gefahr vorzubeugen, selbst auf dieses Amt »abgeschoben« zu werden. Als Bundestagspräsident war Erich Köhler (CDU) vorgesehen, als erster Präsident des Bundesrates Ehard selbst. Daraus wurde dann allerdings nichts, weil die übrigen Ministerpräsidenten Adenauer hier die Gefolgschaft verweigerten und in einem Akt der kleinen Rebellion Karl Arnold ihre Stimme gaben. Schließlich verständigte man sich auch auf die Kanzlerschaft Adenauers und auf die Führung des Bundeswirtschaftsministeriums durch Ludwig Erhard.97 Es kann daher nicht überraschen, wenn Erhard später selbst berichtete: »Als ich am 21. August 1949 die Treppen zum Haus von Konrad Adenauer in Rhöndorf hinaufging, war ich nicht im Zweifel darüber, daß der erste Bundeswirtschaftsminister der jungen Bundesrepublik Ludwig Erhard heißen würde.«98

An diesem 21. August, einem heißen Sommersonntag, sollten im Haus von Konrad Adenauer von einem völlig informellen Gremium der Union die Probleme der Regierungsbildung umfassend beraten und alle Koalitionsfragen entschieden werden. An der gründlichen Diskussion eine Woche nach der Wahl nahmen 27 führende Politiker der CDU und Franz Josef Strauß von der CSU teil.99 Adenauer, der Gastgeber, hatte die Teilnehmerliste geschickt zusammengestellt, sodass niemand hinterher behaupten konnte, es seien nur diejenigen geladen worden, die von vornherein als Verfechter einer Zusammenarbeit mit der FDP angesehen werden konnten. Schließlich waren auch Männer wie Werner Hilpert und Gebhard Müller erschienen. Andererseits befanden sich die Befürworter einer Großen Koalition eindeutig in der Minderheit. Außerdem war Karl Arnold, der stärkste Widersacher Adenauers, nicht eingeladen, also gezielt ausmanövriert worden.100

Aber Adenauers sorgfältige Regie beschränkte sich natürlich nicht allein auf die Auswahl seiner Gäste.101 Der gesamte Rahmen war »bewusst etwas familiär aufgezogen«, wie Erhard in einem Interview dem Journalisten Klaus Dreher berichtete; Adenauers Tochter schenkte Kaffee ein, die Bewirtung sei »freundlich und reichlich« gewesen, ein für die damaligen, von Entbehrungen gekennzeichneten Zeiten geradezu opulentes Buffet und der vorzügliche Moselwein warteten in der Mittagspause auf die Teilnehmer und begünstigten einen friedlichen Verlauf der Konferenz und vor allem ein Ergebnis im Sinne des Gastgebers.102

Besonders ein Argument wiederholte dieser immer wieder: »Der Wähler habe sich für die Soziale Marktwirtschaft entschieden und an diese Entscheidung sind wir alle gebunden.«103 Daher sei ein Zusammengehen mit der SPD unmöglich. Ein »Regierungsmischmasch« lasse sich nicht verantworten.104 Einem CDU-Wirtschaftsminister wie Ludwig Erhard könne man keinesfalls einen sozialdemokratischen Staatssekretär an die Seite stellen, denn: »Dann kommt der Karren nicht vom Fleck.«105

Die permanente, mit leichten Veränderungen versehene Wiederholung eines bestimmten Grundgedankens, diese »Suggestionsmethode« (Robert Pferdmenges), ist von Adenauer immer wieder mit Erfolg angewandt worden und verfehlte ihre Wirkung höchst selten.106 Auf der Rhöndorfer Konferenz redeten denn auch Hilpert und Müller eher zaghaft dem Versuch einer Großen Koalition das Wort.107 Ihnen widersprach nicht nur Adenauer. Auch Erhard »kämpfte mit dem Mut eines Löwen gegen die Hereinnahme der Sozialdemokraten« in die neue Bundesregierung, wie sich Franz Josef Strauß, selbst Gegner einer Großen Koalition, erinnerte.108

Erhard machte unmissverständlich klar, dass er nicht bereit sei, in einer schwarz-roten Koalition als Wirtschaftsminister zu amtieren. Und allen an der Konferenz Beteiligten leuchtete ein, dass sich die im Wahlkampf der Union so plakativ nach vorne geschobene Soziale Marktwirtschaft kaum ohne ihren Mentor, ihren Hauptpropagandisten würde verwirklichen lassen. Erhard musste auf jeden Fall Minister werden – was weder Hilpert noch Müller bestritten –, sonst hätte die CDU/CSU ihren bei der Wahl erworbenen Kredit rasch wieder verspielt. So stark war damals schon Erhards Position: Auf ihn konnte die Partei ebenso wenig verzichten wie auf Adenauer.

Der Hausherr lenkte dabei die Diskussion derart geschickt, dass sich immer deutlicher heraushören ließ, dass im ersten Deutschen Bundestag die bereits im Frankfurter Wirtschaftsrat erprobte Koalition zwischen der Union, die nun über 139 der insgesamt 402 Mandate verfügte, der FDP mit 52 Mandaten sowie der Deutschen Partei mit ihren 17 Abgeordneten fortgesetzt werden sollte.

Natürlich ließ sich nicht lange verbergen, dass auf dieser wichtigen Sitzung auch über die Verteilung der zentralen Positionen eine Einigung erzielt werden sollte: »Alle Beteiligten waren sich dessen bewußt, daß es in der kommenden Regierung wesentlich zwei Posten zu besetzen galt: den Bundeskanzler und den Wirtschaftsminister. Das war die politische Substanz, die am Anfang stand.«109

In der Tat. Ein Außenministerium würde und konnte es nicht geben, weil die Bundesrepublik ein Teil des besiegten Deutschlands und unter Oberaufsicht der auf dem Petersberg residierenden Hohen Kommissare blieb, somit an eine souveräne Außenpolitik gar nicht zu denken war. Erst 1951, nach der kleinen Revision des Besatzungsstatuts, wurde das Auswärtige Amt wieder eingerichtet, und der machtbewusste Adenauer übernahm dann zusätzlich auch noch dieses Amt. 1949 war aber tatsächlich neben der Position des Kanzlers nur eine weitere wirklich wesentlich – Erhards Ressort, das Wirtschaftsministerium. Und während über die Besetzung dieses Postens in Rhöndorf kaum mehr Worte verloren wurden – so eindeutig war die Sache –, konnte das Kanzleramt überhaupt erst nach längerer Debatte angesprochen werden. Konrad Adenauer, der natürlich wusste, dass sein Alter von 73 Jahren, objektiv betrachtet, eine gewisse Hürde darstellte, meinte listig, er habe mit seinem Arzt, Prof. Martini, gesprochen, und der habe gesagt, dass er ein bis zwei Jahre das Amt bedenkenlos übernehmen könne. Das wirkte auf alle beruhigend und eröffnete den Jüngeren Perspektiven – dass es dann über 14 Jahre bis zum ersten Kanzlerwechsel dauern würde, konnte damals natürlich niemand ahnen, nicht einmal der Wundergreis von Rhöndorf selbst.

Erhard fasste das Ergebnis der Konferenz rückblickend kurz und prägnant zusammen: »Der Entscheidung für Konrad Adenauer als dem kommenden ersten Bundeskanzler ging in diesem Kreis nach einer lebhaften Diskussion, in der sich volle Übereinstimmung zwischen Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß und mir ergab, die Ablehnung einer Koalition mit der SPD voraus, ebenso die Zustimmung zum Zusammengehen mit den Freien Demokraten und der Deutschen Partei. Die Freien Demokraten sollten mit Theodor Heuss den ersten Bundespräsidenten stellen.«110

Zwei Tage später, am 23. August 1949, ließ Adenauer das Ergebnis von Rhöndorf durch die einflussreiche nordrhein-westfälische Landtagsfraktion sanktionieren. Obwohl hier neben dem in Rhöndorf ausgebooteten Karl Arnold weitere Befürworter einer Großen Koalition saßen, erhielt Adenauer ein einstimmiges Vertrauensvotum! Auf einer anschließenden Pressekonferenz trat er bereits öffentlich als der designierte Bundeskanzler auf. Er hatte damit ein wichtiges Etappenziel, seine Nominierung zum Kanzlerkandidaten von CDU und CSU, fast erreicht. Lediglich das Votum der Bundestagsfraktion stand noch aus.

Aber war nicht schon alles gelaufen, als sich die Fraktion von CDU und CSU am 1. September konstituierte und mit der Regierungsbildung befasste? Gab es dort wirklich noch Spielraum für eine eigene Entschließung? Den Abgeordneten blieb doch nicht viel mehr, als allen bisher getroffenen Entscheidungen zuzustimmen, zumal Adenauer, der zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde, bereits vor dieser konstituierenden Sitzung mehrfach mit Franz Blücher von der FDP und einmal mit Heinrich Hellwege von der DP gesprochen, quasi »Ein-Mann-Koalitionsverhandlungen« geführt und damit das Votum der Fraktion noch zusätzlich präjudiziert hatte. Es bleibt eines der erstaunlichsten und spannendsten Kapitel deutscher Regierungsbildungen, wie sich der älteste aller möglichen Kandidaten – Kurt Schumacher war wie Ludwig Erhard fast zwanzig Jahre jünger, von den weiteren Unionsgranden ganz zu schweigen – zielstrebig immer weiter nach vorne schob und wie er schließlich ohne Kampf und Konkurrenten, ohne Widerstand aus den christdemokratischen Reihen sein Ziel erreichte: das Kanzleramt.111

Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt, mit dem knappsten aller denkbaren Ergebnisse: mit der Mehrheit von einer Stimme. Sein eigenes Votum, seine Stimmkarte hatte den Ausschlag zu seinen Gunsten gegeben – er hatte sich selbst gewählt, wie er später freimütig zugab.112 Über die Besetzung der Kabinettsposten kam es zu längeren Diskussionen und Auseinandersetzungen; auch der bereits am 12. September gewählte Bundespräsident Heuss wollte sich von Adenauer die Liste der Minister zur Begutachtung – und möglicherweise sogar zur Genehmigung – vorlegen lassen. Der Kanzler jedoch lehnte ab. Seine ihm durch das Grundgesetz zugesicherten Rechte wollte er sich nicht beschneiden lassen, von niemandem.113 Und er wusste, jetzt, am Anfang, wurden die Regeln des Grundgesetzes mit Leben gefüllt, damit auch die Kompetenzverteilung zwischen ihm und dem Bundespräsidenten festgelegt. Ein Mitspracherecht bei der Ministerauswahl lehnte er ebenso ab wie eine regelmäßige Teilnahme von Heuss an den Kabinettsitzungen, wohl aber akzeptierte er dessen Staatssekretär, damit man im Präsidialamt über die laufenden Regierungsgeschäfte immer im Bilde sein würde.

Einige Personen waren natürlich unumstritten. »Keine Diskussion gab es über Namen wie Fritz Schäffer von der CSU und natürlich Ludwig Erhard«, erinnerte sich Eugen Gerstenmaier später.114 Schäffer wurde Finanzminister, Erhard, wie abgesprochen, Bundeswirtschaftsminister.

Natürlich Ludwig Erhard. In seiner ersten Regierungserklärung, die der neue Bundeskanzler am 20. September 1949 in der umgebauten ehemaligen Pädagogischen Hochschule vortrug, trat Erhards Bedeutung für diese erste Regierungsbildung sehr deutlich hervor. Schon in den ersten Passagen sprach Adenauer die Frage der Kontinuität an. Woran sollte er anknüpfen? An das Dritte Reich? Unmöglich! An die letzten Reichskanzler vor Hitler, an Franz von Papen, Kurt von Schleicher? Etwa an seinen ehemaligen Partei-»Freund« aus der Zeit des Zentrums, an Heinrich Brüning, dem er selbst eine Rückkehr aus dem Exil in Harvard und damit alle Chancen auf ein Comeback vorsorglich verbaut hatte? Das schien nicht sinnvoll, der Graben zu tief, unüberbrückbar. Nein, Adenauer knüpfte an etwas viel Näherliegendes, an die jüngste Vergangenheit an – den Wirtschaftsrat in Frankfurt, an Erhards »Soziale Marktwirtschaft«. Er erklärte:

»Meine Wahl zum Bundeskanzler, meine Damen und Herren, und die Regierungsbildung sind eine logische Konsequenz der politischen Verhältnisse, wie sie sich in der Bizone infolge der Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates herausgebildet hatten. Die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates, die Frage ›Soziale Marktwirtschaft‹ oder ›Planwirtschaft‹ hat so stark unsere ganzen Verhältnisse beherrscht, dass eine Abkehr von dem Programm der Mehrheit des Frankfurter Wirtschaftsrats unmöglich war. Die Frage: ›Planwirtschaft‹ oder ›Soziale Marktwirtschaft‹ hat im Wahlkampf eine überragende Rolle gespielt. Das deutsche Volk hat sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgesprochen. Eine Koalition zwischen den Parteien, die die Planwirtschaft verworfen, und denjenigen, die sie bejaht haben, würde dem Willen der Wähler geradezu entgegengerichtet sein …«115

Da sich der SPD-Vorstand noch zwei Wochen nach der Bundestagswahl auf die sogenannten Dürkheimer 16 Punkte festgelegt hatte und darin erneut für »Planung und Lenkung der Kredite und Rohstoffe«, für »Politische und wirtschaftliche Entmachtung des großen Eigentums und der Manager durch Sozialisierung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien« eingetreten war116, wirkte Adenauers Argumentation durchaus stichhaltig. Die Gegensätze zwischen Regierung und Opposition waren gerade auf dem Sektor der Wirtschaftspolitik so krass, so unüberwindlich, dass eine Einigung hier vorerst gänzlich ausgeschlossen blieb.

Nach dieser Rede, überhaupt nach den Ereignissen vom Herbst 1949 gewann Ludwig Erhard – nicht zu Unrecht – immer stärker den Eindruck, er habe noch vor Gründung des westdeutschen Teilstaates und bevor Konrad Adenauer weithin sichtbar die nationale Szene dominierte, wichtige, ja grundlegende Schritte in eine richtige Richtung getan, dabei immer mehr Menschen überzeugen können und so die Geschicke Westdeutschlands, die wesentlichen Weichenstellungen, schließlich die Wahlentscheidung vom August mit all ihren Konsequenzen maßgeblich mit beeinflusst. Zweifelsohne setzte er darauf, dass der neue Bundeskanzler seine Leistung künftig honorieren, ihm ein väterlich-wohlgesinnter Freund sein werde. Erhard hoffte einmal mehr wie schon bei Vershofen, einen Partner gefunden zu haben, mit dem er als nahezu gleichwertiger, gleichrangiger Teilhaber würde erfolgreich zusammenarbeiten können. Alle diesbezüglichen Erwartungen sollten allerdings nach der Regierungsbildung rasch enttäuscht werden. Während für ihn die Verbindung mit dem Kanzler fast die Züge einer Liebesheirat besessen hatte, war sie für diesen allenfalls eine Vernunftehe gewesen. Die Zeit der reibungslosen Kooperation, der wirklichen oder scheinbaren Harmonie zwischen beiden währte nur kurz – von nun an sollten immer stärker interne Auseinandersetzungen, allmählich wachsende Spannungen das weitere Leben der beiden so unterschiedlichen Politiker prägen und ihre nach außen so ungemein erfolgreiche Zusammenarbeit bestimmen.

Ludwig Erhard war allerdings im Sommer und Herbst 1949 nicht allein mit dem aufreibenden Wahlkampf und der durchaus aufregenden Regierungsbildung beschäftigt gewesen, sondern hatte auch noch Zeit für den Versuch gefunden, einem bedrängten Freund zu helfen. Der Freund hieß Otto Zöllner und war einer der Geschäftsführer der 1879 gegründeten Rosenthal Porzellanmanufaktur im oberfränkischen Selb nahe der tschechischen Grenze. 1934/35 wurden der alte jüdische Gründer Philipp Rosenthal, seine 35 Jahre jüngere arische zweite Ehefrau Maria und ihr Sohn – der ebenfalls Philip hieß, den sie in die Ehe mitbrachte und der von einem jüdischen Vater abstammte – in einem schmutzigen Arisierungsprozess, bei dem auch mit dem Einzug der Pässe durch die Gestapo operiert worden war, um ihre Firmenanteile gebracht und aus der Firmenleitung gedrängt.117 Adalbert Zöllner wurde allerdings 1936 vom Bayreuther Gauleiter Fritz Wächtler »wegen politischer Unzuverlässigkeit und angeblicher halbarischer Eigenschaften als Vorstand der Rosenthalfabrik entlassen«, während sein Bruder Otto zum Vorstand und technischen Direktor aufstieg.118

Der hochbetagte Philipp starb darüber, der junge Philip ging nach England und war im Foreign Office in der Propagandaabteilung tätig, die Mutter zog nach Frankreich und heiratete einen Comte de Beurges, mit dem sie während der Vichy-Regierung zeitweilig versteckt an der Côte d’Azur lebte, wo der Graf 1945 starb. Nach dem Krieg strengte sie zusammen mit ihrem Sohn, dem jungen Philip Rosenthal, ein Rückerstattungsverfahren gemäß Militärregierungsgesetz Nr. 59 an. Der Historiker Jürgen Lillteicher, ehemaliger Leiter des Willy Brandt-Hauses in Lübeck und seit 2018 Leiter des Alliierten Museums in Berlin, hat die ganze Entwicklung bis in die Nachkriegszeit in seiner Studie Raub, Recht, Restitution ausführlich nachgezeichnet, sodass hier eine kurze Skizze genügt. Die Rolle von Ludwig Erhard wird hier allerdings etwas intensiver und anders beleuchtet, als das Lillteicher getan hat, wir kommen darüber – mit Blick auf das Ende der Geschichte, das bei Lillteicher nicht aufscheint – auch zu einem etwas anderen und weniger abwertenden Urteil.119

Ludwig Erhard war, wie bereits deutlich geworden ist, der Porzellanindustrie seit seinen Nürnberger Institutszeiten und keineswegs allein seit Elsass-Lothringen eng verbunden. Sie war für ihn eine der Schlüsselindustrien, denn gutes Geschirr mit schönem Design gehörte für ihn zur bürgerlichen Lebensqualität eines jeden Konsumenten. Zu Beginn des Krieges hatte er im Auftrag der deutschen Porzellanhersteller mehrere Berichte und Gutachten über den Zustand und die Marktchancen dieser Branche angefertigt. Nur ein Hersteller hatte sich anfangs geweigert, ihn zu beauftragen – die Rosenthal Porzellanwerke. Sie wurden von ihren Kollegen überstimmt. Nachdem seine Studien vorlagen, erhielt er im März 1941 ein Schreiben, worin stand: »Wir haben inzwischen Ihre Berichte gelesen. Diese sind mit einer außerordentlichen Klarheit abgefaßt und geben uns wertvollstes Material für die Führung unserer Betriebe. Wir möchten Ihnen bei dieser Gelegenheit für die Arbeit unsere volle Anerkennung aussprechen; wir werden gern von den in den Berichten gegebenen Anregungen im weiten Umfang Gebrauch machen.« Am 13. März berichtet Erhard in einem Brief spürbar erfreut Vershofen von der positiven Stellungnahme des Rosenthal-Vorstands: »Nachdem der ursprüngliche Widerstand ja bekanntlich von dieser, der Rosenthal-Gruppe ausging, ist diese positive Einstellung doch mehr als beachtlich.«120

Das war der Beginn einer intensiveren Zusammenarbeit und vermutlich auch der einer persönlichen Freundschaft mit einem der wichtigsten Köpfe des Unternehmens, mit Otto Zöllner. An dem Arisierungsgeschehen waren entscheidend beteiligt Erich Köhler, der Präsident der Industrie- und Handelskammer für Oberfranken, zugleich SS-Hauptsturmführer – der uns schon im Ohlendorf-Kapitel begegnet ist –, dem 1935 wichtige Stimmrechte übertragen worden waren, sowie Dr. Karl Krämer von der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank, der dem verdrängten Rosenthal im Aufsichtsrat nachfolgte, sowie Adalbert und Otto Zöllner als neue Manager in der Geschäftsführung des Unternehmens. Vom Porzellangeschäft verstand vor allem Otto Zöllner etwas, ihm galt seine ganze Passion.

Nach dem Krieg musste Erich Köhler aus dem Unternehmen ausscheiden, seine NS-Belastung war zu groß. Die anderen drei bleiben an Bord und taktieren hinhaltend auf die Restitutionsbemühungen Philip Rosenthals. Das tut auch die Militärregierung, die im April 1947 die geforderte Einsetzung eines Treuhänders ablehnt. Daraufhin stellte Philip Rosenthal am 19. April 1947 bei der US-Militärregierung und dem zuständigen Landratsamt den Antrag auf Suspendierung der Vorstandsmitglieder Adalbert und Otto Zöllner sowie des Aufsichtsratsmitglieds Dr. Krämer. Jetzt schaltete sich die für Restitutionsfälle von der US-Militärregierung geschaffene »Porperty Control« ein und signalisierte ihre Bereitschaft, dem Antrag zu entsprechen. Damit wurde es eng für die »Arisierer«. Zöllner war in der CSU inzwischen gut vernetzt und Hanns_Seidel mehr als nur ein Parteifreund. Man nahm sich dementsprechend CSU-nahe Anwälte wie Dr. Otto Lenz und Dr. Jürgen Aretz, der die Kanzlei von Dr. Josef »Ochsensepp« Müller während dessen parteibedingter Abwesenheit leitete.

Außerdem erinnerte sich Zöllner an seinen alten Bekannten Ludwig Erhard und schloss mit diesem am 19. August 1947 einen Beratervertrag, der erhalten geblieben ist. Zunächst ging es dabei weniger um die juristischen Querelen als darum, den Produkten der Firma Rosenthal neue Absatzmärkte – die schon in den benachbarten, aber noch verschlossenen deutschen Zonen liegen konnten – zu erschließen. So lautete der 2. Absatz des kurzen Vertrages: »Die von der Gesellschaft beauftragten Herren, die mit der Außenhandelsstelle und den amerikanischen Dienststellen in München zu tun haben, werden von Herrn Dr. Erhard hierbei unterstützt.«121 Der Vertrag war mit 3000 Reichsmark pro Quartal dotiert. Erhard hatte zu diesem Zeitpunkt keine nennenswerte Position inne und war über die Einnahmen zweifellos froh, obwohl das Geld wenig Wert hatte. Noch froher war er, als diese Summe nach der Währungsreform 1:1 umgestellt und von der Rosenthal AG weiter bezahlt wurde. Jetzt war es eine mehr als großzügige Vergütung. Sie fiel zusammen mit seinem überraschenden Aufstieg in eine ökonomische Schlüsselposition in Frankfurt.

Tatsächlich hat sich Erhard in seiner Zeit als Wirtschaftsdirektor auch mit Beratungsaufgaben beschäftigt. Die Übersendung von Aufstellungen über schwebende Handelsverträge und damit Handelshemmnisse und der Austausch mit Verantwortlichen der Firma (hier: Dr. Warnke und Dr. Spieß) sind im Frühjahr 1949 belegt. Nachdem Ende Mai ein letzter Interventionsversuch von Hanns Seidel (CSU) bei Jacob Fullmer, dem Economic Adviser von OMGUS Bayern, ohne Erfolg geblieben war und Property Control dem Antrag Philip Rosenthals stattgibt, Zöllner und seine Kollegen also aus dem Unternehmen entfernt und mit einem Tätigkeitsverbot belegt, muss Ludwig Erhard ein entsprechender Hilferuf ereilt haben.

Erst jetzt schaltete er sich in das Verfahren ein. Er tat dies, ohne Zöllner darüber vorab zu informieren. Unter dem Datum vom 20. Juni 1949, also exakt ein Jahr nach dem von ihm bewirkten marktwirtschaftlichen Urknall, diktierte er seiner Sekretärin Ella Muhr zwei Briefe in dieser Sache, die in Englisch mit deutscher Übersetzung seine Behörde verließen. Der eine ging an S. L. Hertsch bei der Property Division in Wiesbaden. Darin stand unter anderem:

»Dieses Tätigkeitsverbot kann in der Öffentlichkeit naturgemäß nur als Druck auf ein schwebendes Verfahren empfunden werden, umso mehr alle in Frage kommenden Herren der Rosenthal AG ihre Tätigkeit mit Genehmigung der Militärregierung ausgeübt haben. Diese Maßnahme stellt zweifellos eine schwere wirtschaftliche Schädigung des Unternehmens dar, vor allem durch die Ausschaltung des Vorstandsmitglieds Otto Zöllner, dem die technische Leitung der Produktion in allen Betrieben oblag. Dies wiegt umso schwerer, als der Restvorstand jetzt nur noch aus Kaufleuten besteht und der nunmehr eingesetzte Treuhänder in der Porzellanbranche weder über kaufmännische noch technische Kenntnisse verfügt.

Als der für das Schicksal der deutschen Wirtschaft verantwortliche Direktor erachte ich es als meine Pflicht, gegen dieses Verfahren schwere Bedenken geltend zu machen … Es kommt hinzu, daß ich durch viele Jahre, wenn auch nicht um die strittige Zeit (1934/35, D. K.) die Rosenthal Porzellan AG beriet und die diskriminierten Herren persönlich sehr gut kenne. Ich weiß aus vielen Besprechungen, daß seitens dieser Herren der ehrliche und ernste Wille besteht, zu einem der Sachlage gerecht werdenden Vergleich zu kommen …

Aufsichtsrat und Vorstand der Rosenthal AG haben ihre gesetzlichen Pflichten, insbesondere auch gegenüber den Aktionären zu erfüllen und es geht deshalb nicht an, sie abzuberufen, wenn sie in Wahrung dieser Interessen nicht bereit sind, noch ungeprüften Forderungen der Rosenthal-Erben stattzugeben. Es bedarf meinerseits keiner Versicherung, daß es nicht meine Absicht ist, in dem schwebenden Verfahren Partei zu ergreifen, aber es ist meine Pflicht wegen des zu erwartenden volkswirtschaftlichen Schadens … eine gerechte, objektive Prüfung und eine darauf basierende Lösung sicherzustellen.«122

Natürlich war das trotz aller gegenteiligen Behauptungen auch eine massive Intervention in ein schwebendes Verfahren. Hier äußerte sich ja immerhin die deutsche Wirtschaftsschlüsselfigur jener Zeit. Das Lob für Zöllner war ernst gemeint, auch die Sorge über mögliche Produktionsausfälle. Geschirr war immer noch absolute Mangelware, und Erhard hielt daher jede Störung der Produktion für fatal. Restitutionsverfahren liefen selten so ab wie bei Robert Pferdmenges, der das Bankhaus Oppenheim bei der erzwungenen Arisierung übernommen, sich allerdings auch per Handschlag zur Rückgabe verpflichtet hatte, wenn der braune Spuk vorbei sein würde – und natürlich Wort hielt. Meist waren diese Verfahren wie im Falle Rosenthal sehr streitbehaftet, von Anwürfen begleitet, und die Suche nach Lösungen kompliziert. Schon bei Erhard taucht das Wort »Vergleich« auf, worauf es am Ende auch hinauslaufen würde, denn Philip Rosenthal war jung und als Porzellanfabrikant zu unerfahren, um das ganze Unternehmen führen zu können, wenn er es denn zurückerhalten würde. Aber so weit sind wir noch nicht. Ludwig Erhard verschickte unter dem Briefkopf des Direktors der Verwaltung für Wirtschaft noch einen zweiten Brief samt einem Doppel des ersten (um diesen abzusichern) an Lawrence Wilkinson, den Economic Adviser von OMGUS Germany in Berlin, mit dem er noch am Vorabend zu Abend gegessen hatte. Darin schrieb er: »Ich will nicht mehr … als eine objektive Klarstellung erreichen und möchte es vor allen Dingen vermeiden, dass durch derartige Maßnahmen, wie sie die Erben Rosenthal über die Property Control eingeleitet haben, der Zustand der Rechtsunsicherheit innerhalb der deutschen Wirtschaft noch länger anhält oder verstärkt wird. Sie wissen sehr wohl, daß diese Erscheinungen die Rückkehr zu einem demokratischen Leben in Deutschland außerordentlich erschwert haben …123

Lillteicher kommentiert genau diese Stelle wie folgt: »Abgesehen von den eigenen materiellen Interessen Erhards zeigt seine Parteinahme für die ›Ariseure‹ auch noch eine neue Grundhaltung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in den frühen fünfziger Jahren. Obwohl erst fünf Jahre seit Kriegsende vergangen waren, wurden die wirtschaftspolitischen Ziele Westdeutschlands gegenüber der Rückgabe ›arisierten‹ Eigentums als vorrangig eingestuft.«124 Das ist eine richtige Beobachtung. Der Wunsch nach einem »Schlussstrich« begann sich bereits fünf Jahre nach Kriegsende zu verbreiten.

Wilkinson nahm sich tatsächlich der Sache an. Erhard hatte sie also wirklich auf eine höhere Ebene gehoben. Allerdings hatten die Bevollmächtigten der Rosenthal-Erben, die seit der Absetzung des alten Vorstands Zugang zu den Firmenunterlagen hatten, Erhards Beratervertrag schon entdeckt, und sie setzten darüber die Militärregierung in Kenntnis, um ihm eine persönliche Motivation nachzuweisen und seine Integrität zu unterminieren. Möglicherweise wusste Wilkinson schon davon, als er Erhard bereits am 8. Juli 1949 antwortet und insgesamt eine Abfuhr erteilt: »Nachdem ich die Sache überprüft habe, kann ich sehr wohl Ihr Interesse verstehen, aber unter den Umständen glaube ich zum Einschreiten nicht berechtigt zu sein. Ihr Hinweis in Bezug auf die Notwendigkeit, die Erzeugung auf einem hohen Stand zu halten, ist richtig. Ich freue mich indessen sagen zu können, daß ich Grund habe zu glauben, daß der Treuhänder bis zum endgültigen Ausgang der Sache alles Mögliche tun wird, um den hohen Standard des Rosenthalschen Unternehmens aufrechtzuerhalten.«125

Das war eine klare, aber in der Diktion nicht unfreundliche Abfuhr. Zöllner hatte derlei offenbar schon erwartet, denn er hatte Anfang Juli – nachdem ihm Erhard vermutlich in Fürth, wo sie sich gelegentlich trafen, von seinen Vorstößen erzählt hatte – geschrieben, er sei »nicht sehr optimistisch, was die amerikanische Seite anlangt«, sodass »wir unter allen Umständen im Verwaltungsgerichtsverfahren eine Wiederherstellung der alten Verhältnisse anstreben müssen«. Er hatte dann noch hinzugefügt: »Sollten Sie die Möglichkeit haben, auch durch Ihre Rechtsabteilung eine Prüfung der Angelegenheit vorzunehmen, so wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar.« Ob es dazu kam, wissen wir nicht. Der Austausch zwischen ihm und Zöllner blieb in den kommenden Wochen und Monaten aber eng, und Erhard wurde über die Zurückweisung eines ersten Vergleichsangebotes unterrichtet. Weil die Sache nicht richtig vom Fleck kam, teilte er Zöllner am 3. November 1949, nunmehr schon als Wirtschaftsminister, mit: »Ich überlege mir, ob ich nicht doch einmal bei dem jetzigen wirtschaftlichen Berater von Hochkommissar John McCloy die Frage Rosenthal aufgreifen soll.«


Ein Werbeheft der Rosenthal-Porzellanwerke zeigt auf seinem Titelblatt das fröhlich-herzliche Einvernehmen zwischen Philip Rosenthal und dem Wirtschaftswunderminister.

Das Rosenthal-Problem beschäftigte ihn also weiter – und die Zahlungen aus dem Beratervertrag flossen auch noch Anfang 1950; eine – leicht verspätete – Zahlung ist für Februar 1950 auf seinem Konto bei der bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank verzeichnet. Dann entfallen die Bezüge allerdings, weil die Beraterfunktion mit der eines Bundesministers unvereinbar war. Der Rosenthal-Restitutionskonflikt wiederum endete im September 1950 tatsächlich mit einem Vergleich. Er blieb weit hinter den ursprünglichen Forderungen der Familie Rosenthal zurück. Sie erhielt eine Barentschädigung von 1 Million D-Mark – statt der geforderten 5 Millionen. Eine Rückerstattung der mittlerweile vollständig mit der AG verschmolzenen väterlichen GmbH gelang nur bedingt: Philip Rosenthal erhielt zusammen mit seiner Mutter Anteile zurück und trat in die Unternehmensleitung ein. Zugleich akzeptierte er die Beteiligung der Zöllner-Brüder und vor allem den erfahrenen und engagierten Otto Zöllner als Partner in der Geschäftsführung. Philip Rosenthal, dem 1952 die Leitung der hochwichtigen Designabteilung anvertraut wurde, trug Ludwig Erhard seine Intervention für seine Gegner übrigens nicht nach, sondern entwickelte ein freundschaftliches Verhältnis sowohl zu ihm wie auch zu Zöllner. Sechs Jahre später, am 26. Juni 1956, schrieb er aus dem oberfränkischen Selb an den »sehr verehrten Herrn Minister« in Bonn:

»Am Freitag, dem 29. Juni findet in unserem Stammwerk Selb die Gedenkfeier für unser am Donnerstag verstorbenes Vorstandsmitglied, Herrn Otto Zöllner statt … Wir verlieren mit Herrn Otto Zöllner einen Menschen, dessen Leben mit dem Geschick Rosenthals unverkennbar verknüpft ist und der mit seinem Können, seiner Energie und Unerschütterlichkeit unsere Werke durch Kriegs- und schwere Nachkriegszeiten hindurchgeführt hat.

Ich selbst habe in Otto Zöllner, der mir ja ursprünglich bei der Wiederaufnahme meiner Verbindung zu Rosenthal als ein Gegner gegenüberstand, im Laufe unserer gemeinsamen Arbeit einen wertvollen Berater und aufrichtigen Freund gefunden. Unser Vorstand und ich werden seine Erfahrungen, die Ausgewogenheit seiner Entschlüsse und seine Aufrichtigkeit von nun an schmerzlich vermissen. Darf ich Sie, sehr verehrter Herr Minister, anläßlich dieses einschneidenden Abschnitts in der Geschichte Rosenthals von ganzem Herzen bitten, uns auch in Zukunft Ihren Rat, Ihr Urteil und Ihre Freundschaft zu schenken, die Sie in vielen Fragen und Entscheidungen Herrn Zöllner stets entgegengebracht haben. Ich darf Ihnen heute bereits hierfür meinen und meiner Mitarbeiter aufrichtigen Dank sagen. Ihr sehr ergebener Philip Rosenthal«.

Dieser bislang unbekannte Brief aus dem Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung in Bonn taucht die gesamte Restitutionsauseinandersetzung in ein neues und deutlich milderes Licht. Weder Zöllner noch Erhard haben das Zeug zu dunklen, allein durch Eigeninteressen angetriebenen kapitalistischen und zugleich gegenüber dem vom Nationalsozialismus verursachten Leid gänzlich ignoranten Schurken in einem schmutzigen Streit über Rückgabe und Wiedergutmachung. Allerdings sind wirkliche Freundschaften zwischen Arisierern und Arisierten wie in unserem Fall unerhört selten. Ähnlich selten wie Freundschaften von Ludwig Erhard zu Sozialdemokraten. Philip Rosenthal, der 1958 zum Vorstandsvorsitzenden der Porzellan AG gewählt wurde, zog 1969 für die SPD in den Bundestag ein. Er sollte einer von wenigen Unternehmern mit fundierten ökonomischen Sachkenntnissen in ihren Reihen werden, sogar kurzzeitig unter Karl Schiller als Staatssekretär für Fragen der Vermögensbildung im Wirtschaftsministerium amtieren – und dennoch Ludwig Erhard zeitlebens freundschaftlich verbunden bleiben. Es war übrigens dieser Philip Rosenthal, der nach Erhards Rücktritt als Bundeskanzler entschied, seinen Beratervertrag zu reaktivieren und das Beraterhonorar wieder fließen zu lassen.

Kampf ums Kanzleramt

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