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ZWISCHEN GOERDELER UND OHLENDORF – EIN EIGENES INSTITUT UND NACHKRIEGSPLANUNGEN

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Nach seinem Ausscheiden aus dem Vershofen-Institut galt es für Ludwig Erhard ab Herbst 1942 eine neue Position zu finden und aufzubauen – dabei wurden ihm jedoch, wie wir gesehen haben, manche Steine in den Weg gelegt. Glücklicherweise hatte ihm schon früh Karl Guth, der Ehemann seiner Schwester Rose und Hauptgeschäftsführer der Reichsgruppe Industrie (RI), seine Unterstützung und diejenige seiner Organisation signalisiert, die zu jener Zeit bereits darangehen wollte, in kleinen Arbeitsgruppen über die zu erwartenden Nachkriegsprobleme forschen zu lassen. Das war nicht ungefährlich, weil mit Führererlass vom 25. Januar 1942 jegliche Nachkriegsplanung untersagt worden war. Über Karl Guth waren Erhard wohl schon unmittelbar, nachdem sich sein rüder Abschied von Vershofen abgezeichnet hatte, die Mittel für ein eigenes kleines »Institut für Industrieforschung« in Aussicht gestellt worden. Deshalb begann er schon im Sommer, Mitarbeiter an- und von Vershofen abzuwerben.

Entsprechend stellte Erhard auch schon Forschungsfragen zusammen, die seiner Ansicht nach unbedingt bearbeitet werden sollten. In dem Band von Horst Friedrich Wünsche über Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft ist das mehrseitige Arbeitsprogramm vollständig abgedruckt. Ganz oben auf seiner Liste stand die Ermittlung der materiellen Grundvoraussetzungen, die bei Kriegsende zu erwarten wären, also die genaue Erfassung des Zustands der deutschen Wirtschaft und der geld- und währungspolitischen Situation, speziell der nationalsozialistischen Kriegsfinanzierung verbunden mit der Suche nach Möglichkeiten, die angehäuften immensen Schulden zu konsolidieren. Um das tun zu können, waren die Sammlung aller verfügbaren Daten und ein klarer Blick zu ihrer Bewertung erforderlich. Was die Inflation anging, verdeckte und tarnte der staatlich angeordnete gesetzliche Preis- und Mietenstopp ihr tatsächliches Ausmaß. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte kein Konzept existiert, um die ökonomischen und vor allem auch monetären Konditionen des geschlagenen und hoch verschuldeten Reichs zu erfassen und die Reparationen auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Eine fatale Folge war damals die Hyperinflation gewesen. Das sollte sich nicht wiederholen.

Erhard besprach das alles nicht nur mit seinem Schwager, sondern schickte seine Liste, verbunden mit der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung, an Wilhelm Zangen von den Mannesmann-Röhren-Werken, dem Leiter der Reichsgruppe Industrie, und dessen Stellvertreter Rudolf Stahl vom Salzdetfurth-Konzern. Die Reaktionen sollten vielversprechend ausfallen. Allerdings dauerte es, bis die Mittel tatsächlich fließen konnten. Erst im November wurde auf Vorschlag von Hermann von Siemens, der Erhards Forschungspläne kannte, vorgeschlagen, im Rahmen der Reichsgruppe eine »Fördergemeinschaft der deutschen Industrie« zu gründen und für diese Mittel einzusammeln. Die Fördergemeinschaft wurde auch gegründet – und sagte im Mai 1943 Erhard finanzielle Unterstützung aus dem Spendenaufkommen für drei Jahre zu, wobei ihm jährlich 150 000 Reichsmark zur Verfügung gestellt werden sollten.

Sein »Institut für Industrieforschung«, die Mutter des späteren Ifo-Institutes, hatte Ludwig Erhard samt Außenstelle in Berlin schon Ende 1942 in Nürnberg gegründet, und es wird auch schon zum Jahreswechsel seine Arbeit aufgenommen haben, vermutlich mithilfe einer Anschubfinanzierung von 30 000 Reichsmark durch die Reichsgruppe und den Einnahmen für die noch weiter laufende Beratertätigkeit in Lothringen. Schließlich mussten und sollten Mitarbeiter wie Holthaus und Kerschbaum bezahlt werden.1

Die Aktenlage zur Geschichte dieses Hauses ist nicht gut, vieles muss im Vagen bleiben, denn die meisten seiner Unterlagen wurden durch Bombentreffer vernichtet. Diese Zerstörung war 1944 auch der Grund für den Umzug in die Wagner-Stadt Bayreuth, die als Zielort, so hoffte Erhard wohl, die alliierte Bomberflotten weniger stark anziehen sollte als die Stadt der Reichsparteitage.

Den Wechsel des Instituts ermöglichte jedenfalls Dr. Hermann Streng, der Hauptgeschäftsführer der dortigen Gauwirtschaftskammer, der neben der neuen Bleibe auch eine weitere Finanzierungsquelle erschloss, denn fortan beauftragte auch seine Kammer Erhard und sein kleines Team von Volks- und Betriebswirten mit Analysen zur regionalen Wirtschaft. Den Stützpunkt in der dortigen Neuen Baumwollspinnerei, einem weitläufigen roten Backsteinbau der Kaiserzeit, in dessen Seitenflügel auch 38 Zwangsarbeiter aus dem KZ Flossenbürg untergebracht waren, hatte dann Erich Köhler vermittelt, der ehemalige Präsident der Bayreuther Kammer, der Ende 1942 über einem Streit mit dem oberfränkischen Gauleiter Fritz Wächtler zwar das Amt verlor, aber dem Unternehmen verbunden blieb.2 Auf dem Industriegelände bekam Erhards Institut den ehemaligen Speisesaal des Werks zugewiesen, der kriegsbedingte Baustopp wurde auf Köhlers Antrag hin aufgehoben. Drei Monate später war der Innenausbau fertig, bei dem Erhard selbst noch mit Hand angelegt hatte – er wohnte anschließend selbst zeitweise in Bayreuth.

Auch seinem Unterstützer Köhler, der 1933 in die NSDAP eingetreten und 1938 SS-Sturmführer geworden war, sollte Erhard nach dem Krieg im Oktober 1947 im Entnazifizierungsverfahren ein positives Leumundszeugnis ausstellen. Dies lautete in seinen Kernpassagen wie folgt:

»Durch meine eigenen Wahrnehmungen sah ich bestätigt, daß sich Herr Köhler immer mehr vom Nationalsozialismus abwandte und bis zum Kriegsende als ausgesprochener Gegner angesehen werden konnte. Unsere Besprechungen gingen stets von dem Tatbestand des völligen und verdienten Zusammenbruchs jenes Systems aus … es war mir deshalb keinesfalls überraschend, daß seine Position in dem dortigen Gau unhaltbar wurde. Als ich darum im Sommer 1944 auf Grund politischer Verfolgungen den Sitz meines wissenschaftlichen Instituts von Nürnberg fortverlegen musste, habe ich Herrn Köhler von dem Sachverhalt vorbehaltlos Kenntnis gegeben, ihm mitgeteilt, daß ich wegen Beleidigung des SS-Gruppenführers Liebel in einen Prozeß verwickelt sei, daß mir die Arbeitskräfte entzogen und ich selbst zum Militärdienst erfaßt werden sollte. Herr Köhler war sofort bereit, mir und meinen Mitarbeitern in der Neuen Baumwollspinnerei Unterkunft zu gewähren, obwohl nach Lage der Dinge diese Haltung zu ernsten Konsequenzen für ihn hätte führen können.«3

Dieses wohlwollende Zeugnis, bei dem Erhard vermutlich seine eigene Situation in der letzten Kriegsphase etwas überdramatisierte, half Köhler übrigens nicht ganz. Er wurde nach zweijähriger Internierung von der Spruchkammer Bayreuth im Mai 1948 immer noch als »Mitläufer« eingestuft. Fast zeitgleich mit dem Umzug nach Bayreuth hatte Ludwig Erhard im März 1944 seine Denkschrift über »Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung« abgeschlossen. Das fast 300 Seiten umfassende Gutachten wurde 1977 kurz vor seinem Tod wiederentdeckt und liegt heute als Faksimile-Druck vor. Der Auftrag zur Anfertigung war mit der Institutsgründung und finanziellen Förderung durch die RI verbunden gewesen. Männer wie Wilhelm Zangen und Rudolf Stahl oder auch Peter von Siemens waren – so Roland Risse, damals Abteilungsleiter bei der Reichsgruppe Industrie, später in der Verwaltung für Wirtschaft und im Bundeswirtschaftsministerium ein treuer Wegbegleiter Erhards – »Väter des Gedankens, man müsse sich frühzeitig Vorstellungen machen, wie denn das Leben nach einem verlorenen Kriege wirtschaftlich weitergehen solle«.4 Überlegungen, die nach dem Desaster von Stalingrad durch die sich weiter verschlechternde Kriegslage immer mehr Aktualität gewannen.

Wir wissen heute, dass Ludwig Erhard nicht der Einzige war, der im Stillen über Zukunftskonzepte brütete. Sein Institut war jedoch rasch zu einer Art wirtschaftspolitischer Clearingstelle der RI für die diversen Gutachten geworden, und ihre Abteilungsleiter hatten folgerichtig den Status von korrespondierenden Mitgliedern seines Hauses erhalten. Über Erhard liefen also weite Teile der Nachkriegsplanung. Er koordinierte und bewertete die jeweiligen Vorschläge. Ferdinand Grüning, Leiter der Abteilung für Zentrale Wirtschaftsbeobachtung bei der Reichswirtschaftskammer, arbeitete damals etwa an der Aufstellung einer volkswirtschaftlichen Bilanz für das Deutsche Reich. Günter Keiser, Leiter der statistischen Abteilung der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe, suchte Fragen der Gestaltung des Finanzsektors in der deutschen Nachkriegswirtschaft zu beantworten. Die RI brachte all diese »Konzeptsucher« zusammen; Keiser wurde etwa gebeten, als Bankfachmann Erhards Denkschrift zu bewerten – mit dessen Wissen und Billigung. Bald darauf sollte dann auch noch Karl Albrecht, der Leiter der wichtigen Außenwirtschaftsabteilung der RI – auf Anregung von Erhard – für den Stahl-Kreis eine seine Ausführungen ergänzende Studie über die deutsche Außenwirtschaft anfertigen. Sie alle sollten Konzepte entwickeln, wie man nach der absehbaren Niederlage die vollkommen zerrüttete Wirtschaft wieder in Gang setzen und den maroden Staatshaushalt sanieren könne.5

Spätestens im Herbst 1944 wurde das Reichswirtschaftsministerium umfassend in den Diskussionsprozess einbezogen. In einem Vermerk der Hauptverwaltung vom 14. November steht: »Die Reichsgruppe Industrie hat sich seit geraumer Zeit im engeren Kreis mit solchen Nachkriegsproblemen auseinandergesetzt, die unmittelbar industriewirtschaftliche Aufgaben berühren … Die Diskussionen in dem erwähnten kleinen Kreis haben wohl auch bereits Erkenntnisse zutage gefördert, die, wenn sie auch sicher nicht für öffentliche Verlautbarungen bestimmt sind, für die staatliche Wirtschaftsführung von Wert sein dürften. Mit Billigung und Unterstützung des RWMI wird deshalb die Reichsgruppe Industrie bestrebt sein, diese Arbeiten fortzuführen und ihre Ergebnisse dem RMWI bekanntzumachen.

Die Reichsgruppe Industrie hat durch mittelbare Unterstützung Herrn Dr. Erhard die Möglichkeit zur Begründung des Instituts für Industrieforschung gegeben, das in besonderem Maße berufen scheint, die sich aus der wissenschaftlichen Diskussion ergebenden konkreten Aufgabenstellungen zu bearbeiten.«6

Der Vermerk belegt, dass Erhard und seinem Institut so etwas wie eine Führungsrolle in der Nachkriegsplanung zugeschrieben wurde, und das hatte nicht zuletzt mit der vergleichsweise früh vorgelegten Denkschrift zu tun, die von dem kleinen Kreis sachkundiger Leser durchweg als qualitativ hochwertig bewertet wurde. Ludwig Erhard, der 1943/44 in den zahlreichen Berliner Gesprächen während seiner Reisen in die Reichshauptstadt mit Karl Guth, Theodor Eschenburg, Herbert Rohrer, Karl Blessing und eben auch Roland Risse kein Hehl daraus gemacht hatte, dass er den Krieg für verloren hielt, suchte in dieser Denkschrift wie auch in deren Kurzfassung »für den eiligen Leser« primär finanz- und währungstechnische Wege zur Konsolidierung der kriegsbedingten riesigen Staatsverschuldung aufzuzeigen.7 Eine abermalige Hyperinflation sollte unbedingt verhindert werden, dazu waren die Erinnerungen an 1923 zu traumatisch.

Erhard hatte zu diesem Zeitpunkt längst erkannt – und das spricht für seinen ökonomischen Sachverstand –, dass das erste, von Hitler ausgelöste deutsche Wirtschaftswunder in den Dreißigerjahren »fauler Zauber« war, wie er später sagen sollte. Der Diktator hatte mit seinem Staatstinterventionismus, seinem gigantischen Bau- und Aufrüstungsprogramm tatsächlich überraschend schnell die Vollbeschäftigung erreicht, während in den Vereinigten Staaten des »New Deal« die Arbeitslosigkeit noch 1939 bei mehr als 25 Prozent lag. Auch die deutschen Arbeiter waren in das braune Lager eingeschwenkt, weil sie hohe Überstundenzuschläge erarbeiten und so die auf niedrigem Niveau fixierten Löhne anheben konnten. Preise und Löhne wurden vom Staat festgesetzt – und durften wie die preisgestoppten Mieten kaum ansteigen. Dieses staatliche Lohn- und Preisdiktat verdeckte, dass die Ausweitung der Investitionstätigkeit und sozialen Leistungen trotz hoher Steuern und einer brutalen Ausbeutung jüdischer und im Krieg dann auch ausländischer Vermögen zu großen Teilen auf Pump und durch immer gewaltigere Schuldenberge finanziert wurden. Tatsächlich gab es im Dritten Reich eine zunehmende, wenn auch versteckte, weil preisgestoppte Inflation – ganz ähnlich wie später in der DDR. Die Suche nach Lösungsansätzen für diese Problematik steht im Mittelpunkt der Denkschrift.

Nach Erhards Vorschlag sollte der Staat bei Kriegsende die von ihm – ziemlich präzise – auf 400 Milliarden Reichsmark geschätzten Verbindlichkeiten als nominelle Schuldtitel übernehmen, vorübergehend still- oder auf Eis legen und erst später durch Ausgabe neuer langfristiger staatlicher Schuldtitel tilgen. Zum anderen sollte so rasch wie möglich eine Verbrauchsgüterproduktion in Gang gesetzt werden, um schnell ein konsumfähiges Sozialprodukt zu gewährleisten. Dabei lässt Erhard zugleich auf den letzten vierzig Seiten anklingen, dass er als eigentliches zentrales Fundament des Neuanfangs eine grundsätzliche und nachhaltige Liberalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ansah. Staatliche Gängelung und Bevormundung mussten ebenso enden wie die umfassende Bewirtschaftung, die staatliche Lenkung und Verteilung der Güter, die staatliche Festsetzung der Löhne und Preise. Der Staat als ordnende Kraft solle sich zwar nicht vollständig aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen und vor allem in der zweifelsohne krisenhaften Übergangszeit lenkend in das Geschehen eingreifen, aber seiner »wirtschaftlichen Potenz und Initiative« seien zum Wohle aller »doch sehr enge Grenzen« zu ziehen.8

Ein wichtiger Adressat außerhalb des RI-Kreises, dem Ludwig Erhard seine Denkschrift schon bald nach ihrer Fertigstellung im März 1944 mit der Reichspost geschickt hatte, war Carl Friedrich Goerdeler, der frühere Preiskommissar für Preisüberwachung und von den Nationalsozialisten abgesetzte Leipziger Oberbürgermeister. Wie bereits erwähnt, hatten sich die beiden 1934/35 kennengelernt und seitdem in lockerer Folge über ökonomische Themen und Fragestellungen ausgetauscht. Goerdeler, der nach eigener Aussage »in den ersten Jahren nach 1933 mit der NSDAP vollkommen vertrauensvoll zusammengearbeitet« hatte9, ging ab 1937 nach der Zerstörung des Leipziger Mendelssohn-Denkmals durch Nationalsozialisten in immer entschiedenere Opposition zum Regime. In zurückgezogener, wenig exponierter Stellung als Berater der Robert Bosch GmbH organisierte Goerdeler mit wachsender Akribie den Widerstand gegen das NS-Regime und wurde zum Kopf der zivilen Gegner, der nach einem erfolgreichen Attentat als möglicher neuer Reichskanzler gelten konnte.

Der Kontakt zwischen ihm und Erhard muss in den Kriegsjahren an Intensität gewonnen haben, obwohl in der Vershofen-Korrespondenz lediglich ein einziger Besuch Goerdelers im Institut in Nürnberg für den 21. Februar 1941 belegt ist und es dabei formal um einen neuen Auftrag, diesmal von Bosch, gehen sollte. Erhard berichtete jedenfalls im hohen Alter, Goerdeler habe ihn während des Krieges einmal zu seiner großen Überraschung in Berlin im Hospiz am Askanischen Platz mit Generaloberst Ludwig Beck zusammengebracht, der nach seiner eigenen erfolglosen Konspiration gegen Hitler 1938 aus dem Dienst ausgeschieden war, aber im Krieg zu einem weiteren zentralen Kopf des Widerstands wurde und vor allem das Netzwerk zwischen militärischer und ziviler Opposition wie dem Kreisauer Kreis und Teilen der Mittwochsgesellschaft enger knüpfte. Beck war nach einem erfolgreichen Staatsstreich als mögliches Staatsoberhaupt vorgesehen. Das Treffen konnte nicht in seiner Wohnung stattfinden, denn diese wurde von der Gestapo überwacht. »In unserem Gespräch wurden Fragen der deutschen Zukunft sachlich erörtert«, erinnerte sich Erhard lakonisch.10

Auch Goerdeler beschäftigten intensiv jene Fragen, die Erhard in seiner Denkschrift anschnitt, wie man seinen Redemanuskripten aus der Kriegszeit entnehmen kann, die im Bundesarchiv in Koblenz aufbewahrt werden. In einer Rede vom 15. Juni 1940 zeigte Goerdeler sich beispielsweise schon stark besorgt über den rapiden Preisanstieg und Währungsverfall, der nach einer Aufhebung der NS-Kommandowirtschaft und des staatlich verordneten Preisstopps zwangsläufig eintreten würde, und sprach sich für wirtschaftliche Freiheit, Wettbewerb und freien Außenhandel in einem großen europäischen Wirtschaftsraum aus.11 Beide sendeten, was ökonomische Fragen anging, tatsächlich auf einer Wellenlänge.


Die Empfehlung Goerdelers an seine Mitverschwörer, Erhard werde sie »gut beraten« (s. Hervorhebung), war nach dem 20. Juli 1944 lebensgefährlich.

Allein dieser Umgang hätte ausgereicht, um Ludwig Erhard nach dem 20. Juli 1944 in Lebensgefahr zu bringen. Noch brisanter war die Tatsache, dass Goerdeler kurz vor seiner Verhaftung in einem seiner zahlreichen handschriftlichen Memoranden seine Mitverschwörer explizit auf Erhards Denkschrift hingewiesen und dabei ihren Verfasser überhaupt als einzigen lebenden Deutschen namentlich erwähnt hatte, mit einem kleinen Fehler bei der Namensangabe, der auch Konrad Adenauer später bisweilen unterlaufen sollte: »Dr. Erhardt(!) vom Forschungsinstitut der deutschen Industrie in Nürnberg hat über die Behandlung dieser Schulden eine sehr gute Arbeit geschrieben, der ich im wesentlichen beistimme. Er wird Euch gut beraten.«12

Wäre diese Aufzeichnung während der »Aktion Gewitter« bei der Jagd auf die Verschwörer vom 20. Juli in die Hände der Gestapo gefallen, hätte Ludwig Erhard sicherlich zu den rund 4000 Verhafteten gehört und mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Doch anders als Goerdeler, der, auf seiner Flucht verraten, am 12. August verhaftet, anschließend vom Volksgerichtshof Freislers verurteilt und am 2. Februar 1945 in Plötzensee gehenkt wurde, entging Erhard jeglicher Verfolgung. Und das, obwohl er auch noch nach dem 20. Juli Kurzfassungen seiner Denkschrift mit sich in seiner Aktentasche herumtrug, sie etwa dem darüber völlig verschreckten Theodor Eschenburg im Oktober 1944 zu lesen gab – zum Dank, dass dieser, damals Syndikus der deutschen Knopfindustrie, ihm mit Perlmuttknöpfen ausgeholfen hatte!13

War das nicht bodenloser Leichtsinn? Er musste ja wissen, dass er dadurch nicht nur sich selbst und seine Familie, sondern seine ganze Umgebung in Gefahr brachte, also etwa auch seine Sekretärin Ella Muhr, der er die rund 270 Seiten starke Denkschrift, vermutlich auch die Kurzfassung, diktiert hatte. Verhinderte sein optimistisches Naturell, seine bisweilen markante politische Naivität, dass er sich die möglichen negativen Folgen allzu deutlich ausmalte? Oder wusste oder wähnte er sich durch die Reichsgruppe Industrie, durch deren vielfältige Verbindungen oder sogar durch das Reichswirtschaftsministerium abgesichert? Dass die durch irgendwelche jederzeit möglichen Zufallsfunde belegte Verbindung zu Goerdeler nicht ungefährlich war, dessen war sich Ludwig Erhard durchaus bewusst – und ganz besonders seine Frau Luise, die vorsorglich nach der Verhaftung schon nach einem »Ausweichquartier«, einem Unterschlupf bei Bauern in der Umgebung Fürths zu suchen begonnen hatte, das sie dann aber doch nicht bezogen.14

Eine Rolle bei alledem könnte auch gespielt haben, dass er schon vor dem 20. Juli offenbar erfolgreich Kontakte ins Reichswirtschaftsministerium geknüpft hatte, vermutlich vor allem aus Sorge, er könne tatsächlich noch einmal zum Heeresdienst eingezogen werden. Seiner Tochter hatte er schon am 12. Juli 1944 geschrieben, er glaube, eine Einberufung nicht mehr befürchten zu müssen, »denn meine Arbeit wird immer wichtiger und unentbehrlicher, so daß ich mich sogar mit dem Gedanken trage, mich durch das Wirtschaftsministerium sicherstellen zu lassen.«15

Insgesamt hatte das Attentat und der nach dem 20. Juli einsetzende Verfolgungsdruck interne Gesprächsrunden über wirtschaftliche Zukunftsplanungen nicht wirklich erschwert bzw. unterbrochen, denn seit Herbst 1943 standen Rudolf Stahl und Karl Albrecht von der Reichsgruppe Industrie in engem Austausch mit dem Reichswirtschaftsministerium, insbesondere mit der Grundsatzabteilung unter Otto Ohlendorf und Franz Hayler sowie der Außenwirtschaftsabteilung unter Franz Kirchfeld und dem dort angesiedelten Arbeitskreis für Außenwirtschaftsfragen, für den als Sachverständige unter anderem der spätere Bundesbankpräsident Karl Blessing und Erhards späterer Staatssekretär Ludger Westrick von den Vereinigten Aluminiumwerken, einer besonders kriegswichtigen Branche, arbeiteten.

Bereits im August war eine Zusammenfassung von Erhards Untersuchung auf Anregung von Rudolf Stahl unter anderem an Friedrich Flick, Fritz Jessen (Siemens & Halske), Carl Goetz (Dresdner Bank), Oswald Rosier (Deutsche Bank), Alfred Olscher (Reichs-Kredit-Gesellschaft) sowie an Hermann Schmitz (I.G. Farbenindustrie) und Philipp F. Reemtsma gesandt worden, an jenen Kreis hoher Wirtschaftsführer und -funktionäre also, der mit ziemlicher Sicherheit Erhard bereits mit seinen Spenden die Gründung seines eigenen kleinen Instituts ermöglicht hatte.16

Im Herbst 1944 muss dann auch Otto Ohlendorf von der Denkschrift erfahren haben, er wurde jedenfalls auf Erhard aufmerksam und wünschte ihn kennenzulernen. Dieser Mann war ein überzeugter Nationalsozialist, der – ein typischer Vertreter der »Generation des Unbedingten« – schon 1925 mit achtzehn Jahren in Partei und SS (mit der Nummer 880) eingetreten und zugleich an ökonomischen Fragen sehr interessiert war.17 Nach seiner fundierten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung am renommierten Kieler Institut für Weltwirtschaft hatte ihm eine akademische Karriere offengestanden. Er entschied sich jedoch 1936 für die Stelle eines Wirtschaftsreferenten beim Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS. Im engen Kontakt mit Himmler und Heydrich machte er rasch Karriere. Ohlendorf war der maßgebliche Erfinder der »Meldungen aus dem Reich«, die nur dem engsten Führungszirkel des Regimes zur Verfügung gestellt wurden. Gestützt auf unverfälschte Meinungsbilder sollten die SD-Berichte über die aktuelle Stimmung in Hitlers Herrschaftsbereich Aufschluss geben. Nach Gründung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) im September 1939 war er außerdem dort bis 1945 Leiter des Amtes III (Deutsche Lebensgebiete) und Chef des Sicherheitsdienstes. Weil ihn Himmler für zu weich hielt, übertrug er ihm nach dem Überfall auf die Sowjetunion für ein knappes Jahr die Leitung der Einsatzgruppe D, die im Südkaukasus und der Ukraine – unter anderem in Babi Jar – in Massakern mehr als 90 000 Menschen erschossen und damit weite Teile der jüdischen Bevölkerung ausrotteten. In den Nürnberger Prozessen nach dem Krieg bestritt er als Zeuge wie auch als Angeklagter im Einsatzgruppenprozess diese Taten nicht und erklärte kühl und sachlich die Tötungen für rassenpolitisch geboten und notwendig. Dafür wurde er zum Tode verurteilt und – obwohl das Grundgesetz die Todesstrafe abgeschafft hatte – am 7. Juni 1951 auf besatzungsrechtlicher Grundlage in Landsberg am Lech hingerichtet.

Ohlendorf tritt hier jedoch nicht in der Rolle des SS-Gruppenführers in Erscheinung, sondern als Stellvertreter des Staatssekretärs im Reichswirtschaftsministerium, eine Position, die er ab 1943 parallel zu seinen SS-Positionen innehatte. Aus den SD-Berichten, in denen vielfach auch Wirtschaftsthemen angeschnitten wurden, wusste Ohlendorf, dass 1943/44 die Zukunftssorgen, nicht zuletzt durch die militärischen Misserfolge befördert, deutlich angestiegen waren und dabei speziell die Sorge um die Zukunft des Geldes und der eigenen Ersparnisse zugenommen hatten. Im Kern zutreffende Gerüchte über eine beschleunigte Vermehrung des umlaufenden Geldes und eine rapide Vergrößerung des staatlichen Schuldenbergs kamen hinzu. Durch ungeschickte Presseveröffentlichungen, wonach der Kaufkraftüberhang durch Steuererhöhungen und Vermögensabgaben abgeschöpft werden sollte und Spargeldern die baldige staatliche Beschlagnahme drohe, waren die unbestimmten Inflationsängste zusätzlich angeheizt worden.18 Ohlendorf als hochintelligenter Jurist und Nationalökonom wusste also, wie aktuell und wichtig zugleich die Untersuchungen waren, die im Umfeld der Reichsgruppe Industrie durchgeführt wurden, und hielt dementsprechend die Hand über sie.

Im November 1944 wünschte er Erhard persönlich zu treffen, der nicht nur mit der fabulösen Denkschrift, sondern offenbar noch mit weiteren Arbeiten von sich reden machte, wie aus einem Schreiben von Rudolf Stahl an den »Ministerialdirektor und SS-Gruppenführer« Ohlendorf vom 14. November hervorgeht:

»Da am Freitag die von Ihnen angeregte Aussprache mit Herrn Dr. Erhard stattfinden soll, gestatte ich mir, Ihnen eine mir heute zugegangene weitere Ausarbeitung des Herrn Dr. Erhard zu übersenden. Hierin ist auf meine Anregung hin der Versuch gemacht worden, die Problemstellung für den späteren Friedenswiederaufbau sowohl nach der Geld- wie nach der Güterseite zu umreißen. Ich glaube, daß sich dieses Exposé als Unterlage für Ihre Unterhaltung mit Herrn Dr. Erhard gut eignet … Den Auszug aus der Erhard’schen Denkschrift über die Schuldenkonsolidierung nebst Korreferat von Herrn Dr. Keiser überreichte ich Ihnen bereits am Freitagabend. Ich habe Herrn Dr. Erhard gebeten, Ihnen seine ausführliche Denkschrift persönlich zu übergeben … Wenn erst das Programm feststeht und von Ihnen gebilligt ist, wird es darauf ankommen, die einzelnen noch offen stehenden Probleme … systematisch weiter durchzupflügen und auf diese Weise die unbedingt erforderliche Vorarbeit zu leisten, auf die die späteren Entschlüsse der staatlichen Wirtschaftsführung aufbauen können.«19

Das von Stahl angesprochene Treffen fand am Donnerstag, dem 16. November – nicht am Freitag, wie Stahl angenommen hatte –, im Ministerium in Berlin statt, wo Erhard ihm dann wie von Stahl bereits avisiert die Langfassung seiner Denkschrift überreichte. Ohlendorf stellte eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Wirtschaftsressort und dem Institut für Industrieforschung in Bayreuth in Aussicht. Ein weiteres Treffen wurde für den 12. Januar verabredet. An diesem Termin war Ohlendorf jedoch verhindert und ließ sich von Karl Günter Weiss, dem unter anderem für Erhards Institut zuständigen Ministerialreferenten, vertreten. Erhard kannte dessen Vater, den Repräsentanten von Woolworth-Deutschland, und sprach deshalb ihm gegenüber offen von der erkennbaren Absicht Ohlendorfs, seiner Arbeit »weltanschauliche Vorstellungen zu unterstellen«, sie also für sich zu instrumentalisieren. Weiss hat in seinen 1996 publizierten Erinnerungen unter dem Titel Wahrheit und Wirklichkeit über dieses Gespräch berichtet. Er will Erhard damals gesagt haben, dass alle Wissenschaftler behaupten würden, ihre Arbeiten seien »wertfrei« angelegt und dürften keiner politischen Intention unterworfen werden. Angemessener sei es aber, wenn jeder die Zielrichtung seines Denkens klar zu erkennen geben würde. Er habe die Denkschrift selbst auch gelesen. Nach seiner Auffassung solle Erhard seine Analysen unter dem Titel »Soziale Marktwirtschaft« herausbringen: »Was Sie wollen und was ich daraus verstehe, ist eine großräumige Wirtschaftsordnung mit freien Märkten und einer umfassenden privaten Eigentumsgarantie. Ob Sie das nun eine demokratische Marktwirtschaft nennen oder als eine soziale Marktwirtschaft bezeichnen, kann doch so wesentlich nicht sein.«

Horst Friedrich Wünsche hat 2015 diese Version vom frühesten Auftauchen des berühmten Begriffs, als dessen Erfinder ja eigentlich Alfred Müller-Armack im Jahr 1946 gilt, für glaubhaft erklärt. Erhard jedenfalls soll er schon damals sofort gefallen haben, und er soll erklärt haben, ihn zukünftig zu benutzen.20 Tatsächlich war Erhard vermutlich die heute zur inhaltsleeren Politikerfloskel herabgesunkene Etikettierung weitgehend egal, wie er sich auch später nicht sonderlich für sie interessierte. Wichtiger war, dass der unmittelbare Kontakt zu Ohlendorf Episode blieb und dementsprechend zutraf, was Ludwig Erhard 1964 im vertraulichen Gespräch mit Hermann Höcherl eingestand, dass es zwar stimme, dass er im Dritten Reich auch für das Regime tätig gewesen sei, »jedoch nur im wirtschaftlichen Bereich und letztlich in einer Weise, dass nichts vorliegt, was ich zu befürchten habe …«21

Dabei war der Hinweis von Weiss gar nicht einmal ganz falsch gewesen, denn in vagen Umrissen und sicherlich noch fragmentarisch zeichnete sich in der Denkschrift tatsächlich etwas von dem ab, was auch Jahre später, nachdem das Etikett »Soziale Marktwirtschaft« gängiges Label geworden war, noch für seine Wirtschaftskonzeption kennzeichnend und bestimmend bleiben sollte. Schon 1943/44 ging es Ludwig Erhard darum, die Wirtschaft »nach einer möglichst kurzen Übergangszeit aus den Fesseln der staatlichen Bevormundung zu lösen«, sprach er von der Notwendigkeit eines Lastenausgleichs, einer möglichst gerechten Verteilung der unvermeidlichen Opfer, vom Zwang des Staates zu einer Wirtschaftspolitik, die wieder das Vertrauen der Bürger verdiene.22

Ja, Ludwig Erhard, der nach den schweren Luftangriffen Anfang April 1945 auf Bayreuth noch in letzter Minute seinen Schreibtisch – und damit die Institutsadresse – in die Räume der Firma Blattgoldwerke Leonhard Kurz in der Fürther Friedrichsstraße 2 verlagern sollte, hatte mittlerweile seine Schlüsse gezogen aus den Erfahrungen und Beobachtungen in den zwölf Jahren der braunen Zeit, besonders aus den Kriegsjahren. Lange hatte er in einer merkwürdigen Mischung aus innerer Distanz, Naivität und Opportunismus diese Hitler-Diktatur durchlebt, dabei die mörderische Brutalität des Regimes vielfach gröblich unterschätzt oder in den Besatzungsgebieten, wo er – besonders im Osten – unzweifelhaft auf ihre Spuren gestoßen sein muss, geflissentlich weggeschaut. Bei aller Reserviertheit gegenüber der NS-Ideologie hatte er sich dem Regime als ökonomischer Berater zur Verfügung gestellt, nach außen hin stets die vorgebliche Kriegswichtigkeit seiner Tätigkeiten wie einen Schutzmantel um sich legend, dabei manchen seiner Mitarbeiter vor dem Fronteinsatz bewahrt und zugleich bauernschlau auf sein Verhandlungsgeschick, seine Unverwundbarkeit und nicht zuletzt wohl auch die Protektion durch Bürckel bis zu dessen tödlichem Kollaps im September 1944 vertraut. Dass er damit durchkam, war Glück oder Schicksal, wie man’s nimmt. Sein legerer bis renitenter Umgang mit der Verwaltung der Stadt Nürnberg und deren NSDAP- und SS-Repräsentanten hätte ebenso leicht schiefgehen können, wie sein unvorsichtiger Umgang mit der Denkschrift. Wäre Goerdelers handschriftliche Empfehlung für die Mitverschwörer, in der Erhard als einziger lebender Deutscher überhaupt namentlich und außerdem noch lobend erwähnt wurde, in die Hände der Gestapo gefallen, es hätte wohl seinen Tod bedeutet.

Und doch sind diese Jahre für ihn eine Zeit der »education économique« gewesen. Spätestens mit der Eröffnung seines eigenen kleinen Instituts ab 1943 beschäftigte er sich nicht mehr primär und hauptsächlich mit aktueller Wirtschaftsberatung, sondern intensiv und eingebunden in ein größeres Netzwerk, das sich über Hitlers entsprechende Verbote hier entschieden hinwegsetzte, mit – wirtschaftlicher Zukunftsplanung; er wurde dabei sogar zu so etwas wie dem zentralen Koordinator. Jetzt, in der Endphase des Krieges, begegnen wir einem anderen Mann. Ab jetzt durchdringt Ludwig Erhard eine ganz neue Selbstgewissheit und Sicherheit, die ihn fortan begleiten sollte bis ans Ende seiner Tage. Ab jetzt ist er fest davon überzeugt, dass er aus dem Desaster der Diktatur gelernt und die richtigen Antworten für den Wieder- und Neuaufbau gefunden hat. Das NS-Regime mit seinem allumfassenden Machtanspruch hatte vollumfänglich versagt – moralisch, politisch, militärisch und eben nicht zuletzt auch ökonomisch. Der braune Kommandowirtschaftskapitalismus mit seinen Ausbeutungs- und Verschuldungsexzessen und seiner planwirtschaftlichen Beimischung, dessen Fiasko Erhard bei vielen Gelegenheiten im Reich und den besetzten Gebieten anschaulich vor Augen geführt worden war, taugte nicht als Zukunftsmodell, allenfalls als Abschreckungsfolie. Zukünftig müsse man also, davon ist er überzeugt, den allmächtigen, interventionistischen Staat zurückdrängen, seinen Spielraum beschränken, wieder Markt und Wettbewerb wirken lassen bei der Lohn- und Preissetzung. Nur so würde die Not der Bewirtschaftung überwunden, nachhaltiger Wohlstand geschaffen. Es ist eine Botschaft der wirtschaftlichen Freiheit und zugleich der notwendigen Beschränkung der Staatsmacht, die er fortan verbreiten will. Ein Mann hat seine Mission gefunden. Sicher, seine Schlussfolgerungen, seine Rezepturen waren damals noch visionär, und er stand mit ihnen ziemlich allein auf weiter Flur, sieht man einmal von der kleinen neoliberalen Freiburger Gruppe um Walter Eucken ab. Noch konnte man auch überhaupt nicht vorhersehen, auf welche Weise sie sich nach der bevorstehenden heftigen Niederlage würden realisieren lassen, geschweige denn, ob es überhaupt jemals dazu kommen würde. Aber Ludwig Erhard war Optimist und hielt es für keineswegs unwahrscheinlich. Zugleich war er fest entschlossen, beherzt zuzugreifen, wann immer sich ihm nach dem Ende des Krieges die Chance bieten würde, an der Umsetzung selbst maßgeblich mitzuwirken. An seine in Würzburg lebende Tochter Elisabeth hatte er jedenfalls schon im Sommer 1944 – von der Zensur unbeanstandet – überaus selbstbewusst geschrieben: »Unsere Zeit wird kommen!«23

Kampf ums Kanzleramt

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