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MARKTWIRTSCHAFTLICHER URKNALL – DIE ZUSAMMENARBEIT MIT KONRAD ADENAUER BEGINNT

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So viel war nach den ersten öffentlichen Auftritten von Ludwig Erhard als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in jedem Fall klar – seine Vision unterschied sich fundamental von kommunistischen und sozialdemokratischen Wirtschaftsvorstellungen. Im Kräftespiel innerhalb der heterogenen, zwischen linken und marktliberalen Positionen oszillierenden Union konnte er möglicherweise zu einem entscheidenden Trumpf werden. War ihm nicht zuzutrauen, hier die konkurrierenden, teilweise diffusen wirtschaftspolitischen Vorstellungen – die Bandbreite reichte vom christlichen Sozialismus über Sozialisierungskonzepte beinahe marxistischer Prägung bis zu kartellistischen Grundmodellen1 – zu vereinheitlichen und für mehr Klarheit zu sorgen?

Konrad Adenauer, der sich nach dem Tod seiner Frau nur eine kurzen Zeit des Rückzugs, der Trauer und Stille gestattete – für März 1948 sind keine nennenswerten Aktivitäten und Interventionen von ihm überliefert –, stürzte sich anschließend regelrecht in die politische Auseinandersetzung und war nach Erhards großer programmatischer Rede auf ihn aufmerksam geworden. Es war jedenfalls kein Zufall, dass der Vorsitzende der CDU der britischen Zone wenige Tage danach in Frankfurt anrief und den Wunsch nach einer baldigen Zusammenkunft äußerte.2

Wusste der parteilose Wirtschaftsexperte, mit wem er es da zu tun bekam? Einige Lebensdaten mögen ihm wohl bekannt gewesen sein, mehr nicht. Adenauer, 1876 geboren, in der Bismarck-Ära des Kaiserreichs aufgewachsen, trennte beinahe eine ganze Generation von seinem zukünftigen Partner. Wie Erhard entstammte er eher bescheidenen, kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Großvater war Bäcker in Bonn gewesen, der Vater Sekretär des Oberlandesgerichts, zuletzt Kanzleirat in Köln, also Beamter des mittleren Dienstes. 1906 wurde Konrad Adenauer zum Beigeordneten der Stadt Köln gewählt; 1917, mit 41 Jahren, hatte er es bereits zum Oberbürgermeister gebracht, dem jüngsten im Wilhelminischen Reich und eine der letzten Ernennungen, die Kaiser Wilhelm II. noch persönlich abzeichnete. Verwandtschaftliche Beziehungen, insbesondere die Heirat mit der aus einer angesehenen und vermögenden Kölner Familie stammenden Emma Weyer, aber auch seine erwiesene Tüchtigkeit hatten diesen Aufstieg nachhaltig gefördert. 16 Jahre lang, in Kriegs-, in Nachkriegswirren und so lange die Weimarer Republik dauerte, leitete Adenauer die Geschicke Kölns, von 1918 bis 1926 unter britischer Besatzung, sammelte als Oberbürgermeister, als angesehener, einflussreicher Repräsentant der Zentrumspartei, seit 1921 als Mitglied und Präsident des preußischen Staatsrates umfassende verwaltungstechnische und politische Erfahrungen. Stets stellte er sein hohes Talent im Umgang mit Menschen und Institutionen zum Wohle eines – überschaubaren – Ganzen unter Beweis. Zweimal, 1921 und 1926, war er zudem als Kandidat des Zentrums für das Amt des Reichskanzlers im Gespräch, doch daraus wurde nichts. Die Umstände waren nicht danach. Adenauer selbst auch nicht? Gewiss ist, dass sich sein Wirkungskreis damals auf das Rheinland beschränkte, seine Popularität kaum sehr viel weiter reichte. Nicht von ungefähr hatte er zwischen 1918 und 1923 zu denjenigen gehört, die für eine Loslösung des Rheinlandes von Preußen, für eine »Westdeutsche Republik«, einen neuen Bundesstaat im Reichsverband eingetreten waren – hier, fern von Berlin, fühlte sich Adenauer wohl, ruhten seine Wurzeln, bezog er seine Kraft, rheinischer Antäus, der er war.3

Ein neuer Lebensabschnitt Konrad Adenauers begann am 13. März 1933. An diesem Tag wurde er, der sich bis dahin allen nationalsozialistischen Übergriffen mutig entgegengestellt hatte, vom zuständigen Gauleiter als Oberbürgermeister von Köln abgesetzt, weil er zur Ankunft des »Führers« keine Flaggen hatte hissen lassen. Seines Amtes, all seiner Machtmittel und Einflussmöglichkeiten beraubt, war er nun Persona non grata geworden, wurde verfolgt, gedemütigt, immer wieder gezwungen, den Wohnort zu wechseln. Neubabelsberg bei Potsdam, das Benediktinerkloster Maria Laach, Unkel, schließlich Rhöndorf, wo er 1937 seinen Neubau am Zennigsweg beziehen konnte, waren die Stationen. Die Mittel für das unprätentiöse Haus unterhalb der romantischen Ruine der Burg Drachenfels mit seinem weitläufigen Terrassengarten, das überhaupt nur über eine Treppe mit mehr als 50 Stufen erreicht werden konnte, hatte er sich in einem aufsehenerregenden Prozess gegen das NS-Regime erstritten. An dessen Ende war ihm tatsächlich seine von den Nationalsozialisten aberkannte Altersversorgung wieder zuerkannt und eine Entschädigung für die enteignete Villa in Köln zugesprochen worden. Das belegt einerseits seine Unerschrockenheit und Zähigkeit, andererseits aber auch das partielle Weiterfunktionieren von deutscher Rechtsprechung und BGB in der Zeit der braunen Diktatur.

Eine politische Tätigkeit kam in jenen Jahren natürlich nicht mehr infrage. Lesen, Spazierengehen, Rosenschneiden – gezüchtet hat er sie nie, das war selbst ihm zu mühsam und zeitaufwendig –, überleben und abwarten, bis das Dritte Reich von außen besiegt wurde, hieß es jetzt. Eine aktive Beteiligung am Widerstand lehnte Adenauer ab. Von Goerdeler hatte er – im Gegensatz zu Erhard – keine hohe Meinung, hielt ihn für leichtsinnig, für »indiskret«, weigerte sich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Nicht allein, dass er die Erfolgschancen der Widerstandsbewegung als gering einschätzte, er hatte wohl auch an seine große Familie gedacht, wollte sie nicht in Gefahr bringen.4 Nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er dennoch verhaftet. Unter abenteuerlichen Umständen glückte ihm die Flucht. Erst nachdem seine zweite Frau Gussie, für Leib und Leben ihrer Tochter fürchtend, sein Versteck in der Nister Mühle im Westerwald bei einem Gestapoverhör preisgegeben hatte, gelang den NS-Schergen die erneute Festnahme. Adenauer selbst kam verhältnismäßig glimpflich davon, wurde am 26. November 1944 aus dem Gefängnis Brauweiler nach Rhöndorf entlassen – seine Frau jedoch, die, von Schuldgefühlen überwältigt, unter dem Eindruck, ihren Mann »verraten« zu haben, einen Selbstmordversuch unternommen hatte, trug bleibende Schäden davon, starb, wie bereits erwähnt, schließlich an den Spätfolgen ihrer Vergiftung vier Jahre später. Ihr langes Leiden überschattete das Familienleben in der Nachkriegszeit.5 Wer aber angenommen hatte, Konrad Adenauers Kräfte seien durch diese Umstände, diese Ereignisse aufgezehrt worden, sollte bald eines Besseren belehrt werden.

Am 4. Mai 1945 setzte ihn die amerikanische Militärregierung wieder in sein altes Amt ein. Mit großer Entschlossenheit und Energie machte er sich an die schwierige Aufgabe, den Wiederaufbau der schwer zerstörten Stadt in Gang zu setzen, noch einmal wie 1918/19 die Versorgung der Bevölkerung mit dem Allernotwendigsten zu organisieren. Die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Besatzungsmacht gestaltete sich dabei weitgehend konfliktfrei, mit der britischen dagegen, die im Juni Köln übernommen hatte, immer spannungsreicher. Nur ungern ließ sich der erfahrene Kommunalpolitiker von der Siegermacht in seine Amtsführung dreinreden – und erst recht mochte er nicht darauf verzichten, neue Fäden zu seinen alten Freunden, den Franzosen, zu spinnen. Sich gängeln zu lassen war Adenauer nun einmal fremd.

Fremd war aber auch dem britischen Militärgouverneur der Nordrhein-Provinz, Sir John Ashworth Barraclough, einem altgedienten Kolonialoffizier, ein derart selbstbewusstes Auftreten ihm unterstellter Personen. Am 6. Oktober 1945 ließ er den Bürgermeister zu sich zitieren und teilte ihm seine Entlassung – wegen Unfähigkeit – in kältestem Tone mit. »In my opinion you have failed in your duty to the people of COLOGNE«, hieß es in dem scharf formulierten Schreiben.6 Jeder politischen Tätigkeit sollte er sich in Zukunft enthalten, ja sogar den Regierungsbezirk Köln nicht mehr betreten dürfen. Das war hart. Kaum war das lange Stillhalten vorüber, sah er sich erneut zur politischen Untätigkeit verurteilt.

Umso verständlicher ist, dass Adenauer, nachdem Anfang Dezember das Verbot seiner politischen Betätigung aufgehoben worden war, eine ungewöhnlich intensive Aktivität entfaltete, und zwar – darin gänzlich anders als Ludwig Erhard – auf parteipolitischem Gebiet. Die neuerliche, wenn auch kurze Zwangspause hatte seinen Tatendrang noch einmal gestaut, nun brach er sich mit gesteigerter Wirkung Bahn. Hatte Adenauer ursprünglich nicht zu den Gründern der rheinischen Christlich-Demokratischen Partei (CDP) gehört, wohl weil er hatte abwarten wollen, wie sich das wieder erweckte, ihm natürlich bestens vertraute katholische Zentrum entwickelte, so stellte er von Beginn des neuen Jahres an seine ganze, beträchtliche Schaffenskraft in den Dienst der entstehenden Christlich-Demokratischen Union (CDU) des Rheinlandes, bei der Katholiken und Protestanten erklärtermaßen zusammenwirken wollten.

Zielsicher erklomm er eine Sprosse der Parteileiter nach der anderen. Der Historiker Rudolf Morsey spricht mit vollem Recht von einer »Blitzkarriere«, die da begann.7 Die einzelnen Etappen sind schnell genannt: Am 22. und 23. Januar 1946 dirigiert er als Ältester die Beratungen des Zonenausschusses der CDU in Herford so geschickt, dass sich seine Wahl zum vorläufigen Zonenvorsitzenden fast zwangsläufig ergibt; am 5. Februar wählt man ihn zum Vorsitzenden der rheinischen CDU, im März in Neheim-Hüsten zum CDU-Vorsitzenden der gesamten britischen Zone. Einen möglichen Gegenkandidaten wie Andreas Hermes hat er vorher ausgebootet und durch Verfahrenstricks am Erscheinen gehindert. Er wird Mitglied des Zonenbeirates, Mitglied des ernannten, im April 1947 dann gewählten Landtags von Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion. Ein Ministeramt im Kabinett von Karl Arnold lehnt er ab, will sich ganz dem Aufbau der Partei widmen, nicht in eine Kabinettsdisziplin einbinden, in seiner Bewegungsfreiheit hemmen lassen. Lieber leitet er die 1947 gegründete Arbeitsgemeinschaft von CDU und CSU.8 In der Tat, ein erstaunlicher Aufstieg, eine bedeutende Ämteranhäufung. Anciennität, Adenauers Verhalten in der NS-Zeit, seine körperliche Frische und geistige Beweglichkeit machten es ihm möglich, Konkurrenten wie Friedrich Holzapfel, den Oberbürgermeister von Herford und westfälischen CDU-Spitzenpolitiker, oder auch den bereits erwähnten Andreas Hermes, den früheren Reichsernährungs- und Finanzminister des Zentrums, in den Schatten zu stellen.

Von allen innerparteilichen Rivalen unterschied ihn, dass er – wie Ludwig Erhard auf ökonomischem Gebiet – schon sehr früh ein präzises Konzept für die Zukunft besaß, das auf einer nüchternen Einschätzung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Realitäten beruhte. Deutschland würde auf unabsehbare Zeit geteilt, der östliche Teil höchstwahrscheinlich lange unter sowjetischer Herrschaft bleiben. Am 16. März 1946 schrieb er an den in die USA emigrierten ehemaligen Kölner Sozialdemokraten Wilhelm F. Sollmann: »Die Gefahr ist groß. Asien steht an der Elbe. Nur ein wirtschaftlich und geistig gesundes Westeuropa unter Führung Englands und Frankreichs, ein Westeuropa, zu dem als wesentlicher Bestandteil der nicht von Rußland besetzte Teil Deutschlands gehört, kann das weitere geistige und machtmäßige Vordringen Asiens aufhalten. Helfen Sie doch, die Überzeugung in USA zu verbreiten, daß die Rettung Europas nur mit Hilfe von USA erfolgen kann und daß die Rettung Europas auch für USA wesentlich ist.«9 Seine Schlussfolgerung hieß für den westlichen Teil Deutschlands also: enge Verbindung mit Westeuropa, mit den USA und Frankreich, klare Westbindung also, keinesfalls mehr eine Schaukelpolitik à la Rapallo oder gar eine nationalstaatliche Restauration.10 Immer wieder führte er diese Gedankengänge in Reden, Vorträgen und Briefen aus, so etwa in einer Ansprache in Köln am 24. März 1946. Leo Schwering, ein Mitbegründer der rheinischen CDU, fasste später seinen Eindruck zusammen. »Der Versammlung erschien er als Staatsmann, der wußte, was er wollte.«11

Auch in parteipolitischer Hinsicht wusste Adenauer, was er wollte, beziehungsweise was er nicht wollte. Die CDU sollte eine große, überkonfessionelle, antimarxistische Volkspartei werden. Anders als die von der christlichen Gewerkschaftsbewegung geprägten Mitbegründer der Berliner CDU, als Jakob Kaiser und Ernst Lemmer, hielt Adenauer nichts vom Idealbild eines christlichen Sozialismus, nichts von einer Zusammenarbeit mit der SPD. Auch die Pläne Kaisers, Deutschland zur Brücke zwischen Ost und West auszubauen und Berlin, noch dazu den östlichen, von der Roten Armee besetzten Sektor der Stadt – dort hatten die Berliner Christdemokraten anfänglich ganz bewusst ihr Parteibüro installiert – zum Sitz des »Reichsparteivorstandes« der CDU, zur Parteizentrale, zu küren, überhaupt den Hauptstadtanspruch aufrechtzuerhalten, fand er völlig abwegig, ja naiv und gefährlich, weil die sowjetische, die kommunistische Bedrohung dabei ganz augenscheinlich leichtfertig vernachlässigt und unterschätzt wurde.12

Bezüglich einer Neuordnung der Wirtschaft gab es ebenfalls erhebliche Meinungsunterschiede zwischen Adenauer und dem Franken Jakob Kaiser, wobei Letzterer von den »Sozialausschüssen der christlichen Arbeitnehmerschaft in der CDU« unterstützt wurde. Gerade hier herrschte in der jungen Partei ein Konzeptionswirrwarr. Adenauer, dem nachgesagt wird, dass er mit den Ideen einer »geordneten freien Marktwirtschaft« sympathisierte13, stand allen Sozialisierungsplänen, den Wünschen nach Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien skeptisch-kritisch gegenüber.14

Allerdings hatte er sich zunächst zu »massiven programmatischen Zugeständnissen gegenüber dem Arbeitnehmerflügel gezwungen« gesehen, um die Partei zusammenzuhalten.15 Das von ihm maßgeblich mitformulierte Ahlener Programm vom Februar 1947 unter der Überschrift »CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus«16 entsprach wohl von Anfang an nicht ganz seinen Vorstellungen.17 Die Zustimmung zu derartigen Absichtserklärungen war eine taktisch bedingte Konzession, von der er jedoch innerhalb eines Jahres mehr und mehr abrückte, auch wenn er weiterhin »stereotyp« betonen sollte, auf dem Boden dieses Programmes zu stehen.18

War das liberale Moment in den Jahren 1946 und 1947 »lediglich eine unter vielen Facetten im ideological patchwork dieser eher als Sammlungsbewegung, denn als Partei erscheinenden Christlich-Demokratischen Union« gewesen19, so änderte sich das von 1948 an. Adenauer hatte sich als Führungspersönlichkeit so weit durchgesetzt, dass er nun daran gehen konnte, einem liberalen Kurs in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Durchbruch zu verhelfen, die CDU damit zugleich hart von SPD und KPD abzugrenzen. Dabei konnte ihm Erhard, der Frankfurter Wirtschaftsdirektor, möglicherweise wertvolle Hilfe leisten. Er suchte ihn für die Union zu gewinnen, wohl weil er hoffte, »mit ihm eine Waffe gegen die Sozialisten innerhalb und außerhalb seiner Partei« gefunden zu haben.20 Dabei erfüllte den alten Verwaltungsjuristen in ihm durchaus eine gewisse Skepsis gegenüber dem fränkischen Wirtschaftsprofessor. Am 2. Mai 1948 und damit in der Zeit der ersten verbürgten Zusammentreffen mit Erhard schrieb Adenauer an seine CDU-Kollegin Maria Meyer-Sevenich, »daß Herr Ehrhardt (sic!) von vielen als außergewöhnlich tüchtig bezeichnet werde, aber einen Mangel an Verwaltungserfahrung habe. Er sollte deswegen einen für Verwaltungsfragen geeigneten Staatssekretär bekommen …«21

Bei ihrer ersten Begegnung in jenem Frühling 1948 im Anschluss an das erwähnte Telefonat wird Adenauer seinem Gegenüber also möglicherweise zunächst durchaus kritisch begegnet sein, Misstrauen und Zurückhaltung gegenüber jedem Neuen gehörten ohnehin zu seiner Natur. Dieser Neue aber war eine besonders seltsame Figur, parteilos, in München als Minister offenbar gescheitert, über die FDP in seine Position in Frankfurt gelangt – und er sprach so optimistisch und zuversichtlich von einem ökonomischen Wiederaufstieg, dass einem darüber angesichts des herrschenden Desasters ganz schwindlig werden konnte.

Immerhin lud Adenauer ihn am Ende, etwaige Bedenken des Verwaltungsjuristen über Bord werfend, ein, im August auf dem Parteitag der CDU der britischen Zone in Recklinghausen zu sprechen – und der Wirtschaftsdirektor akzeptierte. Damit begann eine zunächst weitgehend harmonische, dann zunehmend spannungsreiche, für die Geschicke der Union, die Geschichte Westdeutschlands dagegen ungemein fruchtbare Zusammenarbeit. Am 31. Mai 1948 setzte Adenauer daraufhin während einer Sitzung des Zonenausschusses in Bad Meinberg die Überarbeitung des Ahlener Programmes offiziell durch. Es ist gewiss nicht gänzlich unangebracht, zwischen diesem Schritt und der Kontaktaufnahme mit Ludwig Erhard einen Zusammenhang herzustellen22, denn bei der angestrebten Neufassung des CDU-Wirtschaftsprogrammes sollte – so der Hamburger Delegierte Hugo Scharnberg, der zusammen mit dem späteren Bundesfinanzminister Franz Etzel und anderen die Umarbeitung vornehmen würde – »eine Abkehr von der zentral gelenkten Verwaltungswirtschaft und eine Rückkehr zur Marktwirtschaft unter starker Betonung des Leistungswettbewerbs« erreicht werden.23 Der Name Erhards fiel während dieser Tagung zwar noch nicht, aber seine Begriffe, seine Vorstellungen waren schon präsent.

Die Entwicklung im Sommer 1948 wird Adenauer vermutlich in seiner Überzeugung bestärkt haben, dass er in Erhard tatsächlich den entscheidenden Verbündeten finden konnte, um einen Kurs durchzusetzen, der demjenigen der Sozialdemokraten und Gewerkschaften diametral zuwiderlief, und dass er ihn daher trotz etwaiger Schwachstellen auf jeden Fall für die Sache der CDU einnehmen musste. Zunächst war ihm erstaunlicherweise nicht wirklich aufgefallen, welche Weichenstellung sich im Juni anbahnte, obwohl er an der Fraktionssitzung vom 4. Juni in Frankfurt teilnahm, als Ludwig Erhard sein berühmtes »Leitsätzegesetz« den christdemokratischen Abgeordneten vorstellte. Drei Tage später schrieb Adenauer jedenfalls an Dr. Edmund Kaufmann, den Stellvertreter Erhards, »keinen besonders günstigen Eindruck von der Fraktionssitzung am 4 d. Mts.« nach Rhöndorf mitgenommen zu haben.24 Ob er das schrieb, weil er vorzeitig gegangen war oder aber, weil ihn die wenig strukturierte Debattenführung des Fraktionsvorsitzenden Holzapfel Sorgen bereitete oder ihn Erhards Konzept nicht überzeugt hatte, wissen wir nicht.

Am 20. Juni 1948 trat die Währungsreform in Kraft. Es war dies »die einschneidendste Maßnahme der westalliierten Politik zwischen 1945 und 1949, weil sie sowohl die deutsche Teilung besiegelte als auch das wirtschaftliche … System der Bundesrepublik weitgehend vorstrukturierte«.25 Alte Reichsmarkguthaben und Verbindlichkeiten wurden im Verhältnis 10 zu 1 abgewertet, Reichsmarknoten mit dem gleichen Satz umgetauscht. Jeder Bewohner der drei Westzonen erhielt zunächst einmal 40 Deutsche Mark (DM) als »Kopfgeld« ausbezahlt. Der drastische, ja brutale Währungsschnitt, der zweite nach 1923/24, begünstigte einmal mehr alle Besitzer von Sachwerten, von bereits produzierten Gütern, von Grund und Boden, von Firmenbeteiligungen, auch von Aktien, Gold, Fremdwährungen wie Dollars und Schweizer Franken, während alle Sparer und Rentner, alle einfachen Besitzer von Bankkonten neunzig Prozent weggestrichen bekamen. Allerdings verschwanden die Zigarettenpseudowährung und der Schwarzmarkt schlagartig über Nacht.

War diese Währungsreform weitgehend durch die Alliierten, vorwiegend die Amerikaner, geplant und vorbereitet worden, so ging die an die Währungsreform gekoppelte Wirtschaftsreform wesentlich auf die Initiative eines deutschen Politikers zurück: auf Ludwig Erhard. Eigenmächtig hatte er seinen Pressesprecher Kuno Ockhardt angewiesen, am Tag der Währungsreform die gleichzeitige Aufhebung eines Großteils der Bewirtschaftungsmaßnahmen und Preisbindungen anzukündigen – allerdings keine vollständige Aufhebung, wie häufig zu lesen ist.26 Gesetzliche Mietobergrenzen und Mietenstopps, die noch zu Hitlers Zeiten kurz vor dem Krieg – am 20. April 1939 – als nationalsozialistische Wohltat eingeführt worden waren, wurden noch beibehalten und erst in den Fünfzigerjahren sukzessive abgeschafft.

Die zeitlich eng gekoppelte Doppelreform, die gleichzeitige Einführung der D-Mark und die Hinwendung zur Marktwirtschaft im Sommer 1948 markierte die wirtschaftliche Stunde Null und damit den marktwirtschaftlichen Urknall der deutschen Nachkriegsgeschichte. Erst jetzt war das Dritte Reich vollständig, nämlich auch auf dem Gebiet der Ökonomie, untergegangen – ab jetzt begann eine vollständig neue Zeit. Zugleich trat ein, was in der Geschichte höchst selten geschieht, es gab einen »Lichtschaltereffekt«. Mit der Doppelreform wurde ein Schalter umgelegt, und urplötzlich, über Nacht, veränderte sich das Straßenbild und damit der Alltag der Menschen fundamental. Das ist im 20. Jahrhundert in Deutschland nur noch einmal passiert, nämlich am 9. November 1989, nachdem Günter Schabowski in der legendären Pressekonferenz – unzureichend vorinformiert – erklärt hatte, die neue Reiseregelung des SED-Staates trete »sofort, unverzüglich« in Kraft. So wie diese zwei Worte sich in Windeseile über alle Sender verbreiteten und über Nacht Deutschland fundamental verändern und den Untergang der ostdeutschen Diktatur mit ihrer sozialistischen Wirtschaftsordnung einleiten sollten, hatte sich die Ankündigung von Erhards Pressesprecher in Windeseile über alle Sender verbreitet und Westdeutschland über Nacht vollständig verändert und den Untergang der NS-Diktatur endgültig besiegelt. Am Montag, dem 21. Juni 1948 waren jedenfalls alle zuvor gähnend leeren Schaufenster plötzlich_rappelvoll. Sie quollen regelrecht über vor Waren, die die Kaufleute zuvor in den Kellern und Lagern gehortet hatten und jetzt gegen gutes Geld zu verkaufen bereit waren.


Am Montag, dem 21. Juni 1948, rieben sich die Menschen in den Westzonen verblüfft die Augen: Über Nacht hatten sich die Schaufenster nach dem marktwirtschaftlichen Urknall mit Waren gefüllt und quollen regelrecht über.

Der marktwirtschaftliche Urknall ereignete sich wohl nicht zufällig wenige Tage bevor die westalliierten Militärgouverneure den Ministerpräsidenten am 1. Juli die Frankfurter Dokumente überreichten und damit den Auftrag zur Weststaatsgründung erteilten. Vor den politischen sollten die ökonomischen Grundlagen gelegt werden – und daran war ein Deutscher zentral beteiligt gewesen: der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft. Zugleich war diese Doppelreform ein wirkungsmächtiger Treibsatz für den Zerfall der Siegerkoalition des Weltkriegs. Stalin wollte weder die neue D-Mark, also eine Währung, die er nicht steuern und kontrollieren konnte, in seinem Machtbereich dulden, noch eine kapitalistische Revitalisierungsspritze, wie sie nach den Marshallplan-Geldern auch die Aufhebung der Bewirtschaftung darstellte. Deshalb ließ er am 23. Juni die Verkehrsverbindungen von und nach Westberlin unterbrechen. Sie waren plötzlich allesamt »chaputt«, allein die 1944 vereinbarten drei Luftkorridore blieben unangetastet. Mit dieser Berliner Blockade begann die erste große Krise der Nachkriegszeit – und diese wurde wiederum zum zentralen psychologischen Wendepunkt. Über die fast ein Jahr andauernde Luftbrücke wurden die Sowjets zu bedrohlichen Feinden und die westlichen Besatzungsmächte allmählich zu Schutzmächten und Freunden – besonders natürlich die Amerikaner. Berlin war fortan nicht mehr die Reichshauptstadt Hitlers, sondern der bedrohte und bedrängte Vorposten der westlichen Freiheit und Demokratie im »Roten Meer«.

Wie war es Erhard gelungen, seine Konzeption, seine Rezeptur für den marktwirtschaftlichen Urknall in die Tat umzusetzen? Unterstützt von einigen wenigen engen Vertrauten – von Walter Strauss, Leonhard Miksch, einem engagierten Ordoliberalen und »Zufalls-Sozialdemokraten«27, sowie von Alfred Müller-Armack28 –, hatte er im Frühsommer 1948 energisch begonnen, die radikale und folgenreiche Umschaltung des Wirtschaftssystems zum Zeitpunkt der Währungsreform vorzubereiten. In der ringsum herrschenden Verwirrung erwies sich ein Gutachten seines wissenschaftlichen Beirats mit dem ihm wohlgesinnten Walter Eucken an der Spitze (ungeachtet mehrerer Minderheitsvoten) als wichtige Stütze. Es trug mit dazu bei, vorhandene Bedenken bei CDU/CSU- und FDP-Abgeordneten im Wirtschaftsrat zu überwinden und Erhards Gesetzesvorlage im Juni 1948 zu einer Mehrheit zu verhelfen.

Das heute vollständig vergessene »Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform«, das sogenannte Leitsätzegesetz, spielte eine Schlüsselrolle bei dieser Wende, und man kann es mit Fug und Recht als das eigentliche Grundgesetz der Marktwirtschaft bezeichnen. Es war eine Art Generalvollmacht für Erhard. Weil er durch seine guten Kontakte zur amerikanischen Militäradministration wusste, dass der Zeitpunkt der Währungsreform unaufhaltsam näher rückte – das in der »Operation Bird Dog« in den USA neu gedruckte, reichlich amerikanisch wirkende Geld war ja bereits in 23 000 Kisten mit der ebenso hintersinnigen wie zutreffenden Aufschrift »Doorknobs« (»Türöffner«) verschifft und nach der Anlandung auf mit Sprengladungen versehenen Lkws nach Frankfurt in die ehemalige Reichsbanktresore transportiert worden und sollte von dort über die Landeszentralbanken verteilt werden –, hatte Erhard seinen Entwurf Anfang Juni in der Unionsfraktion und anschließend auch den anderen Fraktionen der bürgerlichen Koalition vorgestellt und um Zustimmung geworben.

Er ließ bei all seinen Auftritten keinen Zweifel daran, dass das Gesetzeswerk sein zentraler Schlüssel für das Tor in eine bessere Zukunft sei. Anschließend wurde der Gesetzentwurf von ihm im Wirtschaftsrat eingebracht und von diesem in drei rasch hintereinander ablaufenden Lesungen erregt diskutiert. Die zweite und dritte Lesung begann nach einer kurzen Unterbrechung in der Nacht genau um 23.24 Uhr. Diese Sitzung dauerte dann bis 5 Uhr früh am nächsten Morgen.

Vonseiten der SPD war schon im Vorfeld von einem neuen »Ermächtigungsgesetz« gesprochen worden. In seiner Rede, mit der er in der dramatischen Sitzung vom 17. auf den 18. Juni die Vorlage zur dritten Lesung einbrachte, sagte Ludwig Erhard deshalb am Schluss:

»Das Prinzip der staatlichen Planung und Lenkung lehne ich radikal ab, wo es den einzelnen Staatsbürger von früh bis abends als Konsumenten oder Produzenten quälen will. Diese Möglichkeiten schafft dieses Gesetz. Wir müssen also an uns glauben. Wir müssen glauben, daß diese Währungsreform gelingt. Wir müssen überzeugt sein, daß wir auf dieser Grundlage aus eigener Kraft heraus wieder mählich gesunden können. Dann ist dieses Gesetz kein Ermächtigungsgesetz für den Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, sondern es ist ein Gesetz zum Schutz der deutschen Währung, ein Gesetz zur Wiederherstellung der demokratischen Freiheit und Grundrechte, ein Gesetz des sozialen Schutzes und ein Gesetz des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Ich weiß, Sie sind nicht alle meiner Meinung. Aber ich bitte Sie überzeugt zu sein, daß das, was ich Ihnen sage, aus ehrlicher Gesinnung und aus dem ehrlichen Willen heraus geschieht, mit liberalen Methoden unverrückbar dem Ziel einer sozialen Wirtschaftspolitik zu dienen.«29

Mit dem Leitsätzegesetz und seinem klaren Bekenntnis zu einer »liberalen« Wirtschaftspolitik besänftigte Ludwig Erhard die Fraktionen von KPD und SPD natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Von diesem Tage an wurde er für die Linksparteien zum verhassten Gegner und zur Zielscheibe immer neuer heftiger Attacken über Wochen, Monate und Jahre hinweg. Dr. Gerhard Kreyssig, der gewerkschaftsnahe SPD-Abgeordnete, setzte in seiner Erwiderung den Ton der Gegner, sprach vom »Stahlbad der Preise« – der Krieg lag ja noch nicht lange zurück –, in das die Arbeiter geworfen würden und das zwangsläufig und unvermeidlich in einer »Katastrophe« enden müsse. Eine Wirtschaft könne »nur in Gang gesetzt werden durch systematische Planung und durch eine ebenso systematische staatliche Lenkung aller notwendigen Bedarfsgüter in Deutschland«.30 Sein Kollege Erwin Schoettle, Schuhmachersohn, gelernter Buchdrucker, Widerstandskämpfer und nach seiner Flucht von 1933 bis 1939 Leiter des SOPADE-Grenzsekretariats in St. Gallen, sekundierte ihm später. »Der materielle Inhalt des Gesetzes«, so sagte er, »ist außerordentlich dürftig und nur in einem Punkt vollkommen klar: Es gibt dem Direktor der Verwaltung der Wirtschaft so weitgehende Vollmachten, daß kein Parlament der Welt sie unbesehen und ohne entschiedene parlamentarische Kontrolle hinnehmen kann.« Aber man könne dem Gesetz auch deshalb nicht zustimmen, »weil bei dem Drang nach ›Freiheit der Wirtschaft‹ die Gefahr heraufbeschworen wird, daß ein erheblicher Teil unseres Volkes nicht mehr mitkommt und ermattet und verarmt am Straßenrand liegen und für immer zurück bleibt«.31

Schon aus diesen wenigen kurzen Zitaten wird der Frontverlauf deutlich. Es dauerte ein ganzes Jahrzehnt, bis die Sozialdemokraten widerwillig erkannten und einräumen mussten, dass Erhards neoliberale Wirtschaftspolitik nicht Massenverarmung, sondern wachsenden Wohlstand für viele bewirkt hatte und weiter bewirkte. Wirklich verstehen, geschweige denn sich zu eigen machen konnten sie seine Prinzipien dennoch nicht, eigentlich sogar bis heute nicht. Das gilt im Kern für alle Linksparteien einschließlich der Grünen, allen politikfloskelhaften Bekenntnissen zur Sozialen Marktwirtschaft zum Trotz. Allerdings ist auch in der Union der Kreis überzeugter Ordnungspolitiker mittlerweile auf ein kleines Häuflein zusammengeschmolzen; selbst Helmut Kohl wollte bekanntlich nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen, sondern Wahlen, und war dementsprechend davon überzeugt, dass das eine das andere ausschloss. Angela Merkel hat nach dem Leipziger Parteitag 2003 mit seiner dezidierten Hinwendung zur Marktwirtschaft die nächsten Wahlen darüber fast verloren und diese Lehre nicht mehr vergessen – sie hat anschließend in ihren Großen Koalitionen mehr zu einer Sozialdemokratisierung der Marktwirtschaft beigetragen als alle Kanzler vor ihr. Aber von alledem konnten die Abgeordneten in jener dramatischen Frankfurter Nacht natürlich noch nichts ahnen. Am Ende der heftigen Debatte wurde das Leitsätzegesetz vom Wirtschaftsrat in namentlicher Abstimmung mit 50 Stimmen von CDU/CSU/DP, FDP und Zentrum gegen 37 Stimmen von SPD und KPD angenommen.32 Zu den für Erhard später noch wichtigen Abgeordneten, die damals zugestimmt hatten, gehörten Theodor Blank, Gerd Bucerius, Matthias Hoogen, Robert Pferdmenges und Franz Josef Strauß.

In der Anlage zum Gesetz hatten Erhard und sein Mitstreiter Roland Risse fünf Leitsätze formuliert, welche für die zukünftige Wirtschaftspolitik bestimmend sein sollten. Die ersten drei dieser – für deutsche Gesetzestexte geradezu ungewohnt kurzen und verständlichen – Leitsätze lauteten:

»1. Der Freigabe aus der Bewirtschaftung ist vor ihrer Beibehaltung der Vorzug zu geben …

2. Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben …

3. Soweit der Staat den Verkehr mit Waren und Leistungen nicht regelt, ist dem Grundsatz des Leistungswettbewerbs Geltung zu verschaffen«.33

Den beiden Direktoren für Wirtschaft und für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wurde das Recht übertragen, nach ihrem Ermessen – von wenigen, allerdings gewichtigen Ausnahmen wie den Hauptnahrungsmitteln, Strom, Gas, Kohle und Mieten abgesehen – zu entscheiden, welche Waren von der Preisbindung ausgenommen werden konnten. Da der Direktor der Verwaltung für Ernährung, Hans Schlange-Schöningen, zu den erklärten Gegnern dieses Gesetzes gehörte, es also kaum anwenden würde, stellte es tatsächlich vor allem eine Handlungsvollmacht für Ludwig Erhard dar.34 Theodor Eschenburg hat es mit den beiden »Ermächtigungsgesetzen« zur Stabilisierung der Währung vom 13. Oktober und 10. Dezember 1923 verglichen und gemeint, abgesehen von jenem die Verfassung aufhebenden, weiterhin bekannten Ermächtigungsgesetz aus dem März 1933 habe es nie eine weiterreichende Bevollmächtigung für einen einzelnen Politiker in Deutschland gegeben.35

Mit diesem Leitsätzegesetz hatte der Wirtschaftsrat aber nicht nur Erhard so etwas wie einen Blankoscheck ausgestellt, sondern sich zugleich in seiner Mehrheit auf eine Politik der Wettbewerbswirtschaft festgelegt und damit den Abschied vom Bevormundungs- und Lenkungsstaat eingeleitet. Nicht umsonst war einem Teil der Christdemokraten – den Abgeordneten, die den Sozialausschüssen und Gewerkschaften_nahestanden und sich dem Ahlener Programm verpflichtet fühlten – die Zustimmung außerordentlich schwergefallen. Erhard hatte sich eigens vor der Sitzung noch mit sechs Abgeordneten vom Gewerkschaftsflügel um Theodor Blank und den christlichen Arbeitnehmervertreter Hugo Karpf von der CSU getroffen, und sie – erfolgreich – zu überzeugen versucht. Karpf erinnerte sich später: »Erhard wirkte in seiner Haltung und seinen Vorstellungen ehrlich und vertrauenerweckend!«36 Ohne die energische Fürsprache von Blank und weiterer christdemokratischer Gewerkschaftsvertreter wäre das Gesetz möglicherweise gescheitert. Dann hätte sogar die vehemente Fürsprache des Hamburger Rechtsanwaltes und ehemaligen Bausenators Gerd Bucerius sowie von Franz Josef Strauß in der Fraktion wenig genutzt.37

Erhard, der bekanntlich im Ruf stand, mit Verwaltungsapparaten nicht hantieren zu können, hatte diesen Coup planmäßig vorbereitet und zielsicher durchgeführt. So wurde, wie der damalige Oberdirektor des Wirtschaftsrats Hermann Pünder rückblickend kommentierte, »wohl die bedeutendste parlamentarische Entscheidung der deutschen Nachkriegsgeschichte« möglich.38 Und der Wirtschaftsdirektor nutzte entschlossen seinen Handlungsspielraum, legte den Rahmen des – von der alliierten Militärverwaltung noch nicht gebilligten und damit eigentlich unwirksamen – Gesetzes bewusst weit, geradezu extensiv aus. In der sicher richtigen Annahme, dass an einem Sonntag – dem Tag der Ausgabe der neuen D-Mark – die alliierte Verwaltungsbürokratie nichts gegen eine solche Amtsanmaßung und Überrumpelung würde unternehmen können, ließ Erhard durch den Sprecher seines Hauses am 20. Juni 1948 über den Rundfunk die Aufhebung der Bewirtschaftung und Preisbindung für die meisten Güter ankündigen.39 Währungs- und Wirtschaftsreform waren die beiden für ihn untrennbaren Seiten der Medaille und mussten deshalb, um Erfolg zu haben, unbedingt zeitgleich erfolgen. Rund 400 Warengattungen waren von diesem Schritt betroffen.40 Dennoch gehörte ein hohes Maß an persönlichem Mut dazu, eine solche Maßnahme ohne wirkliche Rückendeckung anzuordnen – sie stellte ja einen Verstoß gegen alle Besatzungsrechte und -vorschriften dar, musste daher die Alliierten auf den Plan rufen. Noch brisanter wirkt Erhards Vorgehen, wenn man berücksichtigt, dass damals die britische Labour-Regierung ebenso wie die Verantwortlichen in Paris prinzipiell einen Kurs der partiellen staatlichen Wirtschaftslenkung befürworteten, ja selbst praktizierten. Sie konnten sich durch ein derartiges Überraschungsmanöver gleich doppelt brüskiert fühlen, weil damit ja auch ihr eigenes Wirtschaftssystem in Frage gestellt wurde.41

Ausschlaggebend sollte jedoch die Haltung der Amerikaner sein. Grundsätzlich wurde in ihrer Militärverwaltung der neue Kurs wohl bejaht. Aber die dortigen Experten hielten den Zeitpunkt der Aufhebung der Bewirtschaftung für verfrüht und fürchteten, der durch »ihre« Währungsreform eingeleitete, ohnehin schmerzhafte wirtschaftliche Gesundungsprozess könne durch ein solches zusätzliches Experiment gefährdet werden. Soziale Unruhen, selbst Aufstände schienen keineswegs ausgeschlossen.42

Am Montag, dem 21. Juni 1948, wurde Erhard ins Büro des amerikanischen Militärgouverneurs Lucius D. Clay zitiert. Dort kam es zu einem mit kleineren Variationen immer wieder berichteten Dialog zwischen dem US-General und dem deutschen Direktor der Verwaltung für Wirtschaft. Auf die Vorhaltung, wie er, Erhard, es wagen könne, alliierte Gesetze und Vorschriften abzuändern, entgegnete dieser: »Ich habe die Vorschriften nicht abgeändert, ich habe sie abgeschafft.« Clay versuchte es mit Argumenten seiner eigenen Stabsoffiziere und schloss: »Aber alle meine Berater sind gegen Ihr Vorgehen!« Auch dies konnte Erhard nicht erschüttern: »Sie stehen nicht allein da. Meine Berater sind auch dagegen.«43

Die Anekdote, die schon bald in der Presse zirkulierte, ist vermutlich gut erfunden. Denn am Samstagabend vor der Währungsreform hatte Ludwig Erhard noch persönlich mit Clay und dessen britischem Kollegen Robertson zusammengesessen und über die Lage diskutiert. Es ist schwerlich anzunehmen, dass er dabei nicht erwähnte, was er am morgigen Tag zu tun beabsichtigte. Außerdem wussten die Besatzungsmächte natürlich von der gerade erfolgten Verabschiedung des Leitsätzegesetzes, mithin von dessen unmittelbar bevorstehender Anwendung. Von historischer Bedeutung bleibt allerdings, dass sich Clay anschließend Erhard nicht in den Weg stellte und die Militärverwaltung nach wenigen Tagen, am 30. Juni 1948, das Leitsätzegesetz absegnete, damit zugleich auch das Vorgehen des Direktors der Verwaltung für Wirtschaft im Nachhinein billigte. Vielleicht bewunderte General Clay im Stillen den entschlussfreudigen, gleichaltrigen Deutschen, setzte sich hinter den Kulissen für ihn ein – in seinen Memoiren bemerkte er jedenfalls, dass zur Aufhebung der Bewirtschaftungsvorschriften eine große Portion »Zivilcourage« gehört habe, eine gerade von Amerikanern hoch geschätzte Tugend.44

Eventuell ließen sie Erhard aber auch mit Absicht seinen Schritt als einen aus deutscher Selbstständigkeit und Entscheidungskompetenz geborenen Akt darstellen. Denn die Besatzungsmächte waren reichlich unbeliebt, und indem sich Erhard – scheinbar – gegen sie stellte, sich von ihrer Kontrolle emanzipierte, gewann er an Popularität, die ihm im Verlauf der möglicherweise schwierigen Entwicklung helfen mochte. Insgesamt war die Aufhebung der Bewirtschaftung tatsächlich die erste eigenständige deutsche Entscheidung und Weichenstellung der Nachkriegszeit von großer Tragweite – noch vor der Bildung des Parlamentarischen Rates, der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik. Diese Entscheidung steht am Beginn eines – im Zuge des nach Berliner Blockade und Luftbrücke rasch eskalierenden Kalten Krieges – voranschreitenden Emanzipationsprozesses von der Besatzungsherrschaft. Auch wenn die Westberliner die Westmächte ab dem Sommer 1948 als Beschützer zu entdecken und schätzen begannen, war diese Herrschaft bei der Mehrheit der Bewohner von Trizonesien – Frankreich trat mit seiner Zone im April 1949 der Bizone bei – unpopulär und blieb das auch.

Der zunächst unmittelbar eintretende Erfolg und die vollen Schaufenster nach Erhards fait accompli erleichterten den Verantwortlichen in der Militärverwaltung ihre nachträgliche Zustimmung. Die in Gang gesetzte Entwicklung entfaltete zudem eine ungeheure, die Militärverwaltung mitziehende Dynamik. Ein Stopp hätte die ganze liberale Reform infrage gestellt.45 Ludwig Erhard reagierte auf diesen Triumph bescheiden, zurückhaltend, vorsichtig. Schon in seiner Rundfunkansprache am 21. Juni 1948 suchte er alle diejenigen zu beruhigen, die fürchteten, er werde seine ihm mit dem Leitsätze-»Ermächtigungsgesetz« übertragenen Vollmachten missbrauchen, sie in parteipolitischen Einfluss umzumünzen suchen: »Ich habe keinen politischen Ehrgeiz, und am wenigsten einen solchen parteipolitischer Art. Wenn ich die mir erteilte Vollmacht wieder in die Hände des Wirtschaftsrates zurücklege, will ich glücklich und dankbar sein, wenn es mir vergönnt war, alle Fährnisse überwunden und zu meinem Teil dazu beigetragen zu haben, daß auch unser Volk, auf gesunder wirtschaftlicher Lage arbeitend, wieder ein Stück von jener irdischen Lebensfreude empfinden darf, ohne das es verkümmern und verderben müsste.«46

Die Erinnerung an die Diktatur war noch frisch, da mochten solche Beschwichtigungen durchaus angebracht sein. SPD und KPD blieben aber bei ihrer Ablehnung. Zwei Monate später, am 16. August, brachten sie einen Misstrauensantrag gegen Erhard im Wirtschaftsrat ein, weil »anstatt den Abbau der Bewirtschaftung und Preiskontrolle allenfalls schrittweise vorzunehmen, wie es der wirtschaftlichen Vernunft entsprochen hätte, die Lockerungen auch für Güter des lebenswichtigen Bedarfs in einem solchen Umfang eingetreten sind, daß ein sozialer Notstand eingetreten ist«. Hintergrund dieser Anklage war, dass schon bald nach dem marktwirtschaftlichen Urknall die Preise stark zu steigen begonnen hatten. Die SPD sprach jetzt von Erhards »Preiswuchergesetz«. Er musste sich im Plenum vorhalten lassen, dass bei einem wöchentlichen Durchschnittseinkommen eines Arbeiters von 38 D-Mark ein blauer Anzug, der 1938 zwischen 8 und 9 Mark und vor der Währungsreform 17 bis 18 Mark gekostet habe, für »heute 40 D-Mark« schlicht unerschwinglich sei und die Bevölkerung darüber sehr erbost wäre.47 Es war der erste einer ganzen Reihe von Misstrauensanträgen der Linken, mit denen sich Erhard konfrontiert sah. Er wurde allerdings mit 47 zu 36 Stimmen zurückgewiesen.

Der fränkische Wirtschaftsdirektor konnte also gestärkt – wie versprochen – zum Parteitag der CDU der britischen Zone am 28. und 29. August nach Recklinghausen fahren. Adenauer hatte ihn in der schwierigen Zeit zuvor in einem persönlichen Brief vom 9. August ermutigt, den Attacken der SPD entschlossen entgegenzutreten: »Der Feldzug der Sozialdemokratie gegen Frankfurt setzt auf breitester Front ein. Als wirksamstes Gegenargument gegen Frankfurt werden Preissteigerungen ins Feld geführt. Denken Sie bitte an diese Gefahr und tun Sie Ihr Möglichstes, sie auszuräumen.«48

In Recklinghausen hielt Ludwig Erhard seine erste programmatische Rede vor einem CDU-Parteitag. Erstmals bot sich ihm die Gelegenheit, Gegnern und Kritikern seiner Wirtschaftspolitik in den Reihen der CDU zu antworten, überhaupt größere Kreise der Christlichen Demokraten mit seinen Gedanken vertraut zu machen und um Unterstützung zu werben. Schon die ersten Sätze lassen jenes charakteristische Sendungsbewusstsein, jene Aufbruchsstimmung erkennen, die ihn erfüllte:

»Mit der wirtschaftspolitischen Wendung von der Zwangswirtschaft hin zur Marktwirtschaft haben wir mehr getan, als nur eine engere wirtschaftliche Maßnahme in die Wege geleitet, wir haben damit unser wirtschaftliches und soziales Leben auf eine neue Grundlage und vor einen neuen Anfang gestellt. Wir mußten abschwören der Intoleranz, die über geistige Unfreiheit zur Tyrannei und zum Totalitarismus führt. Wir mußten hin zu einer Ordnung, die durch freiwillige Einordnung, durch Verantwortungsbewußtsein in einer sinnvoll organischen Weise zum Ganzen strebt. Anstelle eines seelenlosen Kollektivismus, der unser Volk in die Not und in das Elend der Vermassung brachte, mußten wir hin zu einem organisch verantwortungsbewußten Staatsgedanken.«49

Jede Form von Sozialismus, ob national oder international geprägt, ging für ihn zwangsläufig und unabwendbar mit Intoleranz einher, die unvermeidlich in Unfreiheit, Tyrannei und totalitäre Strukturen münden musste – eine zentrale Grundüberzeugung von ihm, die vielen seiner Zeitgenossen, die Hitler und Stalin noch erlebt hatten, stärker und unmittelbarer einleuchtete als den Nachgeborenen, die zunehmend die in seiner Botschaft enthaltene Mahnung zu überhören und zu vergessen bereit waren. Dabei konnte er bei seinen Warnungen durchaus pathetisch werden, wie sein Schluss in Recklinghausen beweist: »Entweder wir verlieren die Nerven und geben dieser gehässigen und demagogischen Kritik nach, dann sinken wir zurück in den Zustand der Sklaverei … Dann kommen wir wieder zurück in die Planwirtschaft, die stufenweise sicher zur Zwangswirtschaft, zur Behördenwirtschaft bis zum Totalitarismus führt.«50

Mit diesen Worten konnte sich gewiss auch Konrad Adenauer identifizieren. Der antitotalitäre Konsens war ein früh verbindendes Element zwischen beiden. Galt es nicht gemeinsam zu verhindern, dass auch noch der westliche Teil Deutschlands zum Exerzierfeld irgendwelcher sozialistisch-marxistischer Experimente gemacht würde? Aber auch den skeptischen Anhängern des linken CDU-Flügels, die den sozialen Frieden durch einen liberalen Marktegoismus bedroht sahen, kam Erhard in Recklinghausen entgegen: »Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums, sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen und der Leistung dann aber auch den verdienten Erfolg zugute kommen läßt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.«

Sozial verpflichtete Marktwirtschaft, das war fortan das Zauberwort, unter dem jeder sich vorstellen durfte, was er wollte. Wo Erhard sich vom manchesterkapitalistischen Ausbeutungs-Freibeutertum abgrenzen wollte, sahen andere darin die Chance, mittels staatlichen Konjunktur- und Sozialprogrammen soziale Notlagen und Benachteiligungen auszugleichen. Immerhin, die Rede kam gut an. Das Protokoll verzeichnete gelegentliche »Bravo-Rufe«, und auch Johannes Albers, der Chef der CDU-Sozialausschüsse, war angetan. In der Resolution am Ende des von Adenauer unauffällig moderierten Parteitages wurde »die konsequente Fortsetzung des von der CDU im Wirtschaftsrat eingeschlagenen Kurses« verlangt. Das war der Kurs von Ludwig Erhard. Die Partei begann auf ihn einzuschwenken. Das Ahlener Programm wirkte demgegenüber überholt und nicht mehr zeitgemäß.51

Nach dem eindrucksvollen Auftritt verstärkte Adenauer, der am 15. September 1948 in Bonn zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates, der neuen verfassunggebenden Versammlung, gewählt worden war, den Kontakt mit Erhard, arrangierte weitere Treffen.52 Hermann Hesse schrieb einmal, jedem Anfang wohne ein Zauber inne – das mag für den Beginn der Beziehung zwischen Adenauer und Erhard durchaus zugetroffen haben. Jedenfalls empfand das Ludwig Erhard so. Der Rheinländer Adenauer zeigte sich von seiner liebenswürdigsten Seite – ganz wie es sein sozialdemokratischer Widerpart aus den Zwanzigerjahren, Robert Görlinger, dem Adenauer-Biographen Paul Weymar berichtet hat: »Seine Stärke war immer die Beeinflussung des einzelnen gewesen … Der Mann gilt allgemein als kalt. Das stimmt nicht. Adenauer hat vielmehr – und das halte ich für das Geheimnis seiner Erfolge! – die bemerkenswerte Fähigkeit, in Richtung seines Vorteils Gefühle zu entwickeln. Leute, die er gebrauchen kann, sind ihm sympathisch. Doch diese Sympathie erlischt sofort, wenn diese Leute ihre Funktion erfüllt haben.«53

Was seine Beziehung zu Ludwig Erhard anlangt, folgte sie exakt diesem Muster. Aber noch sind wir in der Werbungsphase. In diesen Monaten zog Adenauer »alle Register und verwendete seinen ganzen Einfallsreichtum darauf, Erhard zu sich herüberzuziehen – wer sich gerade des Wohlwollens dieses Menschenfängers erfreute, der hatte in ihm den besten Chef und den wärmsten Verteidiger.«54

Erhard stand mit Adenauer im Herbst 1948 und im folgenden Winter tatsächlich ein beredter, geschickter Förderer – aber auch Verteidiger – zur Seite. Den hatte der Wirtschaftsexperte bald bitter nötig. Die neue Wirtschaftsordnung sah sich schon kurz nach ihrer Einführung einer extrem harten Belastungsprobe ausgesetzt; sie geriet in heftige Turbulenzen. Zwar stieg das Marktangebot ziemlich rasch, aber es schossen eben auch die Preise weiter in die Höhe, während die Löhne noch bis zum November 1948 eingefroren blieben. Selbst in der Union gab es jetzt immer mehr kritische Stimmen von nervösen Christdemokraten. Paul Bausch, der Vorsitzende der nordwürttembergischen CDU, forderte schon Ende August einen baldigen Kurswechsel und einen Abschied von Erhards »blutleeren« Theorien. Ende September schlug sich in Frankfurt Hans Schlange-Schöningen, der Direktor für Landwirtschaft und Forsten von der CDU, der als Einziger der sechs Frankfurter Ressortchefs sich nicht eindeutig hinter das Leitsätzegesetz gestellt hatte, auf die Seite der sozialistischen Opposition und verlangte die Einrichtung einer neutralen »Obersten Preisbehörde«, die Erhards Konzept massiv konterkariert hätte. Während im Wirtschaftsrat die Mehrheit weiter zu ihm hielt und den zweiten Misstrauensantrag von KPD und SPD in einer besonders kritischen Woche am 10. November mit 51 zu 43 Stimmen abschmetterte, kam aus den Ländern sehr viel Zustimmung für die Position von Schlange-Schöningen. Anfang Oktober forderte der wirtschaftspolitische Ausschuss der CSU – einstimmig! – den Rücktritt Erhards. In den damals schon angewendeten Meinungsumfragen vom Oktober waren nur noch etwa 10 Prozent der Befragten der Meinung, dass Erhard seine Arbeit gut mache – ein wahrlich niederschmetternder Wert.55

Kein Zweifel, an der Parteibasis begann es heftig zu rumoren. Und in der Bevölkerung nahm der Unmut über die schwindende Kaufkraft der Einkommen weiter zu. »Tausche gesamte britische Militärregierung gegen deutsches Naziregime«, stand in jenem Herbst des Missvergnügens an Häuserwänden in Köln. Für den 12. November 1948 riefen die Gewerkschaften zum ersten und bislang einzigen Generalstreik in der westdeutschen Geschichte auf, gegen die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards – und über 9 Millionen Arbeitnehmer legten für 24 Stunden die Arbeit nieder, eine später niemals wieder erreichte, wahrlich »exorbitante« Streikbeteiligung und eindrucksvolle Demonstration des Protests gegen einen einzigen Mann, gegen den Frankfurter Wirtschaftsdirektor.56 Selbst in seiner Vaterstadt Fürth gingen die Menschen auf die Straße und trugen Transparente mit der Aufschrift »Weg mit Erhard und seiner bankrotten Wirtschaftspolitik« oder »Wir fordern Planung und Lenkung der Wirtschaft«. An anderen Orten stand gleich »Erhard an den Galgen« auf den Schildern der Aufgebrachten.

Die Angst vor einem abrupten wirtschaftlichen Zusammenbruch ging um. In der Verwaltung für Wirtschaft lagen in den Schubladen insgeheim bereits Neufassungen der eben erst aufgehobenen Preisverordnungen und neu gedruckte Bögen für Lebensmittelmarken – »das Amt selbst war allenthalben an der Richtigkeit der Thesen seines Chefs irre geworden«, berichtete Erhard später leicht amüsiert.57 Auch in der CDU/CSU blieb man nicht unberührt von der allgemeinen Missstimmung.58 So hielten etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold, die stellvertretenden Ministerpräsidenten von Hessen und Württemberg-Baden, Werner Hilpert und Heinrich Köhler, sowie der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard mit ihrer Kritik immer weniger hinter dem Berg.59


Selbst in seiner fränkischen Heimat wie hier in Nürnberg forderten Demonstranten beim Generalstreik am 12. November 1948 auf Transparenten: »Weg mit Erhard und seiner bankrotten Wirtschaftspolitik« und »Wir verlangen Lenkung und Planung der Wirtschaft«.

Am 18. November machte sich der gewerkschaftsfreundliche Karl Arnold die Forderungen Schlange-Schöningens zu eigen und beantragte im Länderrat – eine Vorform des späteren Bundesrats – die Schaffung eines Preisamtes. Mit den Stimmen der Union wurde dort von einer Großen Koalition von SPD und CDU eine für Erhard kaum fassliche Resolution verabschiedet: »Der Länderrat ist einstimmig (!) der Auffassung, daß die gegenwärtige Lage eine grundlegende Änderung der Preispolitik notwendig macht. Er ist ferner der Auffassung, daß der Versuch, eine funktionierende Marktwirtschaft herzustellen, auf den kritischen Mangelgebieten vorläufig als gescheitert betrachtet werden muß …«60

Was für eine Ohrfeige für den Frankfurter Wirtschaftsdirektor. Und bedrohlich noch dazu. War der marktwirtschaftliche Urknall damit schon verpufft und in sich zusammengefallen wie ein geplatzter Luftballon? Erhard war da kaum wirklich besorgt, er hatte erstaunlich gute Nerven und eine Bierruhe selbst in existentiell kritischen Situationen wie diesen, das haben Weggefährten wie Wolfram Langer und Gerd Bucerius bestätigt. Damals half ihm überdies zweierlei. Zum einen die Amerikaner, die ihre »Entdeckung« nicht im Stich lassen und die neue Wirtschaftsordnung nicht gleich wieder scheitern sehen wollten. Sie hoben im November den Lohnstopp auf und öffneten die Tore ihrer Lager, um große Mengen an dringend benötigten Alltagswaren wie Schuhe zu niedrigen, von der US-Army subventionierten Preisen auf den Markt zu werfen. Diese unerwartete Vergrößerung des preiswerten Warenangebots dämpfte zusammen mit dem »Jedermann-Programm« der Verwaltung für Wirtschaft den Preisauftrieb merklich. Bei diesem Programm wurden Textil-, aber auch Betten- und andere Möbelproduzenten rasch und bevorzugt mit den kostbaren Rohstoffen versorgt und mussten sich im Gegenzug zu einer moderaten Preisgestaltung verpflichten. Hinzu kamen zinsgünstige Kredite von der Bank deutscher Länder. Das alles half, die erste dramatische Anpassungskrise der jungen Sozialen Marktwirtschaft zu überwinden.61

Ebenso positiv wie diese von ihm vorhergesagte Entwicklung war für Ludwig Erhard die kontinuierliche Rückendeckung, die er in den kritischen Monaten von Konrad Adenauer erfahren hatte. Höhe- und zugleich Schlusspunkt der Adenauer’schen Werbung um Erhard war wohl die Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone am 24. und 25. Februar 1949 im Stegerwaldhaus in Königswinter, wo sich alles, was in der Union Rang und Namen hatte, treffen sollte.62 Die Beratungen im Parlamentarischen Rat schritten voran. Ein Ende – die Verabschiedung des Grundgesetzes, dessen Text der kleine Verfassungskonvent vom Herrenchiemsee ja schon weitgehend vorformuliert hatte – ließ sich absehen, damit auch die Möglichkeit von Wahlen zu einem gemeinsamen Parlament aller drei Westzonen. Im Februar 1949 ging es daher darum, ein Wahlprogramm von CDU und CSU zu entwickeln. Weil die Überarbeitung des Ahlener Programms noch nicht abgeschlossen war, hatte Konrad Adenauer als Vorsitzender der rheinländischen CDU erneut den Wirtschaftsdirektor aus Frankfurt eingeladen, seine wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen ausführlich darzulegen, damit diese bei der Formulierung des Wirtschaftsprogrammes Berücksichtigung finden und die Neufassung erleichtern konnten.

Erhard, der parteilose Gast, kam dieser Aufforderung nach und warb seinerseits mit einem Versprechen: »Lassen Sie mich ein Bekenntnis ablegen, daß ich mich zu Ihnen gehörig fühle und daß ich dieser Zugehörigkeit jetzt und vor allem bei der entscheidenden Wahl mit dem Einsatz meiner ganzen Person Ausdruck geben möchte.«63 Das war wohl der Dank für die Unterstützung Adenauers, aber auch der CDU im Wirtschaftsrat, die ihn, den Parteilosen, trotz heftiger Anfeindungen der Linken nicht hatten fallen lassen.

Anschließend machte Erhard klar, dass nach seiner Auffassung hauptsächlich auf einem Feld die entscheidende Wahlschlacht zwischen CDU und SPD geschlagen würde: auf dem der Wirtschaftspolitik. Mit der Sozialen Marktwirtschaft im Tornister sollten die Christdemokraten jedoch beruhigt in diesen Kampf ziehen, sei die Marschroute fest vorgezeichnet – und der Sieg gewiss: »Also, der Weg ist klar. Wenn ich Ihnen von den guten Nerven, die wir alle brauchen, und von der Zuversicht … – und das ist nicht zuletzt das Wesentliche unserer jetzigen Zeit – etwas vermitteln kann, will ich dankbar sein. Was an mir liegt, so können Sie mich meinetwegen im Wahlkampf jeden Tag zwei- oder dreimal einsetzen. Ich strahle etwas davon aus. Dann werden wir den Wahlkampf gewinnen, und damit werden wir nach meiner Ansicht nicht nur deutsche Geschichte machen, sondern werden das Gesicht Europas formen.«64 Bemerkenswerte Worte, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – und ein Versprechen, das er tatsächlich halten würde. Die Bundesrepublik sollte in den kommenden fast zwei Jahrzehnten keinen erfolgreicheren Wahlkämpfer als ihn erleben, und die Christdemokraten würden ihm nicht von ungefähr bald den Ehrentitel »Wahllokomotive« verleihen, denn Wahlsiege sicherten Macht und Mandate.

Am Schluss seines wie gewohnt optimistischen Vortrags verlieh Erhard auch der Hoffnung Ausdruck, dass man, um die kommenden Wahlen erfolgreich bestehen und geschlossen auftreten zu können, das interne Kriegsbeil begraben und sich innerhalb der CDU »hinsichtlich einer relativ primitiven Sache, wie es die Wirtschaft ist – denn die Wirtschaft ist nur Mittel zum Zweck zur Erreichung eines höheren Zieles, das im Ethischen liegt«, rasch einigen werde. Er hatte in den Abgrund des Scheiterns geblickt und erkannt, dass er unbedingt Verbündete mit einer großen Partei im Rücken benötigte. Daher hatte er sich entschieden, dem Werben der FDP-Spitze um Theodor Heuss, Reinhold Maier und Thomas Dehler eine Absage zu erteilen und fürderhin für die Union auf-, an- und einzutreten – ohne allerdings förmliches Parteimitglied zu werden. Das tat er nie, selbst 1963 nicht – die entsprechenden Unterlagen sind allesamt frisiert.

Adenauer dankte ihm sofort und ungewöhnlich überschwänglich, gab vor allen anderen zu, dass ihn das Stehvermögen und die prognostischen Fähigkeiten des fränkischen Wirtschaftsspezialisten überrascht und überzeugt hätten, und appellierte ebenfalls an die Sitzungsteilnehmer, sich nunmehr unverzüglich über die Wirtschaftsprogrammatik zu verständigen:

»Als Professor Erhard vor einem halben Jahr [in Recklinghausen] sprach und dort mit einer sehr starken Kraft verkündete, es würde anders werden, da – ich gestehe es offen – habe ich gesagt, ausgezeichnete Rede, hoffentlich trifft alles ein. Wenn wir rückwärts schauen, dann können wir nur sagen, es ist eingetroffen, zwar noch nicht bis zum letzten Rest, dafür war die Zeit zu kurz. Heute aber kann man doch das eine feststellen: daß die Prinzipien, die Herr Erhard uns dargelegt hat und nach denen er arbeitet und handelt, wirklich gute Prinzipien sind. Auch darin hat er recht, daß er sagt, wir müßten uns bei einem verhältnismäßig primitiven Ding, wie die Wirtschaft es ist, doch zusammenfinden können. Er hat in seiner Rede das Geheimnis jeden Erfolges wirken lassen, die Dinge zurückzuführen auf möglichst einfache und klare Begriffe. Das wollen wir auch tun, wenn wir demnächst in die Wahlpropaganda gehen.«

Kampf ums Kanzleramt

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