Читать книгу Kampf ums Kanzleramt - Daniel Koerfer - Страница 20

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Nicht ohne Grund verteidigte ihn Erhard mit Verve und Geschick. Sogar Ironie floss in die Zeilen ein. Tatsächlich hatte ja Adenauer selbst Westrick als Nachfolger für den Anfang 1951 verabschiedeten Eduard Schalfejew ausgesucht und Erhard im März dieses für den Wirtschaftsminister so kritischen Jahres seine Einstellung »empfohlen«.82 Ein Danaergeschenk, ein trojanisches Pferd – das sollte Westrick für Erhard sein. Durch seine Ernennung zum Staatssekretär hoffte Adenauer, sich besseren Einblick ins Wirtschaftsministerium verschaffen zu können. Betrachtete man Westricks Lebenslauf, so gab es Indizien, die für die Plausibilität dieser Hoffnung sprachen. Der 1894 in Münster geborene Westfale stand ursprünglich der katholischen Soziallehre nahe, hatte wie Karl Arnold oder Kurt Georg Kiesinger im Berlin der Zwanzigerjahre mit dem Theologen und Sozialreformer Carl Sonnenschein zusammengearbeitet und diesen verehrt. Anschließend war er ein erfolgreicher Manager geworden, nicht zuletzt von 1939 bis 1945 als Zentraltreuhänder der Vereinigte Industrie Unternehmen AG (VIAG), einem riesigen Staatskonzern, der unter anderem Aluminiumprodukte herstellte und dabei auch etwa 20 000 Zwangsarbeiter einsetzte.83 Dass er ein glühender Bewunderer der Marktwirtschaft war, durfte man kaum erwarten, gehörten doch die Anhänger der katholischen Soziallehre, an der Spitze ihr neuer Theoretiker, der Jesuitenpater Professor Oswald von Nell-Breuning, nach dem Zweiten Weltkrieg zu den schärfsten Kritikern des Wirtschaftsliberalismus. Sie nahmen an, er degradiere den Menschen zum hilflosen Objekt der mächtigen Wirtschaft, während andererseits die traditionellen Großkapitalisten jener Zeit, die Westrick ja auch kennengelernt hatte, auf Kartelle und Absprachen und nicht auf Wettbewerb setzten.

Jedenfalls würde der damalige Finanzdirektor in der Deutschen Kohlenbergbauleitung, so mochte der Kanzler spekulieren, die nötige Distanz zum Minister mitbringen und ihm selbst nicht nur detaillierte Informationen liefern, sondern das Wirtschaftsministerium auch organisatorisch auf Vordermann bringen. Daher gab sich Adenauer Ende 1950, nachdem zwei weitere mögliche Kandidaten, nämlich Friedrich Ernst und der ehemalige Staatssekretär im Reichswirtschafts- und Reichsfinanzministerium, Hans Schäffer, endgültig abgesagt hatten, in einem persönlichen Gespräch beträchtliche Mühe, Westrick für den Posten zu gewinnen.84 Dieser verwies auf seine große Familie, die sechs Kinder, seine Frau, die in Berlin als Ärztin arbeitete, sein hohes Alter, die fehlende Parteimitgliedschaft. Das alles spiele keine Rolle, wurde ihm erklärt. Westrick erbat sich drei Wochen Bedenkzeit. Aber bereits nach drei Tagen rief Globke erneut an und fragte nach. Da schlug Westrick das Angebot aus. Nun lud ihn Adenauer nochmals ins Palais Schaumburg ein und drängte abermals. Schließlich stimmte Westrick zögernd zu – für ein Jahr wollte er ins Wirtschaftsministerium gehen. Im Vertrag, den ihm Globke daraufhin rasch zur Unterschrift vorlegte, waren aber bereits zwei Jahre eingetragen worden. Dann werde man weitersehen, hieß es.85

Vermutlich machte Westrick in den ersten Gesprächen mit Adenauer sofort deutlich, dass er dem Wirtschaftsminister, hinter dessen Rücken ja verhandelt wurde, als loyaler Mitarbeiter zur Seite stehen und keinesfalls als Aufsichtsperson des Kanzlers fungieren wolle – wie es dieser ursprünglich vorgeschlagen hatte.86 Adenauer akzeptierte, und Erhard selbst gab seine durch die Konstellation bedingte – verständliche – Reserviertheit gegenüber dem ihm im Grunde aufgenötigten Staatssekretär, der im April 1951 sein Amt antrat, ziemlich rasch auf. Ja, die Zusammenarbeit zwischen Erhard und Westrick gestaltete sich nach kurzer Zeit schon so reibungslos, dass sich Adenauer bereits Ende 1951 entschloss – ohne Minister oder Staatssekretär vorher darüber zu informieren –, noch einen weiteren Mann seines Vertrauens ins Bundeswirtschaftsministerium zu entsenden: Josef Rust, bis dahin Ministerialrat im Kanzleramt, sollte zum Ministerialdirektor befördert und zum Leiter der Abteilung III im Wirtschaftsressort ernannt werden.87 So geschah es. Doch die Dinge wiederholten sich. Wie zuvor Westrick kooperierte auch Rust sehr rasch freundschaftlich mit dem Minister, war alles andere als ein »Aufpasser« des Bundeskanzlers, bis er 1955 als Staatssekretär ins neu errichtete Verteidigungsministerium wechselte, das gut eingespielte Team im Wirtschaftsressort verließ.

Zu diesem Team war im Herbst 1952 noch Alfred Müller-Armack gestoßen. Ludwig Erhard selbst hatte den Kölner Ordinarius für Wirtschaftswissenschaften gebeten, die Leitung der Abteilung I im Ministerium zu übernehmen, weil hier in den zuständigen Referaten Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik (Konjunkturpolitik, Außenwirtschaft, Investitionen, Verkehrspolitik etc.) aufgegriffen und behandelt wurden, es also auch um die theoretische Fundierung des wirtschaftlichen Kurses ging. Bezeichnenderweise hieß es in Bonn, Adenauer habe die Ernennung von Müller-Armack zum Leiter der Grundsatzabteilung mit einem Stoßseufzer und den Worten kommentiert: »Mein Jott, dat is ja schon wieder so’n Professor!«88

Da Staatssekretär Westrick wenig Neigung zeigte, sich auf dem Sektor der Wirtschaftstheorie hervorzutun, vielmehr sein Augenmerk auf die praktische Durchführung von Erhards Politik legte, stellte sich die Berufung von Müller-Armack rasch als glückliche Ergänzung heraus. Die Dreierkombination an der Spitze des Ressorts – der populäre Minister Erhard, der kontaktfreudige Organisator Westrick, der kluge Wirtschaftstheoretiker Müller-Armack – sollte sich denn auch von 1952 an über ein Jahrzehnt lang als geradezu ideal erweisen, selbst wenn gelegentlich Rivalitäten zwischen Westrick und Müller-Armack zum Vorschein kamen. Der Staatssekretär besaß hier leichte Feldvorteile, entwickelte er sich doch zur entscheidenden Vertrauensperson für Erhard, zu seiner wichtigsten Stütze im Ministerium, wie der Wirtschaftsminister in seinem Schreiben an Adenauer ganz richtig feststellte.89

Das enge Vertrauensverhältnis zwischen ihm und Erhard hatte Westrick auch bewogen, Ende 1955 ein neues Angebot des Kanzlers auszuschlagen und nicht als erster Botschafter der Bundesrepublik nach Moskau zu gehen, obwohl ihn der Posten reizte. Erhard hätte vermutlich diesen Wechsel nicht so sehr Westrick, wohl aber dem Bundeskanzler übelgenommen: Zuerst setzte Adenauer ihm einen Staatssekretär ins Haus, dann entwickelte sich – offenbar gegen seine Intentionen – eine reibungslose, harmonische Zusammenarbeit, und da lockte er den mittlerweile unentbehrlichen Westrick gleich wieder fort. Allein schon die Offerte empfand Erhard als Provokation, als Anschlag auf den Kern seines Ministeriums.90

Aber nicht allein Westrick oder Müller-Armack, alle seine bisherigen Mitarbeiter wollte Erhard vor Angriffen – und Lockungen – des Kanzlers schützen. Adenauer musste das doch eigentlich verstehen, hielt er ja selbst an den engsten Mitarbeitern, vor allem an seinem Staatssekretär Globke fest, obwohl diesem – worauf Erhard in seinem Brief anspielt – gerade im März 1956 einmal mehr sein umstrittener juristischer Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 vorgehalten worden war.91 Daraufhin hatte sich der Bundeskanzler, wie in früheren Fällen auch, vor seinen Staatssekretär gestellt und in einem Interview eine verteidigende Stellungnahme abgegeben.92 Mochten Adenauer wie Erhard tatsächlich in ähnlicher Weise ihrer persönlichen Umgebung gegenüber so etwas wie eine Fürsorgepflicht empfinden, so unterschieden sie sich in der Beurteilung des notwendigen Arbeitsklimas im Kabinett diametral, wie der Wirtschaftsminister in den letzten Passagen seiner Abrechnung mit dem Regierungsstil des Kanzlers am 11. April 1956 zum Ausdruck brachte:

»Wenn ich das Geschriebene überprüfe, mag vielleicht der Eindruck entstehen, als ob ich in einer selbstgefälligen Eitelkeit jedwede Kritik negieren … möchte. Das ist aber nun wirklich nicht der Fall. Ich wurde in diese mißliche Rolle nur deshalb gedrängt, weil ich viele Ihrer Aussetzungen als sachlich unberechtigt und in der Form verletzend empfinde. Es ist für mich immer wieder schmerzlich, feststellen zu müssen, daß so viel guter Wille, so viel treue Hingabe und menschliche Anständigkeit einen – wie ich es empfinde – so schlechten Lohn finden. Ich jedenfalls könnte, was mein Verhältnis zu meinen engsten Mitarbeitern anbelangt, niemals in einer so unpersönlichen Atmosphäre leben, wie sie zwischen Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihren Ministern besteht. Das wird mich nicht abhalten können, Ihnen auch weiterhin bis zur Selbstentäußerung treu zur Seite zu stehen, aber Sie mögen die menschliche Natur nicht überfordern. Ich beklage es aufrichtig, daß ich so ernste Worte aussprechen muß, aber gewiß will ich damit Ihre Sorgen, die ich wohl ermessen kann, nicht noch vergrößern. Scharen Sie vielmehr die Männer um sich, auf die Sie sich verlassen können, und die draußen im Lande noch Geltung haben – dann werden wir gemeinsam über alle Widerstände obsiegen.«93

Ein versöhnlicher Schluss? Ja und nein. Erhard kritisierte den Kanzler massiv und warb zugleich um seine Gunst. Er drohte – man möge die »menschliche Natur nicht überfordern« – und lockte: gemeinsam werde man »obsiegen«. Dieses Wechselspiel mag für die Ambivalenz kennzeichnend sein, die Erhards innere Einstellung dem Kanzler gegenüber zunehmend beherrschte. Adenauer faszinierte ihn lange Zeit. Trotz seiner Strenge und Unnahbarkeit zog er ihn in seinen Bann. Erhard wünschte den exklusiven Kontakt, betonte deshalb kontinuierlich die Gemeinsamkeit – und wurde doch immer wieder durch des Kanzlers Menschenverachtung, sein taktisches Raffinement zurückgestoßen.

Adenauer wiederum empfand Erhards Brief als massiven Angriff auf seine Position als Kanzler, als Eingriff in seine originären Rechte. Die Antwort kam prompt. Bereits einen Tag nachdem er das Schreiben erhalten hatte, ging am 13. April 1956 seine Entgegnung hinaus. Wie immer in Konfliktfällen mit wichtigen Regierungs- und Parteimitgliedern setzte sich Adenauer schriftlich und detailliert mit den Argumenten seines Kontrahenten auseinander, ohne von seiner ursprünglichen Position auch nur ein Jota abzuweichen.94 Auch diesmal betonte er gleich zu Beginn, bei der in seinen beiden vorherigen Briefen »vertretenen Ansicht bleiben zu müssen«, und eröffnete damit seine umfangreichen – knapp neun Seiten (!) umfassenden – Belehrungen:

»In der Stellung des Bundeskanzlers und der Bundesminister spielen amtliche, verfassungsmäßige und persönliche Beziehungen miteinander eine große Rolle. Gerade weil ich mich Ihnen persönlich verbunden fühle und weil ich weiß, daß Sie mir gegenüber die selben Empfindungen hegen, habe ich geglaubt, es sei richtig, in voller Offenheit mit Ihnen zu sprechen. Aber, lieber Herr Erhard, nehmen Sie es mir nicht übel, Sie scheinen diese Offenheit nicht zu vertragen. Sie schlagen in Ihrem Antwortbrief zuweilen einen Ton an, den ich nicht mehr von Ihnen angeschlagen sehen möchte … Die wiederholten Vorwürfe, daß ich von der Wirtschaftspolitik nichts verstünde, daß ich ein wirklichkeitsfremdes Ideal bejahe, daß ›viele meiner Aussetzungen als sachlich unberechtigt und in der Form verletzend seien und daß ich die menschliche Natur nicht überfordern möge‹, gehen doch wirklich sehr weit.

Ich möchte jetzt einige sachliche Bemerkungen machen und folge dabei Ihrem Schreiben. Sie halten mir vor, daß ich neben oder besser über den Wirtschaftsminister hinweg in der Person des Herrn Dr. Ernst mir seinerzeit einen wirtschaftlichen Sonderberater in mein Haus genommen habe. Diese Bemerkung veranlaßt mich, die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber den Bundesministern nach dem Grundgesetz klarzulegen. Der Bundeskanzler gibt die Richtlinien der Politik an, das gilt für die gesamte Politik, auch für die Wirtschaftspolitik. Aber der Bundeskanzler hat nach unserem Grundgesetz über die Bestimmungen der früheren Reichsverfassung hinaus eine viel verantwortlichere Stellung. Er wird vom Parlament gewählt, er kann nicht vom Bundespräsidenten entlassen werden, er allein ist dem Parlament verantwortlich für jeden einzelnen Bundesminister. Er kann diese Verantwortung nur dann übernehmen, wenn er die hauptsächlichen Fragen, die in den einzelnen Bundesministerien sachlich bearbeitet werden, auch soweit kennen lernt, daß er aus eigener Verantwortung sich ein Urteil bilden kann. Sie sprechen immer davon, daß Sie als Bundesminister es ablehnen würden, wenn Ihnen irgendjemand in Ihre Personalpolitik oder Ihre sachlichen Angelegenheiten hineinrede. Nun, ich muß Ihnen sagen, daß ich es ablehnen würde, Bundeskanzler zu sein, wenn ich ohne eigene Prüfung einfach das gutheißen und parlamentarisch zu verantworten hätte, was ein Bundesminister tut … Wenn der Bundeskanzler sich eine eigene Meinung bilden muß, muß er einen Apparat haben. Es bleibt daher gar nichts anderes übrig, als im Bundeskanzleramt auch Herren anzustellen, die sich vorzugsweise mit den wichtigsten Maßnahmen der Ministerien beschäftigen und mich darüber informieren können. Sie sind der erste Bundesminister, der sich dagegen auflehnt, wie der Fall Ernst zeigt …«95

Eine für das Selbstverständnis des Kanzlers bezeichnende Passage, die außerdem die Arbeitsweise des Kanzleramtes erhellt. Im Verhältnis des Bundeskanzlers zu seinen Ministern spielten »amtliche, verfassungsmäßige und persönliche Beziehungen« eine Rolle, schreibt Adenauer. Und er behält die Reihenfolge im Auge. Der persönliche Aspekt rangierte am Schluss – wohingegen er nach Erhards Meinung ganz vorne stehen müsste. Setzte man aber die Schwerpunkte wie Adenauer, konnte es für einen Minister keine Zurückstufung bedeuten, wenn der Bundeskanzler sich durch Personen seiner Wahl gesondert informieren ließ. Mit dem Hinweis auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers – der Erhard gegenüber auffallend oft erfolgte, vermutlich, weil es Adenauer mangels eigener Sachkenntnis schwerfiel, sich in der Wirtschaftspolitik mit Fachargumenten durchzusetzen96 – suchte der Kanzler dies seinem Wirtschaftsminister verständlich zu machen.

Tatsächlich wurden alle Ministerien ähnlich behandelt, stellte das Kanzleramt ein verkleinertes Abbild des Kabinetts dar. Die Angelegenheiten der einzelnen Ressorts wurden in den sogenannten »Spiegelreferaten« des Kanzleramtes von besonders kenntnisreichen, sachkundigen Beamten bearbeitet und überprüft. Staatssekretär Globke verstand es dabei meisterhaft, durch die Entsendung von Fachleuten aus dem Amt in die Ministerien und umgekehrt durch die »Einladung« von Ministerialbeamten ins Bundeskanzleramt eine besonders enge Verzahnung zu erreichen, den Informationsgrad zu erhöhen und letztlich natürlich auch den Einfluss des Kanzleramtes und des Kanzlers auf die Ministerialbürokratien sicherzustellen. Auf diesem Wege hatte sich das Kanzleramt trotz seiner vergleichsweise geringen Personalausstattung sehr rasch zur eigentlichen Schaltzentrale, zum Machtzentrum der Bundesrepublik entwickeln können.97 Aber nicht allein gegen diese Arbeitsweise, gegen die institutionalisierten Berater hatte Erhard ja Einwände geltend gemacht, sondern auch gegen die zahlreichen Souffleure des Kanzlers, die bisweilen im Halbdunkel des Lobbyismus agierten. Adenauer wies diese Beschwerde ebenfalls in drastischen Worten zurück:

»Ich muß doch entschieden dagegen Verwahrung einlegen, daß Sie erklären, daß ›Funktionäre – oder es mögen auch Präsidenten sein – zwar organisatorisch, aber bestimmt nicht moralisch berufen seien, für die wirtschaftenden Menschen als Einzelpersönlichkeiten zu sprechen‹. Sie meinen augenscheinlich damit unter den Funktionären Herrn Abgeordneten Hellwig, ferner die Herren Beyer und Stein und endlich unter den Präsidenten Herrn Berg und Herrn Pferdmenges als Präsident der privaten Banken. Es ist mir unverständlich, woher Sie sich das Recht zulegen zu behaupten, daß diese Herren nicht moralisch berufen seien, als Einzelpersönlichkeiten für die wirtschaftenden Menschen zu ›sprechen‹. Sind Sie sich überhaupt darüber klar, welch schwere Beleidigung Sie damit aussprechen? Wenn Sie dann noch von mir verlangen, daß meine Besprechungen mit solchen Herren ›unter Ihrer sachverständigen Kontrolle‹ stehen sollten, so ist das doch eine Beeinträchtigung meiner freien Entschließungen, die mir nicht paßt. Ich lasse mir keine Vorschriften machen darüber, mit wem ich sprechen kann, weil mir niemand die Verantwortung abnehmen kann, auch nicht der beste Bundesminister. Ich glaube auch, daß Sie sich irren, wenn Sie der Auffassung sind, daß der Einfluß und das Ansehen des Wirtschaftsministers noch so groß sei, wie vor einigen Jahren. Das ist eben nicht der Fall …«98

Im Klartext hieß das, dass der Kanzler gar nicht daran dachte, in Zukunft auf Ratschläge zu verzichten, die ihm etwa Paul Beyer, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Industrie- und Handelstages, oder Fritz Hellwig, Mitbegründer und langjähriger Leiter des gemeinsam von BDI und BDA getragenen Deutschen Industrie-Instituts, aber auch Gustav Stein, seit 1949 stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BDI, Fritz Berg und Robert Pferdmenges geben konnten. Und der Ton, in welchem Erhard dies mitgeteilt wurde, war keineswegs versöhnlich. Adenauer, gekränkt, griff nun, selbst nicht ohne Bosheit, zum Mittel der Kränkung: Das Wirtschaftsministerium habe an Ansehen eingebüßt, stellte er wohl nicht zufällig im unmittelbaren Anschluss an diese Passage fest. Weitere Nadelstiche folgten, etwa als der Kanzler seinen Vorwurf wiederholte, Erhard müsse häufiger im Ministerium präsent sein: »Wenn in den letzten Monaten vor der Wahl ein Minister sich der Öffentlichkeit in stärkerem Maße widmet, so halte ich das für richtig. Aber ich bin nach wie vor der Auffassung, daß Sie nicht so oft abwesend sein dürfen. Daß Organisationen Ihre Anwesenheit wünschen, ist ganz klar, weil Sie ein hervorragender Redner sind. Aber schließlich ist das Ministerium die Hauptsache. Ihre Meinung, daß das Auswärtige Amt über alle Ihre Reisen sehr glücklich gewesen sei, ist – ich muß Ihnen das doch sagen – irrig …«99

Abschließend bot der Kanzler – wie so oft am Ende langer, schriftlich ausgetragener Kontroversen – seinem Minister an, in Bonn nach ihrer beider Rückkehr in einem persönlich-sachlichen Gespräch eine endgültige Klärung zu versuchen. Falls diese Aussprache tatsächlich stattfand, so war ihr allenfalls ein kurzfristiger Erfolg beschieden. Im Mai 1956 verschärften sich die Spannungen nämlich so sehr, dass sie sich nicht mehr länger verbergen ließen. Der Streit wurde jetzt teilweise in der Öffentlichkeit ausgetragen.

Der Funke, der die Zündschnur in Brand setzte, welche wiederum zur Explosion führte, entstand wohl am 7. Mai. An diesem Tag trafen sich die Minister Erhard und Schäffer mit Wilhelm Vocke, dem Präsidenten im Direktorium der Bank deutscher Länder (ab 1957: Deutsche Bundesbank) in Bonn. Zwischen Schäffer und Erhard war die Zusammenarbeit immer besser geworden. Die beiden hatten sich »zusammengerauft«, duzten sich sogar in guten Tagen; und mit Vocke verband den Wirtschaftsminister schon seit der Korea-Krise ein besonderes Vertrauensverhältnis. Rasch kam daher eine Einigung zustande: Es gelte, die erhitzte Konjunktur weiter einzudämmen, die Politik des knappen Geldes beizubehalten. Erhard und Schäffer gaben der Presse darüber hinaus bekannt, sie beabsichtigten, gemeinsam noch vor Ablauf des Monats eine Kabinettsvorlage einzubringen und konkrete Maßnahmen vorzuschlagen, wie man den Bundeshaushalt beschränken, den Bauboom bremsen könne, den der Bund durch seine zahlreichen Aufträge mit ausgelöst hatte. Der Bundeswirtschaftsminister unterstrich außerdem die Notwendigkeit einer linearen Zollsenkung von 30 Prozent für alle gewerblichen und landwirtschaftlichen Güter, um den Wettbewerbsdruck auf dem Binnenmarkt zu erhöhen. Schließlich wurde in einem Kommuniqué verkündet, dass man sich zu dritt in regelmäßigen Abständen weiter zu treffen beabsichtige.100

Nach der Begegnung vom 7. Mai vermuteten daher manche Journalisten, die Bundesregierung habe hier ein neues Gremium für eine intensive Zusammenarbeit mit der Bank deutscher Länder eingerichtet, und meldeten, es habe erstmals ein »Konjunkturrat« getagt. Das aber rief den Kanzler auf den Plan. Er war von der Zusammenkunft überrascht und durch diese Mitteilungen irritiert worden. Sollte vielleicht hinter seinem Rücken oder besser über seinen Kopf hinweg Wirtschaftspolitik gemacht werden? Ohnehin argwöhnisch, musste es ihn stören, wenn zwei Minister hier ohne Auftrag aus dem Palais Schaumburg eigenmächtig Pläne schmiedeten und dazu den institutionell unabhängigen Wilhelm Vocke ins Vertrauen zogen. Denn einen Konjunkturrat hatte er niemals eingesetzt.

Am Mittwoch, dem 16. Mai, erklärte der Kanzler vor der Presse: »Es gibt keinen Konjunkturrat und wird auch keinen Konjunkturrat geben.«101 Das Zusammenwirken von Vocke, Schäffer und Erhard stelle keine dauerhafte Einrichtung dar, die ganze Konjunktur würde ohnehin »nur zerredet«, lautlose Mittel der Konjunkturpolitik seien viel wichtiger.102

Auf diese mochte sich die Bank deutscher Länder nun aber nicht mehr beschränken. Im Gegenteil. Drei Tage nach Adenauers Verdikt, am 19. Mai, wurde der Diskontsatz von neuem um einen Prozentpunkt heraufgesetzt und erreichte mit 5,5 Prozent seinen Höchststand bis 1969. Über diesen aufsehenerregenden Schritt103 war der Kanzler ebenfalls nicht im Voraus informiert worden – und so konnte sich sein Eindruck verstärken, als ob Schäffer, Erhard und Vocke sich gegen ihn zusammengetan hätten und an eine Abstimmung ihrer konjunkturpolitischen Maßnahmen mit ihm überhaupt nicht denken würden.104 Suchten sie nicht geradezu die Konfrontation? Wenn man so sehr in Machtkategorien – eben hierarchisch – dachte wie Adenauer in Bezug auf seine Minister, dann wirkten die Indizien tatsächlich alarmierend. Erhard und Schäffer hatten an der entscheidenden Sitzung des Zentralbankrates am 18. Mai 1956 in Frankfurt teilgenommen, in welcher über die Diskonterhöhung entschieden worden war. Sie wussten also genau Bescheid. Und nach der Sitzung hatte Erhard die unbedingte Notwendigkeit einer umfangreichen Zollsenkung erneut und energisch hervorgehoben.105 Damit hielt der Wirtschaftsminister an seinem Vorschlag fest, obwohl er die gegenteilige Meinung des Kanzlers zur Kenntnis genommen haben musste. Erhard kannte die Äußerungen Adenauers vor den Journalisten über die Zollsenkungspläne nicht nur, er war empört über sie. Bedingt durch die Pfingstfeiertage nahm er allerdings erst mit Verspätung, am Dienstag, dem 22. Mai, schriftlich dazu Stellung:

»Sehr verehrter Herr Bundeskanzler,

als Sie mich am Donnerstag, d. 17. Mai, um 16 Uhr 15 zu einer Besprechung baten, hatte ich wohl in großen Zügen Kenntnis von Ihrer Pressekonferenz und glaubte, es handele sich dabei lediglich um die Beseitigung eines Mißverständnisses über den Charakter jenes vermeintlichen Konjunkturrates. In der Zwischenzeit aber ist die deutsche Presse geradezu erfüllt von dieser Auseinandersetzung, und allein die Schlagzeilen beweisen deutlich genug, daß Ihre Ausführungen vor allem als Angriff gegen mich bzw. eine Absage an meine Wirtschaftspolitik gewertet wurden. Nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern vor allem ich selbst empfinde manche Ihrer Formulierungen als im höchsten Maße kränkend. Das gilt z.B. hinsichtlich meines Vorschlages bezüglich der Zollsenkung, den Sie laut Presse mit der Bemerkung: ›Wir sind doch nicht verrückt‹ kommentieren. Zu den Ihnen von Journalisten vorgetragenen Klagen über die Erhöhung von Lebensmittelpreisen bemerkten Sie: ›Fragen Sie mal den Herrn Erhard, ob das auch zur Sozialen Marktwirtschaft gehöre‹!

Die Unsicherheit in der Öffentlichkeit muß umso größer sein, als der zu gleicher Zeit veröffentlichte Bericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie meine Bemühungen, die Wirtschaft zum Maßhalten zu bewegen, als ›Gesundbeterei‹ glossiert und der BDI ausführt, daß ›der Vorrang der Produktion gegen die Vorstellung von der Stabilität der Währung als dem ersten ökonomischen und sozialen Wert durchgesetzt werden müsse.‹

Dieses Zerreden eines klaren konjunkturpolitischen Programms, das insbesondere durch das Zusammenwirken von Wirtschaftsministerium, Finanzministerium und Bank deutscher Länder erarbeitet wurde, hat in der Öffentlichkeit und in der Presse den völlig falschen Eindruck erweckt, als ob die Regierung der wirtschaftlichen Entwicklung tatenlos zusehe und sie treiben ließe. Und nicht zuletzt hat eben gerade Ihr Presse-Interview die irrige Auffassung noch genährt und, wie die Kommentare beweisen, das Ansehen der für die Stabilität von Wirtschaft und Währung in erster Linie verantwortlichen Minister geschmälert …

Zu der Sache selbst darf ich im Kabinett noch mündlich Stellung nehmen, aber ich kann nicht unterlassen, Ihnen neben meiner tiefen Enttäuschung meine womöglich noch größere Sorge zum Ausdruck zu bringen, denn das, was sich in der letzten Woche ereignet hat, ist meiner Überzeugung nach geeignet, die Staatsautorität zu untergraben. Jeder Bundesminister, der die Verantwortung aus seinem Amt nicht nur im Formalen, sondern auch im Materiellen und im Geistig-Sittlichen erkennt, wird sich bei dieser Entwicklung die Frage stellen müssen, ob und wie lange er sie zu tragen bereit sein kann. Das jedenfalls ist die Frage, die mich seit Tagen zutiefst bewegt. Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung, Ihr sehr ergebener Ludwig Erhard«.106

Man spürt in diesen Zeilen die Erbitterung des Wirtschaftsministers. Einmal mehr fühlte er sich vom Kanzler im Stich gelassen. Wo ihn dieser gegenüber Kritik aus den Reihen der Journalisten und des BDI hätte in Schutz nehmen sollen, stellte er sich selbst gegen ihn. Für Ludwig Erhard, persönlich wenig misstrauisch und immer bereit, im Sinne von Jean-Jacques Rousseau an den prinzipiell guten Charakter des Menschen zu glauben107, war dies schwer verständlich, ja eigentlich vollkommen unbegreiflich. Er dachte eben überhaupt nicht in Machtkategorien. Ihm lag es doch völlig fern, den Kanzler zu hintergehen – wie konnte dieser bloß sein Verhalten, die Absprache mit Schäffer und Vocke, als bedrohlich ansehen? Außerdem hatte Adenauer ja selbst im Schreiben vom 21. März 1956 die mangelnde Zusammenarbeit zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und der Notenbank beklagt. Nun hatte man sich besser aufeinander abgestimmt, galt es doch eine für die Bundesrepublik gefährliche wirtschaftliche Entwicklung, die Überhitzung der Konjunktur, zu stoppen. Davon würde schließlich auch der Kanzler profitieren, wenn er die für die Stabilität von Wirtschaft und Währung Verantwortlichen vertrauensvoll gewähren ließ.

Aber Adenauer sah offenbar diese wohlmeinende Absicht nicht. Er mischte sich stattdessen massiv in Dinge ein, von denen er nach Erhards Auffassung wenig verstand, und stellte damit die Grundlage ihrer Zusammenarbeit verstärkt infrage – bestand diese doch aus so etwas wie einer Arbeitsteilung, einer Respektierung der Sphäre des jeweils anderen zumindest nach außen hin. So wenig Erhard dem Kanzler in der Außenpolitik dreinredete, so wenig sollte sich der Kanzler öffentlich sichtbar in die Wirtschaftspolitik einschalten. In Erhards Vorstellung mag es diesbezüglich sogar so etwas wie ein gentlemen’s agreement gegeben haben, über welches sich der Kanzler in diesen Wochen mehr und mehr hinwegzusetzen begann.108 Damit untergrub Adenauer aber nicht allein das Ansehen seines Ministers und die Staatsautorität, sondern auch die Basis für die Fortsetzung ihres gemeinsamen Wirkens, wie ihm Erhard durch die neuerliche, kaum verhüllte Rücktrittsdrohung am Ende seines Briefes zu verdeutlichen suchte.

Adenauer reagierte sofort. Noch am selben Tag verließ sein Antwortschreiben das Kanzleramt. Er schrieb ebenfalls unter dem Datum des 22. Mai 1956:

»Sehr geehrter Herr Erhard!

Ihr Brief vom 22. Mai ist mir zu weitaus größten Teilen völlig unverständlich. Ich stelle folgendes fest:

1.) Ich habe überhaupt keine Pressekonferenz gehabt. Ich mußte nach der Sitzung des Bundesparteiausschusses verspätet einer Einladung zu einem Presse-Tee der Allgemeinen Pressekonferenz folgen. Als ich dort war, stürzten sich zu meinem Schrecken die Journalisten auf mich mit Fragen nach dem Konjunktur-Rat. Daß solche Fragen überhaupt an mich gestellt werden konnten, ist wohl aus dem Verhalten Ihres Ministeriums in der ganzen Angelegenheit zu erklären.

2.) Wer Ihnen gesagt hat, daß meine Ausführungen als ein Angriff gegen Sie bzw. eine Absage an Ihre Wirtschaftspolitik gewertet worden sind, sagt die Unwahrheit.

3.) Sagen Sie mir, welche meiner Formulierungen Sie als in höchstem Maße kränkend empfinden. In der Frage der Zollsenkung habe ich mich gegen einen Artikel, der, glaube ich, am gleichen Tage in der ›Frankfurter Allgemeinen‹ erschienen war, gewendet, in dem die Rede davon war, daß alle Zölle, auch die der Landwirtschaft, um 30 Prozent gesenkt werden sollen. Ich habe auf die Frage danach erwidert: ›Wir sind doch nicht so verrückt, daß wir wegen der bedrängten Lage der Landwirtschaft 900 Millionen bewilligen und dann die landwirtschaftlichen Zölle allgemein senken.‹

4.) Die Journalisten haben mir Klagen vorgetragen über plötzliche Preissteigerungen auf dem Wochenmarkt und in den Gastwirtschaften und haben ein Einschreiten dagegen verlangt. Darauf habe ich erwidert: ›Fragen Sie Herrn Minister Erhard, ob wir nach den Regeln der sozialen Marktwirtschaft gegen solche Preissteigerungen einschreiten können.‹ Ich enthalte mich eines Kommentars zu dem, was der Bundesverband der Deutschen Industrie gesagt hat. Ich bin dafür nicht verantwortlich.

Ich finde es meinerseits völlig unerträglich, daß der Wirtschaftsminister, der Finanzminister und ein Vertreter der Bank Deutscher Länder ein ›konjunkturpolitisches Programm‹ ausarbeiten, ohne daß das Kabinett, ohne daß der Bundeskanzler überhaupt davon in Kenntnis gesetzt wird. Ich bin keinesfalls gesonnen, mir ein derartiges Handeln über meinen Kopf hinweg gefallen zu lassen. Ich habe daher für Donnerstag, den 24. Mai 10 Uhr eine Kabinettssitzung anberaumt, in der ich von Ihnen und von Herrn Schäffer Auskunft verlangen werde über all das, was hinter meinem Rücken geschehen ist. In meiner ganzen Regierungszeit habe ich mich noch kein Mal so von Ministern meines Kabinetts übergangen gefühlt – um keinen schärferen Ausdruck zu gebrauchen – als bei dieser Aktion. Ich möchte Ihnen das in aller Deutlichkeit sagen. Mit vorzüglicher Hochachtung, Adenauer«.109

Ein aufschlussreicher Brief. In der Diktion holprig, im Aufbau widersprüchlich, vermutlich vom Kanzler selbst in Eile und ohne vorheriges Konzept seiner Beamten formuliert. Zunächst gab er sich ganz unschuldig, harmlos, fand die Vorwürfe Erhards »völlig unverständlich«. Da war ein müder, abgespannter Kanzler am 16. Mai von Journalisten zu seinem »Schrecken« nach dem Konjunkturrat befragt worden und hatte, weil er vom Wirtschaftsministerium zuvor nicht unterrichtet worden war, kritisch und ablehnend geantwortet. Dies sei aber keinesfalls als Angriff auf die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen seines Ministers zu verstehen gewesen – wer Erhard das einrede, sage die Unwahrheit.

Offenbar glaubte der Kanzler tatsächlich, dass die engsten Vertrauten des Wirtschaftsministers, Westrick, Müller-Armack oder Karl Hohmann, der in jenen Monaten den im April 1956 verunfallten Persönlichen Referenten Dankmar Seibt vertrat110, diesen gegen ihn aufbrachten. Vielleicht konnte er sich nur auf diese Weise den zähen Widerstand seines Wirtschaftsministers erklären, mit dem er sonst immer rascher fertiggeworden war. Merkte er nicht, dass plötzlich langjährige Brüskierungen, Enttäuschungen, Zurücksetzungen hervorbrachen, dass Erhard sich an seinem Regierungsstil rieb? Entscheidend waren da nicht die Ratgeber, ausschlaggebend für Erhards Reaktion war allein das Verhalten des Kanzlers. Und sein Brief goss noch Öl ins Feuer. Adenauer wiederholte genau jene Sätze vom Abend des 16. Mai, die Erhard besonders gekränkt hatten, wiederholte etwa, dass er Zollsenkungen im landwirtschaftlichen Bereich für »verrückt« hielt.111 War das fehlendes Einfühlungsvermögen, oder sollte Erhard bewusst provoziert werden?

Wie zornig der Bundeskanzler über die Schritte des wirtschaftspolitischen Triumvirats war, zeigte sich unverhüllt im zweiten Teil seines Schreibens. Noch niemals in seiner ganzen Regierungszeit habe er sich derart übergangen gefühlt! Oboedentia facit imperantem – Gehorsam macht den Herrscher. Darauf achtete Adenauer streng.112 Und er war nicht gesonnen, dieses »Fehlverhalten«, dieses Paktieren zweier seiner Minister hinter seinem Rücken hinzunehmen. Adenauer besaß ein ungebrochenes, unkompliziertes Verhältnis zur Macht. Anders als manche Politiker seiner Zeit hatte er den Machtmissbrauch der Nationalsozialisten zu keinem Zeitpunkt mitgetragen und jene Jahre überstanden, ohne sich opportunistisch anzupassen. Sein Blick für die Notwendigkeit von Herrschaftsverhältnissen war nicht von Schuld getrübt – das sah er nüchtern, sachlich. »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, definierte einst Max Weber.113 Auch wenn Adenauer intellektuelle, akademische Formulierungen fremd gewesen sein mögen, diese Aussage hätte ihm wohl auf Anhieb eingeleuchtet. Den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen – war das nicht bei Regierungsgeschäften fortwährend nötig? Wofür, wenn nicht hierfür waren die dem Kanzler durch die Verfassung zugesprochenen Möglichkeiten, allen voran die Richtlinienkompetenz, eigentlich geschaffen? Man musste dieses Instrumentarium nur zu handhaben wissen, dann konnte man damit jeden Minister, der sich dagegen auflehnte, zur Ordnung rufen und seinen Gehorsam erzwingen.

So war es auch im Mai 1956. Wie ein erzürnter Schulmeister das Nachsitzen seiner Klasse anordnete – nicht umsonst wurde Adenauer in Karikaturen der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre gerne mit Rohrstock und in Lehrerpose gezeichnet114 –, kündigte der Kanzler in seinem Brief an Ludwig Erhard eine Sondersitzung des Kabinetts an, wo die beiden renitenten Minister vor versammelter Mannschaft Rechenschaft ablegen sollten. Bis zu dieser Sitzung hatte die Entwicklung sich allerdings noch weiter zugespitzt. Der Bundeskanzler war daran keineswegs unschuldig.

Der Zufall wollte es, dass am Mittwoch, dem 23. Mai, der Bundesverband der Deutschen Industrie seine 7. ordentliche Mitgliederversammlung in Köln abhielt.115 Am Abend dieses Tages hatte der BDI rund 1000 Gäste zu einem Herrenessen in den großen Gürzenich-Saal gebeten. Unter den Gästen fehlten der Bundeswirtschafts- und der Finanzminister, überhaupt alle Ressortchefs der Bonner Kabinettsrunde. Sie waren diesmal seltsamerweise nicht eingeladen worden.116 Wer allerdings die Entwicklung der letzten Wochen verfolgt hatte und die Äußerungen von Fritz Berg während einer Pressekonferenz am Vortag kannte, konnte dies kaum verwunderlich finden. Dort hatte der BDI-Präsident Erhard und Schäffer massiv kritisiert: Die wirtschafts- und konjunkturpolitischen Maßnahmen sowie die Steuerpolitik der Bundesregierung ließen, so sagte er, »eine klare gesamtwirtschaftliche Linie vermissen«, eine wirksame Koordination gebe es anscheinend nicht, die Fachminister gingen getrennte Wege.117 Offenbar setzte der BDI nun, einen Tag später, seinen Konfrontationskurs gegenüber der Bundesregierung fort. Was machte dann aber der Bundeskanzler auf diesem Empfang? Adenauer mischte sich ganz ungezwungen unter die Gäste, tafelte mit, unterhielt sich angeregt. Das konnte man schon eher verblüffend finden. Aber es kam noch schlimmer.

Berg holte zum Generalangriff aus. In einer langen, temperamentvollen Rede verurteilte er die von Erhard, Schäffer und Vocke angekündigten oder bereits durchgeführten Schritte – ohne die Initiatoren namentlich zu erwähnen. Den Zollsenkungsplan des Wirtschaftsministers, die Zahl von 30 Prozent nannte er »maßlos« und »konjunkturpolitisch verfehlt«, weil eine konjunkturelle Überhitzung momentan überhaupt nicht bestehe – auf keinen Fall könne die Industrie einem solchen Vorhaben zustimmen.118 Natürlich sprach Berg hier als Interessenvertreter: Die Zollsenkung erhöhte zwangsläufig den Konkurrenzdruck auf dem inländischen Markt und machte Preissenkungen erforderlich – daran konnte den Unternehmen nicht gelegen sein. Darüber hinaus wehrte sich Berg gegen alle geplanten Einschränkungen der Abschreibungsmöglichkeiten, drohte auch hier »schärfsten Protest« an, forderte andererseits umgehend einen Steuerabbau, eine Steuerentlastung für die Industrie, um die »Eigenkapitalbasis der Unternehmen zu stärken«. Schließlich wandte er sich gegen die Diskontpolitik der Notenbank, weil durch die wiederholte Erhöhung des Diskontsatzes Kredite auf unvorhersehbare Weise teurer, mithin alle Finanzplanungen der Industrie über den Haufen geworfen worden seien. Während die kapitalschwachen deutschen Unternehmen unter Geldmangel litten, betreibe die öffentliche Finanzwirtschaft eine von der Notenbank unterstützte »Hortungspolitik«, wodurch – eine etwas überraschende Schlussfolgerung – »die Entwicklung zum Staatssozialismus gefördert« werde.

Eine deutliche, drastische Sprache, gewiss, aber für Berg nicht ungewöhnlich. Tatsächlich wirkten seine Formulierungen geradezu harmlos im Vergleich zu der Rede, die unmittelbar folgen sollte. Der Bundeskanzler ergriff das Wort. Was er sagte, musste als die eigentliche »Sensation des Abends« gelten, wie sich Hans Dichgans, damals in Organisationen der Stahlindustrie tätig, erinnerte.119 Adenauer sagte dabei unter anderem:

»Ich bin, trotzdem ich wußte, daß ich hier in eine etwas geladene Atmosphäre kam, gern hierher gekommen, weil es auch mir am Herzen liegt, zur Klärung beizutragen. Deswegen bin ich Ihnen, Herr Präsident Berg, besonders dankbar für die Offenheit, mit der Sie gesprochen haben. Denn Offenheit ist immer die unumgängliche Voraussetzung, um möglichst der Wahrheit nahezukommen. Ich kann diese Offenheit nicht in allen Teilen Ihrer Rede, aber doch in einem sehr großen Teil Ihrer Rede umso mehr begrüßen, als ich – ich möchte das, meine Herren, sehr nachdrücklich betonen – unbeteiligt bin an den Beschlüssen, die in Frankfurt gefaßt worden sind. Und – meine Herren – namentlich tue ich das, weil ich gesehen habe im Gespräch mit Tischgenossen, daß über das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und der Bank deutscher Länder, dem Zentralbankrat, keine Klarheit besteht. Der Zentralbankrat, meine verehrten Herren, ist vollkommen souverän gegenüber der Bundesregierung. Er ist natürlich verantwortlich gegenüber sich selbst. Aber wir haben hier ein Organ, das niemandem verantwortlich ist, auch keinem Parlament, auch nicht einer Regierung … Ich bin, ich sage das in aller Offenheit, heute Abend noch nicht in der Lage, mir ein definitives Urteil zu bilden über die Einzelheiten der Beschlüsse, die da gefaßt worden sind. Aber eines weiß ich schon jetzt: es ist der deutschen Konjunktur ein schwerer Schlag versetzt worden, und auf der Strecke bleiben werden die Kleinen. Und zwar gilt das sowohl für die kleinen Industrien, wie für die kleineren Landwirte, wie für die kleineren Handwerker – kurz und gut, das Fallbeil trifft die kleinen Leute. Und deswegen bin ich sehr betrübt darüber. Ich habe bisher nicht den Eindruck gewonnen, daß eine derartige Maßnahme notwendig war. Ich habe nicht einmal die Überzeugung gewonnen, daß sie den gewollten Effekt erreicht. Ich habe für morgen abend eine Kabinettssitzung anberaumt, in der wir uns mit diesen Fragen beschäftigen werden und in der namentlich der Wirtschaftsminister und der Finanzminister, die an den Beratungen des Zentralbankrates teilgenommen haben, uns darüber Rechenschaft geben werden, warum und was sie dort vorgeschlagen haben … Ich bin Ihnen, Herr Präsident Berg, sehr dankbar, daß Sie stark unterstrichen haben die Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit. Und ich kann, meine verehrten Herren, hier nur sagen, daß bei allen Besprechungen, bei denen Präsident Berg zugegen war, ich immer die Überzeugung gehabt habe, er spricht aus dem Gefühl der Verantwortung für das allgemeine Interesse …

Herr Präsident Berg hat eine Fülle von Anregungen gegeben. Und wir werden alle, wie er mir sagte, seine Ausführungen auch gedruckt bekommen. Man konnte nicht alledem folgen oder sofort darauf antworten, was er gesagt hat, aber, meine verehrten Herren, in einigen Punkten, die ich mir notiert habe, kann ich ihm nur recht geben. Und das ist auch das Wort, das er über die Zollpolitik gesprochen hat. Es ist ein sehr zweischneidiges Schwert, mit der Zollpolitik herauf- und herunterzugehen und je nach Bedürfnis in dem Inneren der Wirtschaft mal so, mal so zu machen. Meine Herren, die außenpolitische Lage in der Welt ist noch niemals in den letzten sieben Jahren – ich glaube, man kann noch weiter zurückgehen – so schwierig, so verworren und so unsicher gewesen wie jetzt … Und ich halte mich auch für verpflichtet, das zu sagen, weil ich der Auffassung bin, daß unter Umständen Maßnahmen, wie sie in den letzten Tagen getroffen worden sind, auf die außenpolitische Lage der Bundesrepublik erheblich einwirken werden … Denn, meine Herren, Wirtschaft und Politik sind in unserer Zeit untrennbar miteinander verbunden. Wenn die Wirtschaft nicht stabil ist, kann man keine stabile Politik treiben, und wenn die Politik nicht stabil ist, kann die Wirtschaft auch nicht stabil sein. Und wer deswegen das Recht hat, in der Wirtschaft entscheidende Weichen zu stellen, der muß sich klar sein über diese Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik …

Und nun, meine verehrten Herren, wollen wir die Situation, wie sie nun einmal entstanden ist – und sie ist nach meiner Meinung, ich sage das in aller Offenheit hier, entstanden, weil man die Probleme, die mit einer Vollbeschäftigung naturgemäß verbunden sind – nicht mit der nötigen Kaltblütigkeit betrachtet hat. Nun müssen wir sehen, meine verehrten Herren, das Beste daraus zu machen … Also, wir wollen auch mal versuchen, zu rationalisieren. Wir haben’s verdammt nötig. Ich gebe es ganz offen zu. Wir haben’s viel zu sehr verfeinert bei der Bürokratie. Wir sollten, meine verehrten Herren, einfacher denken. Das sage ich ganz offen und ehrlich. Je einfacher denken, ist oft eine wertvolle Gabe Gottes. Und diejenigen, die so verdreht denken, das sind nicht immer die klügsten Männer. Wobei ich natürlich hinzusetze, ich habe niemanden damit gemeint. Aber nun, ich komme zum Schluß und möchte nochmals das sagen, was ich eben gesagt habe. Die Situation ist da. Die Situation ist auch nach meinem Gefühl ernst …«120

Was sich im Rückblick streckenweise wie die Persiflage einer Adenauer-Rede liest, brachte im Gürzenich niemanden zum Lachen. Adenauer schlug sich ganz unzweideutig auf die Seite von Berg, nahm – mit schonungsloser Offenheit – gegen Erhard, Schäffer und Vocke Stellung. Die Wirkung seiner Rede war ungeheuer. War es die vorgerückte Stunde, war es die aufgeladene Atmosphäre, deren Spannung sich auf ihn selbst übertrug, oder was sonst hatte den Kanzler veranlasst, so gegen die Notenbank und seine Minister vom Leder zu ziehen? Nachdem er betont hatte, unbeteiligt an den Beschlüssen von Frankfurt, bei der Erhöhung des Diskontsatzes gewesen zu sein, äußerte er sich auffälligerweise zuerst – voll Bedauern – über die rechtlich unabhängige Zentralbank, die nur sich selbst, aber keinem Parlament, keiner Regierung (!) verantwortlich sei.121 Ein wichtiges Indiz. Adenauer hätte nur zu gern seinen Einflussbereich auch auf die Zentralbank ausgedehnt. Mit gutem Grund kommentierte der vorsichtig zurückhaltende Präsident Wilhelm Vocke später: Der Bundeskanzler »konnte … der Versuchung, sich in die Währungspolitik einzuschalten und auch hier die Richtlinien aufzustellen, nur schwer widerstehen. So kam es zu Differenzen mit der Notenbank, die kein Ruhmesblatt in Adenauers Wirken bilden. Gewiß, es ist nichts passiert. Aber doch nur, weil das Gesetz der Notenbank die unbedingt nötige Unabhängigkeit einräumte …«122

Diese Kommentierung trifft vermutlich ins Schwarze. Denn für Adenauer spielte bei der ganzen Auseinandersetzung eine entscheidende Rolle, dass er seinen Evokationsanspruch gefährdet sah, sein Recht missachtet fand, als Kanzler alle politisch bedeutsamen Entscheidungen an sich zu ziehen.123 Deshalb auch die Betonung der Interdependenz von Politik und Wirtschaft, der vom Kanzler sehr häufig vorgebrachte Hinweis auf die außenpolitisch gespannte Lage, die allerdings den Zuhörern kaum so dramatisch vorgekommen sein wird – der wenige Monate zurückliegende XX. Parteitag der KPdSU schien ja gerade eine Reformära in der Sowjetunion und eine Erwärmung des internationalen Klimas anzukündigen; von der Suez-Krise und dem blutigen ungarischen Herbst ahnte man damals noch nichts.124 Adenauer suchte jedoch mit seinen Bemerkungen zu verdeutlichen, dass nur er, der Kanzler, die komplexen Zusammenhänge zwischen Außen- und Innenpolitik erkennen könne, während die Ressortchefs, speziell die für Fragen der Ökonomie zuständigen, nicht über die Grenzen ihrer Ministerien hinauszublicken vermochten. Deshalb, gerade deshalb dürfe nicht an seiner Machtposition gerüttelt werden.

Die Gefährdung seiner überragenden Position, die Infragestellung seiner Amtsgewalt wird für ihn wohl der zentrale Punkt in der ganzen Auseinandersetzung gewesen sein. Das erklärt schließlich auch die scharfe, ja übersteigerte Form seiner Kritik. Denn bei nüchterner Betrachtung wird man die sachlichen Argumente des Kanzlers wirtschaftspolitisch wenig überzeugend finden, selbst wenn man nicht unbedingt, wie Rudolf Augstein, von den »Einwänden eines Klippschülers« sprechen muss.125 Dass der deutschen Konjunktur ein schwerer Schlag versetzt worden wäre, dass das Fallbeil vor allem die kleinen Leute treffen würde – was Adenauer vor Wahlen natürlich als besonders gefährlich empfinden musste –, war aber tatsächlich ziemlicher Unsinn. Entscheidend fiel die Diskonterhöhung vor allem bei großen Wirtschaftsunternehmen, bei enormen Kreditsummen ins Gewicht – und für diese Großindustrie hatte sich Berg in seiner Ansprache hauptsächlich starkgemacht. Aber auch die Äußerungen Adenauers über das zweischneidige Schwert der Zollpolitik – dezidiert gegen Erhard gerichtet – zeugten von wenig wirtschaftlichem Sachverstand, stellten Zollveränderungen doch ein legitimes, vielfach angewandtes Mittel der Wirtschaftsbeeinflussung dar.

Es war eben eine Strafpredigt für die abwesenden Minister Erhard und Schäffer, und da ließ sich nicht immer logisch stringent argumentieren. Den überwiegend in Wirtschaftsdingen beschlagenen Zuhörern wird dies vermutlich bald klar geworden sein. Aber wie unverblümt sich Adenauer hier auf die Seite von Berg stellte, um dessen Spannungen mit Erhard im Zusammenhang mit dem geplanten Kartellgesetz alle Teilnehmer wussten126, welch lobende Worte der Kanzler für den BDI fand – für dessen Verhalten er sich Erhard gegenüber in seinem Brief vom Vortag noch in keiner Weise verantwortlich gefühlt hatte –, wie er seinen zwei wichtigsten Ministern die notwendige Kaltblütigkeit im Umgang mit der Konjunktur absprach, ihnen verdrehtes Denken vorwarf, wie er öffentlich, vor den mitlaufenden Tonbändern von Presse und Rundfunk, ankündigte, sie zur Rechenschaft ziehen zu wollen, das war schon bemerkenswert – und weckte Besorgnisse. »Ich stellte mir, wie mancher andere Zuhörer, die Frage, ob nicht eine so ungewöhnliche Ministerschelte ein Zeichen bedenklich nachgelassener Selbstkontrolle sein könnte«, fasste Hans Dichgans seinen Eindruck nach Adenauers Donnerwetter später zusammen.127

Die beiden gescholtenen Minister waren verständlicherweise empört. Erhard meinte rückblickend, die Vorwürfe Adenauers hätten »außerhalb jeder Vernunft« gelegen.128 Es wurde zudem kolportiert, der Kanzler versuche, besonders inkriminierende Passagen seiner Rede auf den Tonbändern des Rundfunks vor ihrer Ausstrahlung beziehungsweise der Weitergabe an die erbosten Minister löschen zu lassen.129 Schließlich hieß es gar, Adenauer beabsichtige, Erhard als Wirtschaftsminister ab- und an seiner Stelle Fritz Berg einzusetzen.130 In der Gerüchteküche brodelte es jedenfalls heftig.

Alle warteten nun gespannt auf die Sondersitzung des Bundeskabinetts am nächsten Abend. Sie dauerte von 18 Uhr 30 bis 23 Uhr und verlief recht turbulent. Der Kanzler wiederholte sofort seine Vorwürfe und machte darüber hinaus deutlich, warum sich die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt einen Konflikt mit der Industrie nicht leisten könne. Hermann Wandersieb, von 1949 bis 1959 Staatssekretär im Wohnungsbauministerium, berichtete später, Adenauer habe im kölschen Idiom mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass bald Bundestagswahlen stattfänden, die enorme Summen verschlingen würden: »Wer soll uns denn dat Jeld jeben, wenn es die Industrie nicht tut? Können Sie es etwa bezahlen, Herr Erhard? Haben Sie dat Jeld vielleicht mit? Dann lejen Sie es hier auf den Tisch, dann will ich Unrecht haben (Pause). Se haben es also nich! Dann seien Se doch heilfroh, meine Herren, dat ich die Anjelejenheit mit der Industrie wieder so leidlich in Ordnung jebracht habe.«131

Man mag dies für eine Anekdote halten, aber dass der Kanzler, zumal in Rage, simpel argumentierte und den Wirtschaftsminister durch seine Forderung, Millionen als Wahlkampfspende auf den Kabinettstisch zu legen, zu verblüffen suchte, scheint nicht einmal so abwegig. Tatsächlich brauchte die Union, damals tendenziell eine Wähler- und eben keine Mitgliederpartei, dringend Geld, war auf großzügige Spenden angewiesen, um ihre laufenden Ausgaben, ganz besonders natürlich auch die Wahlkämpfe, finanzieren zu können.132

Eine Stunde vor ihrem Ende verließ Adenauer die Sitzung, offenbar, um die Stimmung nicht weiter zu verschlechtern. Denn die beiden Minister Erhard und Schäffer waren bei ihren Kollegen auf wenig Unterstützung gestoßen. Zum einen mögen Interessenkonflikte aufgetreten sein – der für Ernährung und Landwirtschaft zuständige Minister Heinrich Lübke war natürlich gegen Zollsenkungen in seinem Bereich, Wohnungsbauminister Viktor-Emanuel Preusker lehnte eine Zinsanhebung und Kreditverknappung generell ab. Zum anderen mag Adenauers Verärgerung über den »Alleingang« breitere Zustimmung gefunden und jede eventuell vorhandene Bereitschaft zur Solidarisierung unterdrückt haben.133

Erhard blieb nach der Sitzung allein mit seinem Staatssekretär Westrick, mit Wandersieb und einem weiteren Staatssekretär im Kabinettssaal zurück – die drei sprachen ihm Trost zu, »den er wirklich brauchte«.134 Bei einer anschließenden Pressekonferenz trat dann die gesteigerte Verstimmung von Erhard und Schäffer zutage: Ihre beiden Pressesprecher gaben nur gleichlautende Antworten und erklärten gemeinsam, die persönlichen Differenzen der zwei Minister mit dem Kanzler seien noch keineswegs beigelegt.135

Gespannt verfolgten Journalisten und die politisch interessierte Öffentlichkeit das Schauspiel des Kabinettskonflikts. Wann sah man schon so etwas auf der Bonner Bühne? Stand nun vielleicht sogar ein nächster Akt, eine dramatische Zuspitzung, etwa ein Ministersturz bevor?136 Doch derlei Erwartungen wurden enttäuscht. Bereits am Freitag, dem 25. Mai, begann man hinter den Kulissen emsig, neue versöhnlichere Regieanweisungen auszuarbeiten, damit der Vorhang rasch wieder fallen konnte – zumal sich die »Zuschauer« immer deutlicher auf die Seite der gemaßregelten Partei, auf die Seite Erhards und Schäffers, zu schlagen begonnen hatten.137 So schnell, wie die Krise aufgebrochen und sichtbar geworden war, so plötzlich wurde sie nun kupiert. Schon am Freitagabend gab das Kanzleramt ein Kommuniqué heraus, in welchem über eine Unterhaltung zwischen Adenauer und Erhard zu lesen war: »Am 25. Mai vormittags fand eine Aussprache zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundeswirtschaftsminister statt, die ernst, aber sehr freundschaftlich verlief. Der Bundeskanzler erklärte Professor Erhard, daß viele an seine Rede vor dem Bundesverband der Industrie geknüpfte Kommentare völlig unzutreffend seien. Erhard genieße nach wie vor persönlich und als Wirtschaftsminister sein volles Vertrauen.«138

Wodurch wurde diese rasche Wendung bewirkt? Musste der Kanzler einsehen, dass er sich mit seinen wirtschaftspolitischen Äußerungen in »Gefilde« vorgewagt hatte, »von denen er nichts verstand«, wie es sein sehr wohlmeinender Biograph Terence Prittie formulierte?139 Lenkte er deshalb ein? Wohl kaum. Hier haben andere Überlegungen den Ausschlag gegeben.

Trägt die Entwicklung im Frühjahr 1956, was den Charakter der Konfrontation zwischen Adenauer und Erhard anbelangt, in vielfacher Hinsicht modellhafte Züge, so lässt sich neben dem Verlauf eben auch die Art der Lösung, der »Bewältigung« durchaus mit späteren Konflikten, etwa mit der Auseinandersetzung um die Bundespräsidentenwahl von 1959, vergleichen. 1956 wie drei Jahre später bahnte sich die Konfrontation in schriftlich ausgebreiteten Kontroversen an, wurde sie vom Kanzler in die Öffentlichkeit getragen, durch Erhards Rücktrittsdrohungen verschärft; hier wie dort schaltete sich die Bundestagsfraktion der CDU/CSU ein, suchte der Fraktionsvorsitzende Heinrich Krone in Zusammenarbeit mit Ludger Westrick und Hans Globke den Streit wenigstens oberflächlich beizulegen. Generell bewährte sich in diesen Fällen die enge Kooperation zwischen Krone und Westrick, die sich, nahezu gleichaltrig, persönlich sehr schätzten, sich duzten, obwohl beide, eher von distanziert-zurückhaltendem Naturell, im politischen Alltag sonst nicht zu solch vertraulichen Umgangsformen neigten.140 In Globke fanden sie übrigens jeweils einen behutsamen Verbündeten.141 Nur so konnte der widerstrebende Bundeskanzler während dieser Krise zu einer raschen Abschwächung seiner Kritik, zu einer Abmilderung zumindest nach außen hin gebracht werden.

Nach mehreren Telefonaten zwischen Kanzleramt und Wirtschaftsministerium, also zwischen Globke und Westrick, kam es am Freitag, dem 25. Mai, zu einer solchen – oberflächlichen – Einigung zwischen Adenauer und Erhard. Die Initiative zu diesem Treffen sei, so konnte man lesen, vom Kanzler ausgegangen, der »damit seine Bereitschaft, einzulenken, erkennen ließ«.142 Ganz wörtlich wird man das nicht nehmen müssen. Aber dass seine Position in dieser Sache längst unhaltbar geworden war, er etwas zurückrudern musste, wird Adenauer selbst erkannt haben. Deshalb waren Globke, Krone und Westrick bei ihren Vermittlungsversuchen erfolgreich.

Außerdem sah sich der Kanzler 1956 (wie 1959) massiver Kritik aus den Reihen der Fraktion ausgesetzt, die ihm stärker Paroli bot als das Kabinett und sich am Dienstag, dem 29. Mai, in ihrer Sitzung eindeutig auf die Seite von Erhard stellte. Während der Kanzler eine Rücktrittsdrohung seines Wirtschaftsfachmannes in aller Regel nicht sehr ernst nahm, sie ihm eher als Indiz für politische Schwäche galt – wer permanent droht, aber nicht handelt, wird unglaubwürdig –, rief sie bei den Abgeordneten der CDU/CSU sofort Beschützerinstinkte wach. Der Wahlmagnet musste ihnen nicht zuletzt mit Blick auf die Bundestagswahl 1957 unbedingt erhalten bleiben, sicherte er doch Karrieren und Mandate. Der Fraktionsvorstand, in dem der stellvertretende CDU-Parteivorsitzende, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, einer der wenigen mutigen Kanzlerkritiker, eine ausschlaggebende, meinungsbildende Rolle spielte143, und die Fraktion gingen immer dann energisch auf Gegenkurs zu Adenauer, wenn dieser Erhard, wie geschehen, öffentlich herabzuwürdigen versuchte. »Der Bundeskanzler hat harte Worte hören müssen. Erhard fand breite Zustimmung bei seiner Feststellung, daß man die Zügel nicht schleifen lassen dürfe«, hieß es bezeichnenderweise in der Welt, deren Journalisten damals meist hervorragend informiert waren.144

In der Kabinettsitzung vom Mittwoch, dem 30. Mai, gab sich der Kanzler denn auch sehr viel versöhnlicher als in der Vorwoche, wie Hermann Wandersieb berichtet. Adenauer, mit einem Schlag ganz friedfertig, sagte demnach: »Meine Herren, wir wollen auf die unanjenehme Jeschichte, die wir in der vorigen Sitzung besprochen haben, nicht noch einmal zurückkommen. Es war peinlich jenuch für uns alle; ich wollte Ihnen nur noch eins sagen: Wat der Herr Berg da im Gürzenich wirklich jesacht hat, dat habe ich erst jetzt jelesen. Wo ich im Gürzenich jesessen habe, konnte man dat jar nicht verstehen. Der neue Gürzenich hat ja wirklich eine janz miserable Akustik.«145

Selbst wenn man diese Ausrede bis hin zur angeblich schlechten Akustik als durchsichtig und plump ansehen mag, so wird man in ihr doch einen Hinweis auf die Kompromissbereitschaft des Kanzlers erblicken können. Kompromissbereitschaft zeigte sich jetzt allenthalben. Das Bundeskabinett verwies während dieser Sitzung das gemeinsam von Schäffer und Erhard entworfene Konjunkturprogramm zur abschließenden Beratung an das Wirtschaftskabinett. Unter der ausgleichenden Hand von Vizekanzler Blücher sollten Erhard, Schäffer, Preusker und Lübke dort versuchen, eine Einigung zu erzielen.146 Das gelang offenbar, denn zwei Wochen später, am 13. Juni 1956, billigte das Kabinett einen umfangreichen Katalog konjunkturpolitischer Maßnahmen. Die öffentliche Hand, so beschloss man, werde sich in Zukunft mit Bauaufträgen zurückhalten; der Finanzminister akzeptierte dafür eine Steuerreduzierung, wobei vor allem die mittleren Einkommen entlastet werden sollten. Am bedeutsamsten aber war zweifellos, dass Erhards Zollsenkungsvorlage nun allgemeine Zustimmung fand, ja, dass darüber hinaus die alten Zollsenkungsbeschlüsse vom Dezember 1955, deren Geltungsdauer eigentlich am 31. März abgelaufen war, weiter verlängert wurden.147 Der Wirtschaftsminister hatte dafür Landwirtschaftsminister Lübke großzügige Ausnahmeregelungen bei vielen Nahrungsmitteln zugestanden.148

Wie verhielt sich der Bundeskanzler? Er war offensichtlich zu einer Zurücknahme seiner öffentlich geäußerten Bedenken zu bewegen gewesen. Allerdings nahm er an der entscheidenden Kabinettsitzung persönlich nicht teil; da weilte er in den USA, konferierte mit John Foster Dulles, besuchte den erkrankten Präsidenten Eisenhower, beherrschte durch seine außenpolitischen Aktivitäten die Schlagzeilen – und wahrte sein Gesicht. Denn dabei zu sein, wie diese ärgerliche Vorlage Erhards nunmehr definitiv vom Kabinett verabschiedet wurde, wäre ihm vermutlich doch sehr gegen den Strich gegangen.

Wenig später, am 22. Juni 1956, passierte das Programm auch den Bundestag. Stimmte die CDU/CSU-Fraktion in diesem Fall für den Wirtschaftsminister, so votierte sie – ebenfalls kompromissbereit – in einer anderen Frage für den Kanzler. Nach dem Tod von Wilhelm Naegele (CDU), dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses – er starb am 24. Mai 1956 –, wurde in jenen intern so turbulenten Wochen auch ein neuer Leiter für diesen Ausschuss gesucht. Erhard und die ihm nahestehenden Abgeordneten wie Ernst Müller-Hermann, Gerd Bucerius und Matthias Hoogen favorisierten den Duisburger Einzelhandelskaufmann Joseph Illerhaus (CDU), während der Kanzler und die mit der Industrie sympathisierenden Abgeordneten gerne Fritz Hellwig (CDU) durchsetzen wollten. Hellwig erhielt schließlich den Zuschlag und übernahm den Vorsitz im Wirtschaftsausschuss nach der Sommerpause am 21. September.149 An diesem kleinen Detail zeigte sich deutlich das Bemühen der Unionsfraktion, vermittelnd zu wirken. Dem Wirtschaftsminister wurde damals noch keineswegs prinzipiell gegenüber dem Bundeskanzler der Rücken gestärkt, schon gar nicht, wenn sich in der Fraktion selbst Interessengruppen gegenüberstanden. Im Moment schien es aber, als habe Ludwig Erhard insgesamt einen bedeutenden persönlichen Erfolg errungen und sowohl dem Kanzler wie der Industrie mit dem einflussreichen Fritz Berg an der Spitze Paroli geboten. Erhards gestärktes Selbstbewusstsein zeigte sich denn auch, als er am 22. Juni 1956 vor dem Deutschen Bundestag das Konjunkturprogramm vorstellte und begründete. Im letzten Abschnitt seiner Rede sagte er:

»Die Konjunkturpolitik der Bundesregierung wird nach den grundlegenden Richtlinien des Bundeskanzlers von der Bundesregierung in den zuständigen Ressorts konzipiert, die eng miteinander und mit der Bank deutscher Länder in Verbindung stehen. Die weitere Koordinierung erfolgt im Kabinettsausschuß (Wirtschaftskabinett) und im Kabinett selbst. Der Präsident des Zentralbankrates nimmt in der Regel an den Sitzungen des Kabinettsausschusses teil.

Die Aufgabe, die gegenwärtigen Konjunkturübersteigerungen zu meistern, erschöpft sich indessen nicht in der Koordinierung innerhalb der Regierung bzw. zwischen der Regierung und dem Zentralbankrat. Hier ist vielmehr die Frage des Ausgleichs der Wünsche und Forderungen aller Gruppen unseres Volkes mit dessen Gesamtinteressen angesprochen. Es handelt sich dabei nicht zuletzt um Menschen – gleich ob sie als Unternehmer, als Landwirte, Handwerker, Händler oder als Arbeitnehmer im Produktions- und Verteilungsprozeß unserer Volkswirtschaft stehen. Die Wirtschaft wird nun einmal von Menschen getragen. Wenn diese Menschen aber unter dem Eindruck der guten Geschäftslage, der allseitigen Chancen, der Vollbeschäftigung und der Expansion in ihren Dispositionen, gleich, ob es sich um Investitionen, Preis- oder Lohnforderungen handelt, das Gefühl und das Wissen um die Masse verlieren, wenn sie sich nicht mehr an die volkswirtschaftlich gesetzten Grenzen halten wollen, dann allerdings obliegt der Regierung die Verantwortung, den ruhigen Ablauf der wirtschaftlichen Entwicklung konjunkturpolitisch abzusichern …«150

Das war so etwas wie ein Schlusswort zur Gürzenich-Affäre. Auf den ersten Blick sind es trockene verfahrenstechnische Erläuterungen und Begründungen, die Erhard da formuliert. Aber sie sind mehr als das. Erhard hebt das Recht auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Wirtschafts- und Finanzminister sowie dem Präsidenten der Notenbank hervor und betont erneut – wenn auch in moderater Form –, dass Gruppeninteressen vor dem Gesamtinteresse zurückzutreten hätten. Das hieß implizit: Auch wenn sich der Bundeskanzler in einer wirtschaftlich schwierigen Lage hinter einzelne Gruppen stellen mochte, würde der Wirtschaftsminister zum Wohle des Ganzen seinen unparteiischen, überparteilichen Standpunkt zu wahren versuchen. Warum unterstrich Erhard dies noch einmal? Weil er annehmen musste, dass der Kanzler auch weiterhin den direkten Kontakt zu den Verbänden beibehalten und seinen Regierungsstil nicht ändern würde, es deshalb im Zusammenhang mit anderen Problemen jederzeit wieder zu einer neuerlichen Konfrontation kommen konnte. Da galt es vorzubauen, sich der Hilfe von Alliierten zu versichern. Besonders der weitgehend unabhängige Präsident der Notenbank war dem Wirtschaftsminister wichtig und sollte wichtig für ihn bleiben.

Tatsächlich war der Bundeskanzler kein Mann, dem es leichtfiel zurückzustecken – und so hat die Gürzenich-Affäre denn auch die persönliche Beziehung zwischen Adenauer und Erhard weder vereinfacht noch verbessert. Im Gegenteil. Adenauer bestärkte sie in seiner ablehnenden Haltung gegenüber Erhard, die sich von nun an – und nicht erst seit der Bundespräsidentenwahl von 1959 – bis zur Idiosynkrasie steigern sollte. Für Erhard wiederum bedeutete sie den Kulminations- und Scheitelpunkt seiner »Werbungsversuche« um das Vertrauen des Kanzlers. Jetzt begann ein Distanzierungsprozess, den nur noch selten Phasen kurzfristiger Annäherung unterbrachen.

Kampf ums Kanzleramt

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