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DIE GÜRZENICH-AFFÄRE – MODELL DER KONFRONTATION

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Die Krisenstimmung, die sich in den Jahren 1955 und 1956 in der Bundesrepublik verbreitete, hing nicht allein mit der politischen, sondern besonders mit der wirtschaftlichen Lage zusammen. Im Rückblick erscheint das vollkommen unbegreiflich. Deutschland war zwar weiterhin zweigeteilt, aber die junge westliche Republik hatte 10 Jahre nach dem großen Krieg und der vollständigen Besetzung soeben ihre staatliche Souveränität in weiten Teilen zurückerhalten, auch wenn die Siegermächte sich ihr Interventionsrecht und die Verantwortung für Gesamtdeutschland und Berlin weiterhin vorbehielten. Sie war zeitgleich Mitglied im westlichen Militärbündnis, der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO), geworden und hatte bereits im ökonomischen Bereich, innerhalb der Montanunion, bei der Kohle- und Stahlproduktion mit der Übertragung von Souveränitätsrechten auf eine supranationale, europäische Ebene begonnen. Die wirtschaftlichen Daten jener Zeit signalisierten zudem fast ausnahmslos Erfreuliches: Das Bruttosozialprodukt war 1955 gegenüber dem Vorjahr um 12,1 Prozent gestiegen – eine unglaubliche Veränderung, die später nie wieder zustande kommen sollte. Die Investitionsrate hatte in diesem Jahr ebenfalls ihren Höchststand mit 20,8 Prozent erreicht, die Spareinlagen hatten sich gegenüber 1950 vervierfacht und lagen jetzt bei 20,6 Milliarden D-Mark, die Devisenreserven der Bank deutscher Länder betrugen 13 Milliarden D-Mark. Die Bundesrepublik erreichte Exportüberschüsse wie kein anderes Land Europas, kräftige Lohnsteigerungsraten brachten auch den Arbeitnehmern bedeutende Einkommensverbesserungen, die Vollbeschäftigung war nahezu gewährleistet, und man hatte nicht nur 12 Millionen Vertriebene eingegliedert, sondern begann schon, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben.1 Verhieß das nicht wahrhaft goldene Zeiten, eben tatsächlich »Wohlstand für alle«?2 Wer hätte sich diesen Aufschwung in seinen kühnsten Träumen zehn, ja selbst noch fünf Jahre früher auszumalen gewagt? Das grenzte doch ans Wunderbare, auch wenn Wirtschaftsminister Erhard immer wieder betonte, dass die Entwicklung nichts Irrationales, Unerklärliches an sich habe, sondern auf der konsequenten Übertragung seiner wirtschaftlichen Ordnungsprinzipien auf die gesellschaftspolitische Realität beruhe.3

Woher rührte dann aber plötzlich die allgemeine Besorgnis? »Die Konjunktur schäumte über«, schrieb rückblickend Hans Herbert Götz, Wirtschaftsjournalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.4 Man war beunruhigt über die Krisensymptome der Hochkonjunktur. Damit waren vor allem die Preissteigerungsraten gemeint: 1953 war der Preisindex um 1,8 Prozentpunkte zurückgegangen – auch das ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der bundesrepublikanischen Volkswirtschaft. Anschließend stieg er 1954 um 0,2 Prozent, ein Jahr darauf um 1,6 und 1956 gar um 2,5 Prozentpunkte.5 Zwanzig Jahre später würde man solche Steigerungsraten herbeisehnen, über die Ängste der Wirtschaftsfachleute in den Fünfzigerjahren nur milde lächeln, aber damals wirkten sie wie Alarmsignale. Die Mentalität wurde durch andere Erfahrungen bestimmt. Nicht nur Konrad Adenauer und Ludwig Erhard wussten noch um die Schrecken der großen Inflation von 1922/23. Auch der Präsident des Direktoriums der Bank deutscher Länder6, Wilhelm Vocke, hatte diese Zeit nicht vergessen, zumal er von 1919 bis 1939 Direktoriumsmitglied der Deutschen Reichsbank gewesen war.

Aber nicht allein das deutsche Inflationstrauma blieb lebendig. Alle diejenigen, die bereits in den Zwanziger- und Dreißigerjahren mit Wirtschafts- und Währungsfragen zu tun gehabt hatten, etwa Karl Bernard, der Vorsitzende des Zentralbankrates der Bank deutscher Länder, der 1929 in die Dienste des Reichswirtschaftsministeriums getreten war, oder die nunmehr durch ihre guten Verbindungen zum Bundeskanzler sehr einflussreich gewordenen Bankiers Hermann J. Abs und Robert Pferdmenges fürchteten eine Wiederholung der Wirtschaftskrise von 1930/31. War nicht schon damals einem auf kurzfristigen Krediten basierenden Aufschwung ein vollständiges Debakel gefolgt? Keinesfalls wollte man erneut Zeuge eines Booms werden, der in einen wirtschaftlichen und dann auch politischen Zusammenbruch mündete. Bei diesen Ängsten spielte darüber hinaus der Faktor der Rüstungsausgaben eine Rolle. Wirtschaftsfachleute befürchteten, die Bundesrepublik könne die mit dem Eintritt in die NATO verbundenen Ausgaben für den Militäretat nicht aufbringen, ohne die haushalts- und wirtschaftspolitische Stabilität zu gefährden, zumal die Bundesregierung trotz niedriger Steuersätze weiterhin darauf verzichtete, an die Aufnahme von Schulden auch nur zu denken.7

Das Hauptaugenmerk aller Beteiligten galt aber den Preissteigerungen. Mit Billigung des Bundeskanzlers waren 1955 die jahrelang gedeckelten Preise für landwirtschaftliche Produkte heraufgesetzt worden. Dadurch stiegen die Lebensmittelpreise innerhalb von einem Jahr um etwa 12 Prozent.8 Außerdem suchten die Unternehmen, ohnehin knapp an flüssigem Eigenkapital, die durch Lohnerhöhungen bewirkten Kostensteigerungen durch Umlage auf die Preise auszugleichen und über kurzfristig aufgenommene Kredite ihrem Kapitalmangel abzuhelfen. Die Folgen: Die Preise stiegen weiter, Kredite wurden teurer. Wollten die Unternehmen jetzt nicht in große Finanzierungsprobleme geraten, müsse der Staat ihnen – so forderten sie jedenfalls – durch Steuererleichterungen entgegenkommen. Außerdem hätten sich die Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen zu mäßigen. Wie sollte sich da die Bundesregierung, wie die für die Währungsstabilität mitverantwortliche Bank deutscher Länder verhalten? Sollte die Konjunktur gebremst, die Kreditaufnahme durch Anhebung der Zinssätze erschwert werden, oder war es besser, abzuwarten und eine inflationäre Entwicklung in Kauf zu nehmen, solange die Preissteigerungen die allgemeinen Einkommensverbesserungen nicht überstiegen?9

Über diese Fragen kam es zu einem langwierigen, folgenreichen Konflikt zwischen dem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister. Wie unter einem Brennglas gebündelt, lassen sich in diesen Monaten die Stärken und Schwächen der Kanzlerdemokratie, die Herrschaftstechniken und Disziplinierungsmethoden des ersten Kanzlers der Bundesrepublik erkennen. Adenauer stand damals allen restriktiven Wirtschaftsmaßnahmen skeptisch gegenüber. Besonders mit Blick auf den Bundestagswahlkampf und die dafür benötigten Finanzmittel und Spenden besaß er gerade in dieser Zeit ein offenes Ohr für die Forderungen der Wirtschaftsverbände.10

Vor allem Fritz Berg, von 1949 bis 1972 Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), konnte fest mit seiner Unterstützung rechnen, hatte er doch ohnehin »Zugang zu Adenauer, sooft er ihn wünschte«.11 Dieser massige Sauerländer, der, in den USA aufgewachsen und mit einer Amerikanerin verheiratet, noch bei Henry Ford am Fließband gestanden hatte, verkörperte einen Unternehmervertreter wie aus dem Bilderbuch – hart, direkt, zupackend. Das imponierte Adenauer, erleichterte das Gespräch zwischen den beiden. Berg war in der Lage, die Dinge einfach und praktisch zu sehen, wie es Adenauer schätzte.12 Darin unterschied er sich vermutlich auch vorteilhaft von Ludwig Erhard, der gelegentlich zu einer etwas professoralen Attitüde, zu langen, umständlichen Ausführungen neigte, wenn er wirtschaftspolitische Probleme erklärte. Und der Kanzler machte aus seiner Sympathie für Berg kein Hehl, ja er ging im Herbst 1955 sogar so weit, nicht nur vom Wirtschafts- und vom Finanzministerium, sondern auch vom BDI eine Denkschrift über die wirtschaftspolitische Lage anzufordern.13 Ein erstaunlicher Vorgang. Dadurch räumte er der Interessenvertretung der Industrie den Rang eines gleichberechtigten Partners zweier Fachministerien ein, brüskierte auf diese Weise zwei wichtige Minister seines Kabinetts – Ludwig Erhard und Fritz Schäffer.

Der Wirtschaftsminister war im Herbst 1955 darangegangen, die Überhitzung der Konjunktur auf seine Weise zu bekämpfen, durch das, was ihn neben vielem anderen berühmt gemacht hat: durch Maßhalteappelle, Seelenmassage, durch »moral suasion«.14 Häufig wandte er sich damals an die Öffentlichkeit, hauptsächlich an die Tarifpartner, deren Lohnpolitik den Produktivitätsrahmen zu sprengen schien. Ganz typisch sind jene Sätze aus einer Rundfunkansprache vom 7. September 1955: »Die Maßlosigkeit droht zu einer ernsten Gefahr für diese so erfreuliche Konjunktur zu werden, und darum tut vor allem anderen Besinnung not. Dies gilt umso mehr, als sich Konjunkturen nicht im luftleeren Raum abspielen, als wirtschaftliche Entwicklungen nicht nach mechanischen Gesetzen ablaufen, sondern von Menschen getragen und geformt werden … Ich glaube darum auch nicht, daß es sträflicher Optimismus ist, wenn ich darauf vertraue, daß Einsicht und Erkenntnis, guter Wille, gesunder Menschenverstand und wirtschaftliche Vernunft zuletzt noch obsiegen werden …«15

Aber es blieb nicht allein bei derartigen Apellen. Sie stellten ohnehin nur die erste Stufe seines wirtschaftspolitischen Aktionsprogramms dar. Als sich abzeichnete, dass sich das Preisklima weiter verschlechtern würde, suchte Erhard durch bestimmte Maßnahmen die dunklen Wolken zu vertreiben. Er verkündete eine neue Form der »Jedermann-Einfuhren« – dabei konnte jeder Bundesbürger bis zu einer bestimmten Höhe Waren des täglichen Bedarfs nahezu zollfrei im Ausland bestellen16 – und erkämpfte die Zustimmung des Bundestages für weitere Einfuhrliberalisierungen und Zollsenkungen.17 Natürlich entsprach dieses Vorgehen nicht den Interessen des BDI, mit dem der Wirtschaftsminister auch wegen der Kartellgesetzgebung damals schwer zu kämpfen hatte. Auf einer Sitzung im Bundeswirtschaftsministerium am 4. Oktober 1955, an der neben Erhard noch Finanzminister Schäffer, der Präsident der Bank deutscher Länder Vocke sowie der Hauptgeschäftsführer des BDI Wilhelm Beutler teilnahmen, kamen die unterschiedlichen Auffassungen deutlich zum Vorschein.

Beutler plädierte, der Denkschrift des BDI entsprechend, für höhere Abschreibungssätze, damit die Unternehmen noch stärker modernisiert und erweitert werden könnten, sowie für langsame, aber kontinuierliche Preissteigerungen.18 Erhard und Schäffer waren damit nicht einverstanden. Sie suchten die Hochkonjunktur zu dämpfen und hatten sich gegenüber Adenauer wie gegenüber dem BDI solidarisiert, indem sie entgegen der Anweisung des Kanzlers gemeinsam das gewünschte Memorandum ausgearbeitet hatten, welches sie nun erläuterten. Es sah vor, die öffentliche Bautätigkeit zu drosseln, durch umfassende Zollsenkungen das Warenangebot und damit den Wettbewerbsdruck zu erhöhen und so den inländischen Preisauftrieb zu dämpfen sowie Investitionsvorhaben steuerlich zu begünstigen, wenn diese für eine bestimmte Zeit zurückgestellt würden.19 Vocke unterstützte diese Zielsetzungen. Bereits im August 1955 hatte die Bank deutscher Länder durch die Verteuerung der Kredite und die Verknappung der Geldmenge zur Sicherung der Währungsstabilität beizutragen versucht. Man hoffte, so Hochkonjunktur und Preisauftrieb zu dämpfen.20

Obgleich Erhard um die Affinität zwischen Kanzler und BDI wusste, bemühte er sich um die Unterstützung des Bundeskanzlers für seinen und Schäffers Stabilitätskurs. In einem Schreiben an Adenauer vom 30. Januar 1956 warnte er vor einer Politik nach der Devise »Mitglieder aller Gruppen bereichert Euch!« und beklagte sich darüber, dass gerade der BDI nichts für die Preisdisziplin tue. Besonders jene Industrien (Eisen, Blech, Metallverarbeitung), die zu Fritz Berg in sehr engem Kontakt stünden, vollzögen laufend Preiserhöhungen.21 Erhard gab sich – völlig zu Recht – überzeugt, dass hier allein Adenauers Autorität ausreichen würde, »die Geister zu bändigen und der Entwicklung vorzubeugen, die zuletzt über uns alle und auch über Sie hinweggehen würde«.

Das waren starke Worte, aber Erhard war tief besorgt. Er fürchtete eine Weichenstellung, die den Wohlstandszug auf ein gefährliches Gleis bringen könnte. Tatsächlich fürchtete er bereits damals, dass der materielle Konsum zu einer ideellen Verarmung führen, der soziale Sicherungen garantierende Staat zum Wohlfahrts- und Gefälligkeitsstaat verkommen könne, als er schrieb: »Es mag Ihnen merkwürdig vorkommen, wenn ich als Wirtschaftsminister wünschen möchte, daß die nächsten Wahlen nicht um die Frage materiellen Wohlstands, sondern um höherer und entscheidender Dinge willen geführt werden … Kurz gesagt, ich möchte Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, dazu ermuntern, eine ernste und offene Sprache zu führen, und ich bin gewiß, das deutsche Volk wird Sie hören und Ihnen folgen … In treuer Verbundenheit, Ihr Ludwig Erhard«.

Bis in die Schlussformel hinein versuchte Erhard, seinem eindringlichen Appell an den Kanzler Nachdruck zu verleihen. Treue und Verbundenheit mit ihm hebt er wie einst schon gegenüber Vershofen hervor. Aber gibt es einseitige Treue, einseitige Verbundenheit? Nein, hier wurde – und das ist für Ludwig Erhard ganz charakteristisch – an ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis erinnert. Wie der Lehensherr im Mittelalter seinem getreuen Vasallen in der Fehde zur Seite stand, eben nicht allein der umgekehrte Fall die Regel war, sollte auch der Bundeskanzler seinem getreuesten Bannerträger im Kampf gegen die verschiedenen Interessengruppen zur Seite stehen. Aber Erhards Sorgen wuchsen, ohne dass der Kanzler reagierte, obwohl solche Überlegungen Konrad Adenauer damals wie später selbst beschäftigten.22 1956 konnte er sich allerdings nicht entschließen, seinen Wirtschaftsminister nachhaltig zu unterstützen. Wem sollte er glauben? Die Industrie spielte die Preiserhöhungen herunter, verharmloste die Entwicklung. Und neigte Erhard hier nicht tatsächlich zu einer unangebrachten Dramatisierung?

Die gute konjunkturelle Lage bot nämlich auch Chancen. Die Steuereinnahmen stiegen beträchtlich, damit natürlich auch der finanzielle Spielraum des Staates. Das sah Adenauer vermutlich sofort. Er wusste, wie wichtig das vor Wahlen sein konnte. Ohnehin hatte Finanzminister Schäffer fleißig die jährlichen Kassenüberschüsse zu einem ansehnlichen staatlichen Schatz zusammengetragen, der 1956 beachtliche sieben Milliarden umfasste und in Anlehnung an den Lagerungsort der französischen Kriegsentschädigungen nach den Kämpfen von 1870/71 im Turm der Spandauer Zitadelle »Juliusturm« genannt wurde.23 Aus diesem »Juliusturm« und den zu erwartenden künftigen Steuermehreinnahmen würden sich endlich jene Reformen finanzieren lassen, auf die die unterschiedlichsten sozialen Gruppen, etwa die Vertreter der Landwirte, der Kriegsopferverbände, der Rentner, seit Jahren drängten. Schon war in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Kommission von 18 Bundestagsabgeordneten am Werk, die Verteilung dieser Gelder vorzubereiten. Weil es sich dabei größtenteils um kaum verhüllte Wahlgeschenke handeln würde, bekam der Ausschuss rasch den passenden Spitznamen: »Kuchenausschuss«.24 All dies mag erklären, warum der Bundeskanzler zögerte, in den Wirtschaftsablauf einzugreifen.

Erhard, Schäffer und Vocke handelten daher im Alleingang – zumindest beinahe. Die Bank deutscher Länder erhöhte am 8. März 1956 den Diskontsatz um einen weiteren Prozentpunkt auf 4,5 Prozent. Damit wurde der Versuch unternommen, die Nachfrage erneut zu beschneiden, die Geldmenge noch stärker zu beschränken und vor allem die Refinanzierungskredite für die Banken nochmals zu verteuern. Das sollte diese veranlassen, durch eigene Zinserhöhungen Kredite unattraktiver zu machen und so den Boom zu bremsen.25 Im Kabinett war diese Maßnahme diskutiert worden. Sie konnte den Kanzler keinesfalls überraschen, zumal Erhard ihm vor der Kabinettsitzung am 14. März 1956 schriftlich mitgeteilt hatte, dass er die neuerliche Erhöhung des Diskontsatzes »nicht nur für richtig, sondern für unbedingt notwendig gehalten« habe. Die Wirkung sei »unter dem Gesichtspunkt der Konjunkturpolitik vor allen Dingen psychologischer Natur«.26

Umso erstaunlicher war es, dass Adenauer kurz vor seiner Abreise nach Ascona, wo er sich im Hotel Monte Verità erholen und auf den Stuttgarter CDU-Parteitag vorbereiten wollte, zu einer scharfen Attacke gegen seinen Wirtschaftsminister ansetzte. Er schickte ihm am 17. und 21. März 1956 zwei Briefe, die eine ganze Reihe gravierender Kritikpunkte, dagegen kaum Anzeichen für eine intakte Kommunikation enthielten. Vor allem das Schreiben vom 21. März sollte Erhard an die Endphase seiner Zusammenarbeit mit Vershofen und dessen Vorwürfe erinnern – und ihn tief kränken. Nachdem der Kanzler einleitend gebeten hatte, ihm »ein ganz offenes Wort nicht übel zu nehmen«, schrieb er:

»Sie wissen, wie sehr ich Ihren Mut und die Überzeugungskraft geschätzt habe, die Sie an den Tag gelegt haben, als Sie in konsequenter Weise sich gegen die Planwirtschaft gewandt haben. Ich habe aber den Eindruck, als wenn die Gefahren, die in einer andauernden Hochkonjunktur liegen, und die Professor Röpke in einer Artikelserie in der Neuen Zürcher Zeitung … kennzeichnet, von Ihrem Ministerium nicht rechtzeitig genug erkannt worden seien. Ich bin der Auffassung, dass Sie, sehr verehrter Herr Erhard, nicht so viel reisen sollten. Sie müssen sich unter allen Umständen mehr Ihrem Ministerium widmen, und zwar umso mehr, als Herr Staatssekretär Westrick auf Grund seiner ganzen Herkunft naturgemäß keinen Überblick haben kann über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen … Ich bin überhaupt der Auffassung, daß eine rigorose Nachprüfung der Besetzung der Ministerialdirektorenstellen im Hinblick auf die schwierigen wirtschaftlichen Probleme, die sich zeigen, absolut notwendig ist … Ich bin so deprimiert über die mangelnde Verbindung zwischen dem Wirtschaftsministerium einerseits und der Bank deutscher Länder und dem Präsident des Zentralbankrates [Karl Bernard] andererseits bei der wirtschaftspolitischen Entwicklung … daß sich mir die Frage stellt, ob ich nicht falsch gehandelt habe, als ich damals die Behandlung des Bankwesens Ihrem Ministerium übertrug …«27

Ein Brief, der nicht nur verletzend, sondern auch bedrohlich wirkte. Nach einem sparsamen Lob zu Beginn nur noch Kritik. Im ersten Teil eher lächerlicher Art. Es mutet schon etwas seltsam an, dass der Kanzler sich über das Bundeswirtschaftsministerium beschwerte, das für die Gefahren der Hochkonjunktur keinen Blick gehabt habe – wo sich doch dessen Chef seit Monaten bemühte, Schritte zu einer Stabilisierung und Dämpfung durchzusetzen. Und was sollte der Hinweis auf den Genfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Wilhelm Röpke und seine Serie in der Neuen Zürcher Zeitung bedeuten?28 Was dort stand, hatte Erhard ja in eigenen Worten ausgedrückt, sogar schon viel zeitiger. Wurde das nun richtiger, weil es ein berühmter deutscher Emigrant in einer für den Kanzler maßgeblichen Zeitung ausführte?

Mit Röpke fühlte sich Erhard völlig einig, vertraten sie doch beide neoliberale Positionen. Röpke, Hayek und Eucken hatten bereits ein Jahr nach dem marktwirtschaftlichen Urknall Ende 1949 Erhards Aufnahme in die hoch renommierte Mont Pèlerin-Gesellschaft am Genfer See bewirkt, wofür sich das Neumitglied unter den – dem Namen des Berges entsprechend – neoliberalen Pilgern am 13. Februar 1950 hocherfreut bei Eucken bedankt und erklärt hatte, dass es diese Mitgliedschaft »als eine besondere Ehre und Auszeichnung betrachte und selbstverständlich die Mitgliedschaft annehme«.29 Die Aufnahme in diesen von Friedrich August von Hayek 1947 begründeten illustren Zirkel von Akademikern, Geschäftsleuten und Journalisten zur Revitalisierung wirtschaftsliberaler Grundprinzipien dürfte Erhard tatsächlich gefreut haben. Aber dass Adenauer auf Röpkes Rat hörte, ihn sogar der CDU auf dem Stuttgarter Parteitag als Vordenker empfahl30, auf Erhards nahezu identische Warnungen dagegen überhaupt nicht einging, wirkte verletzend und entlarvend.

Weniger traf den Minister der Vorwurf, er solle nicht so viel reisen, sich mehr um die Verwaltungsarbeit kümmern. Das kannte er schon seit 1939/40 und dann natürlich aus dem bayerischen Untersuchungsausschuss. Anschließend hatten ihm ja sogar die ihm ansonsten durchaus wohlgesinnten Amerikaner den Spitznamen »Mr. Desorganisator« gegeben.31 Ein enger Mitarbeiter wie Roland Risse, der langjährige Ministerialdirektor im Bundeswirtschaftsministerium, stellte dazu rückblickend fest: »Natürlich war Ludwig Erhard kein ausgeprägter Verwaltungsfachmann, aber darauf kam es ja nicht an.«32 Erhard selbst hatte eben eine andere Vorstellung von seiner Tätigkeit: »Die Qualifikation eines Wirtschaftsministers leitet sich nicht nur aus der Fähigkeit des Organisierenkönnens ab. Es gibt Aufgaben, die nur aus der Souveränität eines ›frei schaffenden Künstlers‹ zu lösen sind.«33 Dem Journalisten Günter Gaus gegenüber bekannte er im April 1963 im »Gespräch« freimütig: »Verwaltungsmäßige Arbeit gehört nicht gerade zu meinen ausgesprochenen Leidenschaften, aber dazu hat ein Minister ja auch seine Beamten.«34

Das unterschied ihn natürlich fundamental von Adenauer. Freischaffende Künstler hatten nach des Kanzlers Meinung an der Spitze von Bundesministerien nichts zu suchen – sie gehörten auch auf keinen Fall ins Palais Schaumburg.35 Und ob sich Erhard wirklich so auf seine Beamten verlassen konnte – und durfte –, war für den genuin misstrauischen Kanzler doch sehr die Frage. Seinen Hinweis allerdings, dass eine umfassende Überprüfung der wichtigsten Stellenbesetzungen in Erhards Ministerium notwendig sei, empfand dieser wie eine kaum verhüllte Drohung. Beabsichtigte der Bundeskanzler etwa, seine, des Wirtschaftsministers, bewährte Mannschaft in Bonn-Duisdorf auseinanderzureißen?

Was hatte Adenauer überhaupt bewogen, einen solchen Brief zu schreiben? Darüber lässt sich nur spekulieren. Seine Position war im Frühjahr 1956 angeschlagen. Seinem Machtinstinkt folgend, mochte er bereits allein die Tatsache der engen Zusammenarbeit von Erhard, Schäffer und Vocke alarmierend finden. In Erhard selbst konnte er darüber hinaus gelegentlich doch schon einen potentiellen Rivalen erblicken, zumindest einen Politiker, dem es als einzigem Kabinettsmitglied mehr und mehr gelungen war, aus seinem Schatten herauszutreten. Der Wirtschaftsminister war populär und wurde immer populärer – die Überlegungen in der Unionsspitze, man müsse ihn auf dem Stuttgarter Parteitag demonstrativ in den Parteivorstand wählen, eventuell sogar zum stellvertretenden Parteivorsitzenden machen36, hatte Adenauer gewiss mit Unmut zur Kenntnis genommen. Dass Erhard auf dem Parteitag dann überhaupt nicht erschien, war das sein Werk? Auch auf dem Kölner CDU-Parteitag 1954 hatte nicht Ludwig Erhard, sondern der Bankier Hermann J. Abs das entscheidende Referat über »Die veränderte wirtschaftliche Stellung Deutschlands in der Welt« gehalten. Zeigte sich also ganz allgemein das Bestreben des Rhöndorfer Parteitagsregisseurs, den Minister nicht zu sehr nach vorne zu schieben, herauszustellen, ihn wieder stärker zu disziplinieren?

Mit seinem Antwortschreiben ließ sich Ludwig Erhard auffallend viel Zeit. Er benützte die Osterfeiertage, um in seinem Urlaubsort Bad Wörishofen eine Entgegnung auszuarbeiten. Es wurde eine 17 Seiten umfassende »Abhandlung«, die erst am 11. April abgesandt werden konnte. Schon aus dem Ton der ersten Abschnitte lässt sich erkennen, wie tief Erhard getroffen war. Nachdem er zu Beginn seinerseits ebenfalls darum gebeten hatte, der Bundeskanzler möge ihm seinerseits »eine freimütige Sprache nicht übelnehmen«, fuhr er fort:

»Ich habe es oft als bitter, ungerecht und kränkend empfunden, wenn Sie in Kabinettssitzungen oder bei anderer Gelegenheit die von mir vertretene Wirtschaftspolitik herabzuwürdigen oder doch hinsichtlich ihrer Konsequenz in Zweifel zu ziehen suchten. Selbst wenn ich dabei in Rechnung stelle, dass Sie nicht als Sachverständiger zu urteilen vermögen und deshalb ihre Kritik nur im Gefühlsmäßigen wurzelt, bleibt davon doch der bittere Nachgeschmack, dass Sie gerade die Arbeit jenes Ministers in Zweifel ziehen, der Ihnen wohl mehr als jeder andere in sechs Jahren treuer, menschlicher Verbundenheit den Boden für Ihre Regierungspolitik bereitet hat. Ohne die überzeugenden Erfolge unserer Wirtschaftspolitik wäre wahrscheinlich schon im Jahre 1949 die politische Entwicklung in Deutschland anders verlaufen. Daß Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, gerade in politisch bewegten Zeiten, die auch ökonomisch stärkere Ausschläge zeitigen, mein wirtschaftspolitisches Handeln und Verhalten nicht immer billigen, hat sich erstmals schon bei der Korea-Krise deutlich genug ausgeprägt, als Sie es für notwendig erachteten, sich neben – oder besser über – den Wirtschaftsminister hinweg in der Person des Herrn Dr. Ernst einen wirtschaftlichen Sonderberater in Ihr Haus zu nehmen. Daß er Ihnen seinerzeit gerade das Falsche zu tun empfahl und ich mit meiner als Sturheit empfundenen Weigerung, wieder dirigistische Maßnahmen einzuleiten, recht behielt, ist in der Zwischenzeit nicht nur von den amerikanischen Behörden, sondern vor allen Dingen auch von der internationalen Wissenschaft als allein richtig anerkannt worden und hat in vielen Veröffentlichungen dieser Art seinen Niederschlag gefunden.

Für die Wirtschaftspolitik gibt es kein allgemeingültiges Rezeptbuch noch einen Fahrplan, nach dem sich der Gang der Ereignisse bestimmen ließe. Ausgehend von einem festen Ordnungssystem, das wir freie bzw. soziale Marktwirtschaft nennen, herrscht je nach den ökonomischen Gegebenheiten in Bezug auf die Auswahl und Kombination der wirtschaftspolitischen Mittel eine große Freizügigkeit des Gestaltens vor. Starr und unbeugsam stehe ich nur solchen politischen Forderungen gegenüber, die das Ordnungsgefüge im Ganzen zerstören würden, während ich mich bemühe, in der täglichen Wirtschaftspolitik … so frei und wendig als nur möglich zu sein. Gerade dieses Verhalten aber fassen Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, wie ich glaube, häufig als Inkonsequenz oder als eine Art Unsicherheit auf, denn nicht anders könnte ich sonst manche Kritik deuten. Sie mögen es mir auch nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen sage, daß jedes wirtschaftspolitische Gespräch, das wir im Gesamt-Kabinett führen, nach meinem Gefühl unbefriedigend verläuft, weil einmal zu wenig Kollegen sachverständig zu urteilen vermögen, und Sie selbst nicht die Geduld aufbringen, ein Ihrer Auffassung entgegenstehendes sachliches Urteil ruhig anzuhören …«37

Kein Zweifel, hier wurde abgerechnet. Ein Enttäuschter zog Bilanz. Und er holte weit aus. Ein Mann hatte mit seinem Mut zu eigenen Entscheidungen noch vor der Gründung der Bundesrepublik das Fundament für alles Weitere gebaut, hatte die Basis für die erfolgreiche Politik Adenauers gelegt: er selbst, Ludwig Erhard. Und hatte er nicht recht damit? Wäre 1949 ohne seine Wirtschaftspolitik nicht doch Kurt Schumacher Kanzler geworden? Wie anders wäre die Entwicklung in der Bundesrepublik dann verlaufen! Was erhoffte sich Erhard als Gegenleistung? Vertrauen. Anerkennung. Partnerschaftliche Zusammenarbeit, wie er sie bei Oppenheimer und in den ersten zehn Jahren bei Vershofen erlebt hatte – auch sie ja um einiges älter als er selbst. Nicht umsonst hing Oppenheimers Fotografie in seinem Dienstzimmer im Ministerium.

Doch Adenauer war anders. Er reagierte auf die Verehrung, die ihm Erhard entgegenbrachte, kühl und abweisend – nachdem die erste Bundestagswahl gewonnen worden war. Er betonte die Distanz. Schon bei den ersten Koalitionsverhandlungen waren entsprechende Hoffnungen Erhards enttäuscht worden. Da die CSU mit Fritz Schäffer das wichtige Finanzressort erfolgreich für sich beansprucht hatte und Franz Blücher von der FDP hier leer ausgegangen war, wurde dieser vom Kanzler mit der verfassungsmäßig wenig bedeutsamen Vizekanzlerschaft und einem neu geschaffenen Ministerium für den Marshallplan abgefunden. Dessen Kompetenzen waren vor allem aus dem Wirtschaftsressort herausgebrochen worden – über Erhards Kopf hinweg, der am 20. September 1949 seine Ernennungsurkunde erhalten hatte, nachdem Konrad Adenauer fünf Tage zuvor gewählt und vereidigt worden war.

Zwei Monate später, am 24. November, beschwerte sich Erhard mit einem ersten »Persönlich! Geheim!« überschriebenen Alarmbrief erstmals bei Adenauer darüber, dass Blücher offenbar versuche, ihn auf den Posten des Bundesbankpräsidenten abzuschieben. Er beschwor Adenauer, »um die soziale Marktwirtschaft … zu einem segensreichen Ende« führen zu können, seinem Wirtschaftsminister auch die »ihm ressortmäßig zustehende Aufgabe der Führung der Wirtschaftspolitik« zuzuerkennen. Noch glaubte er an eine gedeihliche gleichberechtigte Partnerschaft und endete voll Pathos: »Ich habe das sichere Gefühl, daß wir beide, Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, auf politischem und ich auf wirtschaftlichem Felde, die glückliche Zukunft Deutschlands in Händen halten!«38

Doch sehr rasch folgte die Ernüchterung. Adenauers Antwort vom 30. November muss wie eine eiskalte Dusche gewirkt haben. Adenauer kritisierte erstmals schriftlich, was er zuvor wohl schon mündlich und was einst auch Vershofen moniert hatte: »Wie Sie wissen, habe ich nicht den Eindruck, daß Ihr Ministerium organisatorisch so gestaltet und personaliter so besetzt ist, daß eine ruhige und Ihnen und den Intentionen der Bundesregierung entsprechende Fortführung der Geschäfte gewährleistet ist.«39 Dieser kurze Brief trägt weder Anrede noch Grußformel. Das war bei Adenauer die Höchststrafe.

Unzweifelhaft war, was den Kanzler anging, der kurze Honeymoon zwischen beiden schon jetzt vorbei. Bereits wenige Monate nach dem Amtsantritt ging Adenauer für die Abgeordneten der Union überaus sichtbar auf Distanz zu Erhard. Am 31. Januar sagte er in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wörtlich: »Es ist zu überprüfen, ob es nicht an der Zeit ist, den Kurs unserer Wirtschaftspolitik zu überprüfen und an deren Stelle eine konkrete Behandlung der Wirtschaft vorzunehmen.«40 Angesichts rapide ansteigender Arbeitslosenzahlen, die auf vier Millionen zustrebten, mag diese Aussage und der Ruf nach »konkreter Behandlung«, also staatlichen Konjunkturprogrammen, die Erhard zu jenem Zeitpunkt noch vehement ablehnte, verständlich erscheinen. Dennoch weckte die Bemerkung Besorgnisse in der Fraktion. Was Adenauer dem beunruhigten Theo Blank am 2. Februar antwortete, hätte Ludwig Erhard am allermeisten mit Sorge erfüllen müssen: »Ich habe nicht über unsere Wirtschaftspolitik gesprochen, sondern über das Wirtschaftsministerium und Herrn Minister Erhard. Daß ich unsere Wirtschaftspolitik nach wie vor für richtig halte, ist klar.«41

In dieser frühen Phase Anfang 1950 bat Adenauer auch Wilhelm Röpke um ein vertrauliches Gutachten über die Qualität der Wirtschaftspolitik seines Ministers. Dass dieser daraufhin mit einem fulminanten Lob aufwartete, nahm der Sache nicht ihren Stachel. Erhard, von Röpke über die Anfrage aus dem Palais Schaumburg informiert, musste in ihr zwangsläufig ein Indiz für die tiefsitzende Skepsis, ja sogar das Misstrauen des Kanzlers gegenüber ihm und seiner Konzeption erblicken.42 Er wusste jetzt, dass er sich als Minister auf dünnem Eis bewegte. Statt der erhofften festgefügten Partnerschaft war für ihn die interne Zusammenarbeit mit Adenauer schon früh zu einem Ritt über den Bodensee geworden.

Wahrscheinlich ging es Erhard in den ersten Jahren so wie dem gleichaltrigen Thomas Dehler, der Adenauer ebenfalls sehr bewunderte – trotz dessen Unnahbarkeit.43 Auch bei Dehler wurde dieses Gefühl der Verehrung früh und nachhaltig verletzt. Dehler musste 1953 sogar aus dem Kabinett ausscheiden und gehörte von da an bis zum Tode Adenauers zu dessen erbittertsten Kritikern. Günter Gaus gegenüber gab er 1963 zu, dass dabei das Gefühl der »enttäuschten Liebe« eine wesentliche Rolle gespielt habe44 – eine Aussage, die sich durchaus auf das Verhältnis Erhards zu Adenauer übertragen lässt. Zwar blieb der Wirtschaftsminister 1953 im Kabinett, aber auch für ihn brachte bereits die erste Legislaturperiode herbe Zurücksetzungen. Nach den Lobesworten und dem Zuckerbrot vor der ersten Bundestagswahl 1949 zeigte ihm der Kanzler hinterher mehr und mehr die Peitsche seiner Disziplinierungsmaßnahmen.

Nur einmal, am 23. September 1950, hatte ihn der Bundeskanzler als einzigen Minister zu einer Arbeitsbesprechung mit den Hohen Kommissaren John McCloy, Sir Ivonne Kirkpatrick und André François-Poncet auf den Petersberg mitgenommen, danach nie wieder. Erhards Hoffnung auf eine Fortsetzung dieser exklusiven Kooperation zerschlugen sich rasch. In den Folgejahren monopolisierte Adenauer den Zugang zu den Herren an der Spitze der Besatzungsmächte vollständig – ein wichtiges Herrschaftsmittel, um den Informationsfluss von dort oben in den Regierungsapparat hinein ganz allein lenken und kontrollieren zu können.


Ein einziges Mal, am 23. September 1950 während der Korea-Krise, durfte Erhard den Bundeskanzler allein zu den Hohen Kommissaren begleiten – und fühlte sich sichtlich unwohl dabei: (v. l. n. r.) McCloy, Erhard, Kirkpatrick, Adenauer, François-Poncet.

In jenen ersten Jahren nach Gründung der Bundesrepublik hatte Erhard zudem manchen Strauß mit den Sozialdemokraten auszufechten. Er wurde gar zum erbittert attackierten Hauptgegner der SPD. Vor allem der linke Ökonom und SPD-Bundestagsabgeordnete Erik Nölting, pikanterweise wie Erhard ein Schüler und Doktorand Oppenheimers, forderte ihn wiederholt bis zu seinem Tod im Sommer 1953 zu eindrucksvollen Rededuellen heraus, die der Wirtschaftsminister meist glänzend zu bestehen wusste.45 »Ihre Form des Liberalismus, ganz gleich, ob sie sich als Neo-Liberalismus oder sozialer Liberalismus bezeichnet, ist ein angestaubter Ladenhüter. Auf dem Rücken der kleinen Lohn- und Gehaltsempfänger und Sozialrentner vollzieht sich der Wiederaufbau. Soziale Gerechtigkeit ist nicht einfach ein natürliches Kind der Freiheit. Nie war es so notwendig, daß der Staat fördert, ausgleicht, zurechtrückt und abwehrt. Man kann heute nicht mit dem Lehrbuch von Adam Smith durch die Wirtschaft stolpern. Wir brauchen eine Umrichtung des Kurses auf soziale Verträglichkeit«, hält ihm Nölting, in einem ihrer großen, vom Rundfunk übertragenen Streitgespräche Ende 1948 entgegen. Erhard kontert: »Mir ist von der SPD schon fast alles vorgeworfen worden, abgesehen vom Lustmord. Ich bin kein Knecht der Kapitalisten und ihr folgsames Vollzugsorgan. Meine Haltung ist ganz bestimmt sozial. Mein Hauptgegner ist die Bürokratie, von der wir wissen, wie sie sich gebärdet, Menschen quält und herabwürdigt …«46

Mit solch unerschrockenen Zurückweisungen sozialdemokratischer Attacken wurde Erhard schon früh populär. Tatsächlich zog er Wählerstimmen an wie Nektar die Bienen. Zugleich werden ihn die permanenten Anfeindungen von links mit einem gewissen Stolz erfüllt haben. Und als die Gewerkschaften noch 1951 auf Demonstrationen Transparente mit der Aufschrift »Weg mit Erhard und Adenauer« mitführten47, wird er das als Kompliment aufgefasst haben – er wurde ja als Hauptgegner angesehen, sein Name stand noch vor dem des Kanzlers.

Adenauer profitierte gewiss von den die Öffentlichkeit stark beschäftigenden Aktivitäten seines bekanntesten und zugleich umstrittensten Ministers. Denn nicht nur die SPD, auch die Hohen Kommissare verfolgten die Wirtschaftsentwicklung mit Argusaugen.48 Der Kanzler hütete sich aber vielleicht gerade deshalb, zu sehr für seinen Wirtschaftsfachmann Partei zu ergreifen. Obwohl ihn die SPD am 18. Juli 1950 in einem Antrag im Bundestag aufgefordert hatte, Erhard zu entlassen – das Grundgesetz ließ, anders als die Weimarer Verfassung, direkte Misstrauensanträge nicht mehr zu –, musste sich der Minister zehn Tage später allein verteidigen, als im Parlament über diesen Antrag debattiert und abgestimmt werden sollte. Adenauer unterbrach deshalb seinen Urlaub am Vierwaldstätter See nicht.49

Damals erlebte die Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskanzler und Ludwig Erhard überhaupt ihre erste heftige Belastungsprobe – wie der Bundeswirtschaftsminister in seinem Brief vom April 1956 andeutete. Der im Juni 1950 ausgebrochene Korea-Krieg löste eine für die Wirtschaft der Bundesrepublik zunächst bedrohliche Kettenreaktion aus. Die Rohstoffe wurden knapp, da die Rohstoffpreise rapide gestiegen waren und das Land damals nur über unzureichende Devisenreserven verfügte. Aber auch Nahrungsmittel wurden rasch teurer.50 Die Forderung nach einem Preisstopp, nach einer Rückkehr zur staatlichen Wirtschaftslenkung wurde in dieser Situation nicht nur von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten erhoben. Auch in der Union meldeten sich wieder besorgte, Erhard gegenüber kritische Stimmen.51 Meinungsumfragen erbrachten in der Zeit der Korea-Krise dementsprechend katastrophale Ergebnisse für den Wirtschaftsminister – während gerade einmal noch 14 Prozent seinen Kurs befürworteten, war über ein Viertel rundweg dagegen. »Von Erhard habe ich eine schlechte Meinung!«, bekannten sie.52

Schließlich griffen sogar die Amerikaner massiv in die Auseinandersetzungen ein. Am 6. März 1951 forderte der Hohe Kommissar John McCloy in einem Schreiben den Bundeskanzler in kaum verhüllter ultimativer Form auf, zu direkten staatlichen Bewirtschaftungs- und Verteilungsmaßnahmen, zu Preis- und Devisenkontrollen, zu Prioritätsfestsetzungen und Planungsstäben zurückzukehren, also mit einem Wort: die staatliche Planwirtschaft wieder zu etablieren. Durch die Drohung, andernfalls würden die Vereinigten Staaten ihre subventionierten Rohstofflieferungen und Dollarhilfen für die Bundesrepublik massiv kürzen, verlieh der Hohe Kommissar diesem »Wunsch« der westlichen Hegemonialmacht besonderen Nachdruck.53

Eine Annahme dieser weitgehenden amerikanischen Forderungen hätte tatsächlich eine Abkehr vom marktwirtschaftlichen System bedeutet. McCloy und mit ihm die Mehrzahl der Verantwortlichen in Washington glaubten aber an die Notwendigkeit einer solch radikalen Umkehr, zumal sich die USA selbst genötigt sahen, Preiskontrollen in Verbindung mit einer Zentralisierung ihrer Wirtschaftsplanung einzuführen. Der Hohe Kommissar suchte die amerikanische Anordnung daher auch Erhard sowie Finanzminister Schäffer in einer vielstündigen erregten Diskussion verständlich zu machen.54 Erhard musste denn auch eine Importdrosselung akzeptieren, musste eine schärfere Devisenkontrolle und ein Investitionshilfeprogramm für die Grundstoffindustrie in Höhe von 1,2 Milliarden D-Mark hinnehmen, kämpfte aber wie ein Löwe gegen alle weitergehenden Konzessionen.55

Wie verhielt sich Adenauer? Von ihm würde der Ausgang des Tauziehens ganz entscheidend abhängen. Am 12. Februar 1951 hatte er vor dem Bundesausschuss der CDU erklärt, dass er kein prinzipieller Anhänger der Marktwirtschaft sei, sondern sie nur so lange befürworten könne, wie sie Erfolge aufzuweisen habe56 – eine weitere, für den Wirtschaftsminister nicht gerade beruhigende Äußerung. Im Verlauf der gesamten Korea-Krise vermochte sich der Kanzler nicht zu einem klaren innerparteilichen, geschweige denn öffentlichen Vertrauensvotum für Erhard durchzuringen. Immerhin beteiligte er ihn ebenso wie Finanzminister Schäffer an der Formulierung des Antwortschreibens an McCloy, übernahm dabei ihre zentralen Argumente, mit welchen das einschneidende amerikanische Gesuch mehr oder minder deutlich zurückgewiesen werden konnte. Dabei kam der Bundesregierung besonders zustatten, dass die Industrieverbände sich freiwillig bereit erklärt hatten, gewisse Lenkungsaufgaben zu übernehmen, was die geforderten staatlichen Eingriffe weitgehend überflüssig machte.57

Auch wenn sich Adenauer hier letztlich doch hinter Erhard stellte, wurde ihre Zusammenarbeit in diesen Monaten immer schwieriger, reibungsvoller, war das einstige Vertrauensverhältnis bereits empfindlich gestört. Beiderseitiges Misstrauen diktierte die jeweiligen Handlungen, ja, es kam zwischen Kanzler und Wirtschaftsminister gelegentlich zur offenen Konfrontation. Gerd Bucerius, damals CDU-Bundestagsabgeordneter, erinnerte sich: »Einmal habe ich Adenauer vor Wut nach Luft schnappen sehen. Er war in der Korea-Krise Erhard stark angegangen: Wann denn nun ›de Preise nich mehr steijen würden‹. Erhard: ›Spätestens im Herbst.‹ Adenauer: ›Woher wissen Se dat?‹ Erhard: ›Das weiß ich mit nachtwandlerischer Sicherheit.‹«58 Genau diese »nachtwandlerische Sicherheit« leuchtete Adenauer überhaupt nicht ein. Ein Somnambuler hatte auf der Kommandobrücke des Wirtschaftsressorts nix verloren. Und auf die prophetischen Gaben eines Volkswirtschaftlers mochte er sich gleich gar nicht verlassen. Wie hatte er doch einmal nach einem längeren Vortrag von Erhard selbst erklärt: »Lassen Sie es mal gut sein, Herr Erhard, mit Ihrer Volkswirtschaft. Wissen Sie, meine Herren, über die Volkswirtschaft, da hat mir Herr Duisberg59 einmal jesagt: ›Volkswirtschaft ist pathologische Anatomie, da kann man nachträglich, wenn es schief jejangen ist, feststellen, warum es schief jejangen ist, vielleicht.‹ Sehen Sie, Herr Erhard, dat ist Ihre janze Volkswirtschaft.«60

Musste man nicht damit rechnen, dass sich die Dinge in einer anderen als der von Erhard vorhergesagten Weise gestalteten? Da galt es, sich vorzusehen, ein »Schiefgehen« zu verhindern. Deshalb berief der Bundeskanzler im März 1951 einen kleinen Kreis von Wirtschaftsexperten in das Palais Schaumburg. Unter der Leitung des Berliner Bankiers Friedrich Ernst, wie Abs gleichfalls ein Teilhaber des Bankhauses Delbrück, Schickler & Co., nach dem Krieg dann Verwaltungsratsvorsitzender der Berliner Zentralbank, sollte diese Gruppe den Kanzler beraten, Gegenpositionen zu Erhards gelegentlich recht hochfliegenden Plänen entwickeln. Ja, Adenauer dachte sogar daran, Ernst zum Vorsitzenden eines gesonderten Wirtschaftskabinetts zu machen oder ihm ein Oberministerium für Wirtschaftsfragen anzuvertrauen, in welchem der Bundeswirtschaftsminister keine wichtige Rolle mehr würde spielen können.61

Obwohl aus diesen personaltaktischen Plänen und Überlegungen wenig wurde, weil sich die volkswirtschaftliche Gesamtlage erstaunlich rasch in der von Erhard vorhergesagten Weise stabilisierte – fast überall in der westlichen Welt blockierten Rüstungsaufgaben vorhandene Produktionskapazitäten, stieg die Nachfrage nach nichtmilitärischen westdeutschen Ausfuhrgütern entsprechend an, was den berühmten Korea-Boom in der Bundesrepublik bewirkte62 –, sprach aus ihnen doch des Kanzlers geringes Vertrauen in die Fähigkeiten seines Wirtschaftsministers. Im Frühjahr 1951 konnte es jedenfalls kaum mehr einen Zweifel geben: Adenauer suchte eine Auffangposition, einen möglichen Nachfolger Erhards aufzubauen, um gewappnet zu sein, falls wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten eine Ablösung des Ministers erforderlich werden ließen.


Erhard stemmt sich erfolgreich gegen die Rückkehr zur Bewirtschaftung. Die Korea-Krise mündet, wie von ihm prognostiziert, rasch in den Korea-Boom.

Dieser für ihn bedrohlichen wie bedrückenden Entwicklung mochte Erhard nicht tatenlos zusehen. Mit der am 19. März 1951 gegen den ausdrücklichen Wunsch Adenauers erfolgten Berufung des Vorstandsvorsitzenden der Hamburger Phoenix Gummiwerke AG Otto A. Friedrich zum Rohstoffberater des Wirtschaftsministeriums wurde dem Kanzler der Kampf angesagt. Ihm und den Alliierten sollte demonstriert werden, dass das Wirtschaftsministerium selbst durchaus tatkräftig die schwierige Rohstofffrage in den Griff bekommen werde.63 Dass Erhard einen bekannten Kritiker seiner Politik wie Friedrich, der damals einen Arbeitskreis für privatwirtschaftliche Wirtschaftslenkung beim Bundesverband der Deutschen Industrie leitete, schließlich für sich gewinnen konnte, war in diesem März 1951, als für den Minister so vieles auf dem Spiel stand, sicher ein Erfolg.64

Es blieb nicht der einzige Lichtblick. Auf erfreulich positive Resonanz in den Koalitionsparteien war Erhard schon am 14. März 1951 bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag gestoßen. Der Beifall war auf wohltuende Weise laut und vernehmlich gewesen, als er in einer leidenschaftlichen Ansprache seine Wirtschaftspolitik gegen die Attacken von SPD und KPD verteidigte und ausrief, dass er nichts von seiner Verantwortung als Wirtschaftsminister auf- beziehungsweise abzugeben gedenke.65 Eine unmissverständliche Warnung an die Adresse des Bundeskanzlers verbarg sich hinter seinen Worten. Dessen »Bemühungen« um Friedrich Ernst waren natürlich nicht unbemerkt geblieben und hatten die Stellung, die Autorität des Wirtschaftsministers zweifellos untergraben.

In der Korea-Krise wurde Erhard erstmals auf schmerzliche Weise mit der Regierungs- und Herrschaftstechnik Adenauers konfrontiert. Der Bundeskanzler – wie Wilhelm Vocke anmerkte, »auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Finanzen und der Währung gewiss kein Fachmann«66 – suchte sich stets durch verschiedene Berater und Beratungsgremien informieren zu lassen, um dann, nach dem Motto divide et impera, unabhängig von einer einzelnen Stimme, etwa von Erhards Ratschlägen, eine Entscheidung zu treffen. Unmittelbar nach Bildung der ersten Bundesregierung hatte er bereits damit begonnen und mit Hermann Josef Abs und Robert Pferdmenges zwei Wirtschaftsexperten ohne Ressortkompetenz sogar zu einer wichtigen Kabinettsitzung hinzugebeten.67 Im November 1949 bildete der Kanzler dann einen Kabinettsausschuss, der monatlich zusammentrat und ihm in Fragen des Wiederaufbaus, der Notenbank und des Kreditwesens mit Empfehlungen zur Seite stehen sollte. Dem Gremium gehörten neben den Ministern Blücher, Erhard und Schäffer auch Karl Bernard, Wilhelm Vocke, Robert Pferdmenges und Hermann J. Abs an. Aus diesem Ausschuss entwickelte sich wenig später das sogenannte Wirtschaftskabinett, das dann unter dem Vorsitz von Vizekanzler Blücher tagte.68

Selbst nachdem die Konzeption der Marktwirtschaft Ende 1951 den – so Hans-Peter Schwarz – »Wettlauf mit der Zeit« gewonnen hatte, Erhard wesentlich unangefochtener amtierte, setzte der Kanzler diese Art des Umgangs mit Informanten und Informationen fort.69 Am 14. Januar 1954 wurde von ihm noch ein »Kleiner Kreis« einberufen, ausschließlich zu seiner persönlichen Beratung in Fragen der Ökonomie, dem nunmehr keine Minister, sondern allein Männer der Wirtschaft und der Banken angehörten: der von Adenauer hochgeschätzte Bankier Abs, der bei seiner erfolgreichen Aushandlung des Londoner Abkommens zur Regelung der deutschen Auslandsschulden das in ihn gesetzte Vertrauen glänzend gerechtfertigt hatte; neben ihm Karl Blessing, Vorstandsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Margarine-Union AG (Hamburg), dann Fritz Berg, Karl Bernard, Robert Pferdmenges, Wilhelm Vocke und einige weitere Herren.70 Außerdem stand Adenauer kontinuierlich ein kleines, aber effizientes, für Wirtschaftspolitik zuständiges Referat im Kanzleramt zur Verfügung, um das Bundesministerium für Wirtschaft zu »beaufsichtigen«.

Das alles spielte bei Erhards Brief vom April 1956 unterschwellig eine Rolle, ebenso wie die Kompetenzverlagerungen, die Adenauer im Lauf der Jahre angeordnet und durchgesetzt hatte. So verlor das Bundeswirtschaftsministerium 1953 beispielsweise die Zuständigkeit für Handelsverträge, als der Kanzler, der zugleich dem Auswärtigen Amt vorstand, dort mithilfe von Beamten aus dem Wirtschaftsressort (Rolf Lahr etwa zog damals ins Auswärtige Amt um) eine eigene handelspolitische Abteilung aufbaute; die Zuständigkeit für Wasserwirtschaft und für Atomfragen wechselte ebenfalls.71

Sollte sich das nun fortsetzen? Erhard reagierte jedenfalls ausgesprochen allergisch auf die in Adenauers Schreiben vom März 1956 enthaltene Andeutung, seinem Ministerium solle eventuell die Zuständigkeit für das Bankwesen, für Geld und Kredit wieder entzogen werden. Gerade um diese Zuständigkeit hatte er lange kämpfen müssen. In den für ihn, für seinen Kurs so kritischen Jahren 1950/51 hatte der Kanzler ihm diese wesentliche Kompetenz vorenthalten, obwohl Erhard zu seinen Gunsten anführen konnte, dass die Abteilung »Geld und Kredit« traditionell zum Wirtschafts- und nicht zum Finanzressort gehörte. Erst nachdem Erhard und seine Mitarbeiter die bedrohliche Krise bravourös durchgestanden hatten und zahlreiche Experten sowie Abgeordnete des Deutschen Bundestages sich für eine solche Regelung starkmachten, rang sich Adenauer im März 1952 dazu durch, dem Wirtschaftsressort diese Abteilung zu übertragen – eine Entscheidung, die vom Kabinett ausdrücklich gebilligt wurde.72 Umso aufgebrachter war Erhard vier Jahre später, als ihm der Kanzler zu verstehen gab, er werde diesen Beschluss möglicherweise revidieren. Nachdem der Minister seinen engen Kontakt zur Bank deutscher Länder und die gute Zusammenarbeit mit Vocke beim Neuaufbau des Bankwesens nach dem Krieg hervorgehoben hatte, schrieb er: »Sachlich liegt also zweifellos kein Grund für eine Veränderung der Zuständigkeiten vor und aus diesem Grunde müßte eine solche Maßnahme als ein fast persönliches Mißtrauensvotum mir gegenüber aufgefaßt werden. Sie wissen, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, dass ich mit der Ankündigung meines Rücktritts weder spiele noch drohe, aber in einem solchen Falle wäre mein diesbezüglicher Entschluß unwiderruflich …«73

Es musste sich viel Belastendes angesammelt haben, um Erhard zu einer derart heftigen Reaktion zu bewegen. Seine Ausführungen lassen weitere Reibungspunkte erkennen. Das offene Ohr des Kanzlers für die Interessengruppen, für die Wünsche ihrer Spitzenfunktionäre hielt der Wirtschaftsminister für gefährlich; dass Adenauer dabei meist ohne ihn, gewissermaßen hinter seinem Rücken verhandelte, empfand er als persönliche Brüskierung:

»Daß … die eine oder andere Maßnahme meines Ministeriums, wie z.B. das Drängen nach weiteren Zollsenkungen oder fortschreitender Liberalisierung oder der Kampf gegen Preisbindungen, Kartelle und Wettbewerbsbeschränkungen …, von den jeweiligen Interessentenkreisen nicht freudig bejaht wird, ist zwar verständlich genug, aber spricht bestimmt nicht gegen die Richtigkeit dieser Wirtschaftspolitik. Hier allerdings ist Härte und Unnachgiebigkeit am Platze, denn wenn wir den Gruppeninteressen folgen wollten, würden wir nicht nur alles, was wir errungen haben, aufs Spiel setzen, sondern sogar leichtsinnig verscherzen. Was in solchem Zusammenhang an Kritik bzw. Zweifel und Ablehnung an Sie herangetragen wird, kann mir die Ruhe und Sicherheit gewiß nicht rauben, umso mehr jene Funktionäre – oder es mögen auch Präsidenten sein – zwar organisatorisch, aber bestimmt nicht moralisch und tatsächlich berufen sind, für die wirtschaftenden Menschen als Einzelpersönlichkeiten zu sprechen. Ich bedaure es deshalb auch, daß Sie mich zu solchen Unterhaltungen nie hinzuziehen, denn ich bin mir bewußt, daß der Tenor dieser Ihnen gegenüber abgegebenen Erklärungen ein anderer wäre, wenn solche Aussagen sozusagen unter sachverständiger Kontrolle stehen würden …«74

Adenauer warb – besonders wenn Wahlen näher rückten – verstärkt um die Unterstützung der Verbände, der Gewerkschafts- wie der Unternehmervertreter. Unter dem Primat der Außenpolitik war er zu innenpolitisch-wirtschaftspolitischen Zugeständnissen bereit, während Erhard nicht so sehr den Wahlausgang, sondern vor allem die Richtigkeit seiner Konzeption und deren Verwirklichungschancen im Auge behielt.75

Den Spitzenfunktionären blieb dieser Zusammenhang nicht verborgen, und so versuchten sie gelegentlich, über den direkten Zugang zum Bundeskanzler Erhards Zielsetzungen zu konterkarieren. Ein Beispiel dafür bietet – en miniature – die Aktion von Fritz Berg, die im Mai 1956 zur »Gürzenich-Affäre« führte.76 Da zeigte sich auch, dass Erhards Befürchtung, der Kanzler entscheide nicht als wirtschaftspolitisch Sachverständiger, sondern lasse sich von taktischen Gesichtspunkten leiten, nur zu berechtigt war.

Umso wichtiger war es für Erhard, dass er in seinem Ministerium die Unterstützung fand, die er brauchte, um auch ohne die Kooperation mit dem Kanzler erfolgreich arbeiten zu können. Deshalb setzte er sich allen personalpolitischen Einmischungsversuchen Adenauers gegenüber im Frühjahr 1956 energisch zur Wehr:

»Sie schreiben mir unter dem 21. März, daß Herr Staatssekretär Westrick auf Grund seiner ganzen Herkunft naturgemäß keinen Überblick über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen haben kann. Dieses Urteil ist absolut falsch. Abgesehen davon, daß Sie selbst mir Herrn Westrick als Staatssekretär ans Herz legten und dabei sicher nicht der Meinung waren, daß er gesamtwirtschaftliche Entwicklungen nicht zu beurteilen vermöchte, kann ich nunmehr nach vieljähriger engster Zusammenarbeit für diesen Mann zeugen. Ich kann Ihnen also für diese Empfehlung nicht dankbar genug sein, denn Herr Westrick hat sich nicht nur als ein Charakter ohne Fehl und Tadel erwiesen, sondern er ist zugleich seiner Aufgabe in einem Maße gewachsen, wie ich es seither von keinem zünftigen Beamten erlebt habe …

So wie Sie selbst, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, für Ihre nächsten Mitarbeiter eintreten, stelle ich mich auch vor die meinen und werde sie in jedem Fall zu schützen wissen. Wenn Sie darum in Ihrem Brief vom 21. März schreiben, daß nach Ihrer Auffassung eine rigorose Nachprüfung der Ministerialdirektoren-Stellen im Hinblick auf die schwierigen wirtschaftlichen Probleme absolut notwendig ist, so muß ich aus dieser Diktion entnehmen, daß Sie diese Absicht offenbar nur in Bezug auf das Wirtschaftsministerium hegen. Dagegen lege ich hiermit in aller Form Verwahrung ein …«77

Das Wirtschaftsministerium, dessen Geschichte Bernhard Löffler 2002 vorbildlich und umfassend aufgearbeitet hat, war bereits damals, 1955, vom Personalvolumen her mit rund 1400 Beamten und Angestellten, davon 472 Frauen und davon wiederum 371 im mittleren Dienst, nach dem Finanzministerium die zweitgrößte Bundesbehörde und stellte wegen seiner Aufgabenvielfalt ein einflussreiches, gewichtiges Ressort dar.78 Bis 1963 sollte die Gesamtzahl der Beschäftigten sogar noch auf 1800 ansteigen. Auch wenn der Anteil früherer Parteigenossen (Pg) bei den Unterabteilungsleitern und den Abteilungsleitern zu diesem Zeitpunkt bei etwa 60 Prozent lag – was dem Durchschnitt der Bundesministerien in der Ära Adenauer/Erhard entsprach –, verband ganz besonders in diesem Ressort die Entschlossenheit, einen erfolgreichen marktwirtschaftlichen Neubeginn nach dem Desaster des Dritten Reiches in die Wege zu leiten, alle administrativen Ebenen vom Minister bis hinunter zu den Sachbearbeitern des einfachen Dienstes. Das Ministerium galt in jenen Tagen geradezu als durchsetzungsstarkes und die öffentlichen Diskussionen im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft prägendes Haus. Bei den Stellenbesetzungen wurde weniger auf die Vergangenheit des Bewerbers in der NS-Zeit geachtet, weshalb die Zahl der ehemaligen Pg in den Fünfzigerjahren wieder leicht anstieg, als vielmehr auf den marktwirtschaftlichen »Fighting Spirit« und die Bereitschaft des Kandidaten, die Sache des Ministers zur eigenen zu machen.79

Gerade weil Ludwig Erhard dem umfangreichen Verwaltungsapparat nicht bis in die letzten Verästelungen allzu viel seiner Zeit widmen mochte und seinen Mitarbeitern großen Spielraum zubilligte, war für ihn die Besetzung der Ministerialdirektoren-Stellen und die Staatssekretärsposition von ausschlaggebender Bedeutung. Die Mehrzahl seiner Abteilungsleiter kannte er persönlich gut, teilweise noch aus der Vorkriegszeit. Neben Alfred Müller-Armack, dem Leiter der Abteilung I (Wirtschaftspolitik), und Roland Risse, der für die Abteilung II (Mittelstandsfragen) zuständig war, pflegte Erhard auch mit Ludwig Kattenstroth, dem Leiter der Abteilung III (Bergbau, Montanunion), und mit Hermann Reinhardt, dem Leiter der Abteilung V (Außenwirtschaft), einen engen, ja freundschaftlichen Kontakt.80


Wirtschaftswunderminister in der Weihnachtszeit 1955 – mit von ihm wenig geliebten Akten seines Ressorts unter dem Arm.

Diese Art des Zusammenwirkens und die Tatsache, dass das Ministerium in den frühen Fünfzigerjahren einem recht hohen Außendruck ausgesetzt war – nicht nur der Kanzler, auch einzelne Presseorgane, die Opposition, die betroffenen Interessengruppen kritisierten es gelegentlich scharf –, mag erklären, warum im Bundeswirtschaftsministerium eine ganz eigene Arbeitsatmosphäre herrschte. Wer hier tätig war und für die Sozialen Marktwirtschaft warb und stritt, verfügte meist über ein ganz besonderes Selbst- und Sendungsbewusstsein, das sogar dem Kanzler auffiel. Nicht ohne Grund sagte Adenauer über die Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium zu seinem Sohn Paul: »Die sollen nicht immer so mit den Flügeln schlagen.«81 Für den unabhängigen, eigenständigen Geist des Hauses ist außerdem ganz typisch, dass die maßgeblichen Führungskräfte im Ministerium damals – und bis in die Sechzigerjahre hinein – nicht der CDU/CSU als Parteimitglieder angehörten. Sie standen ihr möglicherweise nahe, aber eben auf distanzierte Weise. Das galt nicht nur für den Minister selbst oder die Ministerialdirektoren, das galt auch für eine weitere Schlüsselfigur, für Staatssekretär Ludger Westrick.

Kampf ums Kanzleramt

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