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Kapitel 7

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„In den letzten Monaten hatte ich meine anfängliche Scheu, die Stadt zu betreten, weitestgehend abgelegt. Ich hatte meine Wege gefunden, auf denen ich mich ungesehen bewegen konnte, um mir meine Opfer zu suchen, und hatte inzwischen meine favorisierten Ecken, wo ich diesbezüglich in der Regel schnell fündig wurde. Doch trotz meines brütenden Durstes, war ich diesmal nicht richtig bei der Sache, sodass ich zunächst leer ausging. Stattdessen schlenderte ich ohne konkretes Ziel durch die Straßen, bis ich mich plötzlich vor einem kleinen, eigentlich eher unauffälligen Geschäft wieder fand.

Ich blickte bloß beiläufig durch das verstaubte Fenster hinein, aber als ich sah, was sich dahinter befand, musste ich zugeben, dass mein Nachsinnen wohl doch nicht so erfolglos geblieben war, wie ich bis dahin geglaubt hatte. Mein Blick fiel geradewegs auf allerlei Tintenfässer in unterschiedlichen Farben, außerdem Federn in sämtlichen Varianten sowie stapelweise Papier, und just in diesem Moment wusste ich, wie ich meiner Familie helfen konnte.

Der Abend war bereits so weit fortgeschritten, dass der Laden geschlossen und die Lichter darinnen gelöscht waren. Der Besitzer hatte sich wahrscheinlich schon in seine Gemächer zurückgezogen und würde bald schlafen gehen. Ich beschloss daher, mich in einer dunklen, nahe gelegenen Nische zu verstecken und noch so lange zu warten, bis auch die letzten Lichter hinter den übrigen Fenstern des Hauses erloschen und nächtliche Ruhe eingekehrt war. Dann erst wagte ich mich wieder hervor und ging zu der Ladentüre.

Mit einem kurzen, kräftigen Hieb schlug ich die dünne Scheibe ein, die wie ein kleines Fenster auf Augenhöhe in das Türblatt eingelassen war. Dann griff ich mit der Hand durch das Loch und entriegelte die Tür von innen, um mir Zugang zu verschaffen. Hastig schaute ich mich noch einmal um, bevor ich schließlich das Lädchen betrat und geradewegs auf die Schreibutensilien zusteuerte.

Es hätte alles zusammengenommen nicht lange gedauert und ich wäre mit den wenigen Dingen, die ich brauchte, über alle Berge gewesen, bis man den Diebstahl schließlich entdeckt hätte; davon jedenfalls war ich ausgegangen. Doch wie es der Teufel wollte, musste der Besitzer des Ladens gerade zu diesem Zeitpunkt zufällig in der Nähe gewesen sein, sei es, dass er gerade auf dem Weg war, sich Erleichterung zu verschaffen, oder was weiß ich, welche Gründe ihn noch umher getrieben haben. Jedenfalls hatte er die Geräusche, die ich bei meinem Einbruch verursacht hatte, gehört und öffnete nun, mit einer Pistole in der einen und einem Kerzenleuchter in der anderen Hand, die Innentür zu seinem Geschäft.

Ich erstarrte vor Schreck, denn ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, ja ich hatte ihn nicht einmal kommen gehört. Zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, mir Tintenfass, Feder und Papier zusammenzusuchen und mich für diese gute Idee zu beglückwünschen.

Vorsichtig betrat der Mann den Laden und hielt seinen Leuchter hoch, während er sich achtsam umschaute. In der Zwischenzeit hätte ich mich vielleicht noch rasch verstecken oder aber auch einfach davonrennen können, wenn das Licht der Kerze mir nicht gerade unmittelbar in meine empfindlichen Augen geschienen und mich unangenehm geblendet hätte. So aber blieb mir, der ich die letzten Monate lediglich im Schein des Mondes und der Sterne verbracht hatte, nichts anderes übrig, als schützend meinen Arm vor das Gesicht zu heben und blinzelnd zu versuchen, meine Augen an das Licht zu gewöhnen.

Ich musste gruselig in dem flackernden Schein der Flamme ausgesehen haben: zerzaustes Haar, dreckige, lumpige Kleidung, nackte Füße und kalkweiße Haut... Jedenfalls schrie der Kaufmann erschrocken auf, als er mich erblickte, stellte eilig den Leuchter beiseite, hob seine Pistole hoch, zielte auf mich und drückte den Abzug. Laut krachend löste sich ein Schuss, dessen Kugel mich direkt in die linke Brust traf und mit unglaublicher Wucht rücklings zu Boden schleuderte. Ein massiver Holzschrank bremste schließlich meinen Fall und bohrte mir dabei noch zu allem Überfluss den runden Griff einer Schublade in den Rücken. Keuchend vor Schmerzen blieb ich an den Schrank gelehnt liegen und starrte fassungslos auf meine Brust, wo die Kugel eine klaffende Wunde aufgerissen hatte. Mein Blut schoss unaufhaltsam daraus hervor, durchtränkte binnen Sekunden mein zerrissenes Hemd und sammelte sich in kürzester Zeit zu einer Pfütze unter mir auf dem Boden. Ich konnte fühlen, dass die Kugel bis in mein Herz vorgedrungen war und es genauso aufgerissen hatte wie meine Haut. Eine bedrohliche Schwärze zog langsam an dem Horizont meines Bewusstseins herauf und ich fürchtete, mein Herz würde nun schlussendlich doch stehen bleiben, auch wenn der Dolch des Wegelagerers ihm damals nur wenig ausgemacht hatte.

Die Geräusche um mich herum begannen zu verblassen, die Welt zu einem immer enger werdenden Loch zusammen zu schrumpfen. Meine Gedanken wollten sich zunehmend verflüchtigen und ich wähnte mich bereits des endgültigen Todes, da klarte mein Bewusstsein plötzlich wieder auf. Ich spürte, wie mein Herz sich in meiner Brust kräftig, ja fast wütend zusammenzog, als müsse es einmal tief Luft holen. Es machte einen kurzen Satz, um daraufhin sogar mit doppelter Kraft weiter zu pumpen. Und dann passierte etwas, das mich nicht minder überraschte als den Kaufmann, der - mich bereits für sterbend haltend - herangetreten war und auf mich herabblickte.

Es begann mit dem eigenartigen Gefühl, als krampfe sich mein Brustkorb wie eine Faust zusammen, während gleichzeitig der Blutstrom aus meiner Wunde versiegte. Sie fing von innen heraus zu heilen an und ich konnte spüren, wie die Kugel dabei Stück für Stück aus meinem Körper herausgequetscht wurde, bis sie wie ein welkes Blatt von mir abfiel. Mit einem klirrenden Geräusch plumpste sie schließlich zu Boden und kullerte dem Kaufmann direkt vor die Füße. Dieser starrte sichtbar verwirrt zunächst die Kugel und dann mich an.

`Das ist unmöglich´, flüsterte er benommen und wich bestürzt vor mir zurück.

Aufgeschreckt durch den Schuss, waren inzwischen sämtliche Mitbewohner des Hauses herbeigeeilt und hatten sich in dem kleinen Laden versammelt, sodass sie ebenfalls zwangsläufig Zeugen dieser wundersamen Heilung wurden. Furchtsam betrachteten sie mich, wobei niemand es wagte, sich mir weiter zu nähern.

Ich wollte aufstehen und die Gunst der Stunde nutzen, um so schnell wie möglich zu entwischen. Doch zu allem Unglück war gerade in diesem Moment der Nachtwächter von draußen hereingekommen, der auf seinem Rundgang wohl zufällig in der Nähe gewesen sein musste und ebenfalls von dem Krach der Pistole angelockt worden war. Er war ein äußerst kräftiger, großer Mann von sicherlich bereits vierzig Jahren. Breitbeinig stand er in der Tür und blockierte damit meinen einzigen Fluchtweg. Verzweifelt blickte ich mich um, fand aber einfach keine andere Möglichkeit, zu entkommen.

Ich war gefangen!

Der Nachtwächter war, wie ich bald zu spüren bekam, ein Mann der Tat. Noch während der Kaufmann ihm mit überschlagender Stimme berichtete, was vorgefallen war – dabei bezeichnete er mich als Teufel, der schleunigst auf den Scheiterhaufen gehörte – war dieser mit überraschender Schnelligkeit an mich herangetreten, hatte mich kurzer Hand gepackt und mit einer gekonnten, kraftvollen Bewegung auf den Bauch gedreht. Ebenso flink verschränkte er mir meine Arme auf dem Rücken, sodass mir hiernach nicht mehr der geringste Bewegungsspielraum blieb. Gleich, wie stark ich sein mochte, in dieser Position hatte ich nicht viel davon, und bei jedem Versuch, mich zu befreien, drückte der Kerl meine Arme noch fester auf den Rücken, was verdammt schmerzhaft war!

Mochte mein Körper keinen dauerhaften Schaden durch Verletzungen erleiden, weil er sich stets rasch davon wieder erholte, aber – weiß Gott - Schmerzen konnte man mir immer noch zufügen...

`Schnell, ich brauche einen festen Strick, damit ich den Bastard hier fesseln kann´, befahl der Nachtwächter mit barscher, tiefer Stimme, worauf ich hören konnte, wie sich jemand eilig in Bewegung setzte, mit schnellen Schritten im Nebenzimmer verschwand und bald darauf wieder zurückkehrte. Unmittelbar darauf spürte ich, wie der Nachtwächter beherzt meine Handgelenke aneinanderzufesseln begann, und dabei war er wirklich nicht zimperlich. Er zurrte den Strick so fest zusammen, dass meine Hände taub wurden, und dessen nicht genug, verfuhr er ebenso mit meinen Fußgelenken. Zudem schien er auch noch eine sichtliche Freude daran zu haben, mir auf jede erdenkliche Weise weh zu tun. Zuletzt packte er mich bei den gefesselten Beinen und drehte mich mit einem unsanften Schwung auf den Rücken, um mich dann, unter den befriedigten Blicken der Anwesenden, aus dem Laden heraus zu schleifen.

Ein feiner Sprühregen hing in der Luft und legte sich wie ein feuchtes Tuch über mein Gesicht, sobald wir ins Freie gelangten. Ungerührt zog mich der Nachtwächter über das nasse Pflaster quer durch die schlafende Stadt und nahm dabei keinerlei Rücksicht auf die Steine und Kanten, die überall nur darauf lauerten, gegen meinen Schädel schlagen und mir wie unnachgiebige Krallen die Haut an Rücken und Armen aufreißen zu können. Für was auch immer dieser Kerkermeister mich nach den Schilderungen des Ladenbesitzers hielt, einen gewöhnlichen Menschen hätte er sicherlich nicht derart unwürdig behandelt, dessen war ich mir sicher.

Wie nicht schwer zu erraten war, endete sein Weg beim Stadtverlies, was allerdings nicht bedeutete, dass auch meine Tortur damit ein Ende hatte. Nein, ich würde eher sagen, den Höhepunkt hatte sich dieser Folterknecht bis zuletzt aufgehoben.

Zu den eigentlichen Kerkern hinab führte eine steile, gewundene Treppe aus Bruchsteinen, was den Nachtwächter jedoch nicht dazu bewog, sich die Mühe zu machen, mich etwa selbst dort hinunter zu schleppen. Vielmehr überließ er diese Arbeit der Schwerkraft. Mit anderen Worten, er stieß mich, verschnürt wie ich war, mit einem kräftigen Tritt die Treppe herunter. Und da ich mit gebundenen Armen und Beinen nicht die geringste Möglichkeit besaß, meinen Sturz irgendwie abzufangen oder halbwegs zu kontrollieren, polterte ich, wie es der Zufall wollte, schutzlos all die Stufen hinunter bis ich, mit Wunden übersät, zahlreichen Prellungen und mindestens drei gebrochenen Rippen, ganz unten angekommen war.

Da lag ich nun, völlig verdreht und regungslos, ausgefüllt von rasenden Schmerzen, ohne dass ich sie noch irgendeinem Körperteil hätte zuordnen können; und während ich so dalag, stieg der Nachtwächter, mir folgend, mit schweren Schritten gemächlich die Stufen herab. Bald darauf konnte ich seine nassen, schmutzigen Stiefel auf mich zukommen und unmittelbar vor meiner Nase anhalten sehen. Mit größter Anstrengung und noch größeren Schmerzen hob ich meinen Kopf etwas an, um ihm in sein feistes Gesicht zu schauen und ich weiß nicht, was in diesem Moment schlimmer für mich war: die furchtbaren Schmerzen oder die Schmach, die ich darüber empfand, wie ein elender Haufen zu Füßen dieses triumphierend grinsenden Nachtwächters zu liegen...

Wie ich ihn dafür hasste! Nur zu gern wäre ich ihm jetzt an seine fette Kehle gesprungen und hätte ihm sein verfluchtes Blut herausgesaugt!

Stattdessen aber musste ich mich in diesem zertrümmerten Zustand noch einmal von ihm an den Beinen packen und mit schaurig aneinander reibenden Knochen durch das scheinbar nie enden wollende Gewölbe ziehen lassen. Fast hätte ich darüber das Bewusstsein verloren, doch da hatten wir das Verließ, das er mir zugedacht hatte, bereits erreicht. Mit einem letzten Tritt schob mich mein Peiniger hinein und ließ dann endlich von mir ab.

Ohne mich weiter zu beachten, drückte er die schwere, eisenbeschlagene Eichentür ins Schloss und schob geräuschvoll einen mächtigen Riegel davor. Ich hörte, wie sich seine selbstzufriedenen Schritte stampfend entfernten und kann gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich darüber war...

Endlich war ich allein! Endlich hatte mein geschundener Körper Ruhe und Zeit, sich zu regenerieren!

Mit geschlossenen Augen lag ich da und wartete sehnsüchtig darauf, dass die Schmerzen bald nachließen. Ja, es dauerte gar nicht einmal lange, da konnte ich bereits fühlen - nicht ohne ein inneres Erschauern dabei zu empfinden - wie sich meine gebrochenen Knochen knirschend richteten und, von einem kribbelnden Gefühl begleitet, wieder zusammenfügten. Ebenso schlossen sich meine Wunden rückstandslos, gleich wie tief oder geschwollen sie waren, sodass am Ende meine Haut dort wieder glatt und bleich war. Abgesehen von meiner nun gänzlich zerrissenen und verschmutzten Kleidung, sah ich nach kurzer Zeit wieder so aus, als sei mir nicht das Geringste zugestoßen. Und ich fühlte mich zum Glück auch so.

Allerdings lag ich noch immer an Händen und Füßen gefesselt bäuchlings auf dem Boden und konnte mich kaum bewegen. Hatte ich mich bis jetzt noch darüber gefreut, endlich von meiner Pein erlöst zu sein, so konnte ich nun doch bloß entmutigt feststellen, dass meine Chancen, von hier zu entkommen, wohl eher gering waren. Mühsam wand ich mich hin und her bis es mir schließlich gelang, mich umzudrehen und aufzusetzen. So konnte ich mich wenigstens in meinem Verließ umsehen.

Es handelte sich dabei um eine enge Kammer, deren Wände aus feuchten, grob gehauenen Steinen bestanden. In eine der Wände waren vier eiserne Ketten eingelassen und ich konnte mir leicht denken, welchem Zweck sie zu dienen hatten. Der ebenfalls steinerne Boden war spärlich mit faulem Stroh bedeckt, das einen unangenehm modrigen Geruch verbreitete. Ich war mir sicher, dass die Ratten, wenn auch gerade keine von ihnen zu sehen war, hier ein- und ausgingen.

Die Ratten allerdings, machten mir keine Angst. Ganz anders verhielt es sich hingegen mit dem kleinen, hochgelegenen Fensterchen, das mit tief in das Mauerwerk eingelassenen Eisengittern versehen war und durch welches jetzt noch das silberne Mondlicht hereinfiel. Doch nach Einbruch der Dämmerung würde dieses unaufhaltsam dem aufgehenden Sonnenlicht weichen, dem ich hier dann hilflos ausgeliefert war. Und was das für mich bedeutete, davon hatte ich ja bereits eine Ahnung, die mich nicht gerade beruhigte.

Verzweifelt versuchte ich mit all mir zur Verfügung stehender Kraft meine Fesseln zu lösen und obwohl ich wirklich übernatürliche Kräfte besaß, so wollte es mir einfach nicht glücken, mich davon zu befreien. Dieser verdammte Nachtwächter hatte wirklich ganze Arbeit geleistet!

Ich fluchte laut und schwor, mich bitter an diesem Menschen zu rächen, sofern ich diesen Kerker vor Anbruch des Tages verlassen würde! Bloß fehlte mir die zündende Idee für das Wie. Und nach einigen Stunden des Windens und Zerrens schwand mir schließlich zunehmend die Zuversicht, denn bis zur Morgendämmerung war es nun nicht mehr lang und ich war nicht einen winzigen Schritt weiter gekommen...

So einfach sollte es nun sein, meiner Existenz, voll von übermenschlichen Gaben und Kräften, ein Ende zu setzen? Dieser vermaledeite, sadistische Nachtwächter hatte sich dafür weder geistig, noch körperlich besonders anstrengen oder sich selbst auch nur der geringsten Gefahr aussetzen müssen. Und allein diese Tatsache begann mich mehr und mehr zu ärgern.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir häufig nicht sicher gewesen, ob ich dieses andere Leben wirklich fortsetzen wollte oder ihm besser freiwillig ein Ende setzen sollte. Nun aber waren diese Zweifel mit einem Schlag beseitigt.

Ja, ich wollte mein Leben behalten! Sei es wie es war, aber es war mein Einziges, und verflucht, ich hing daran! Kein Nachtwächter hatte das Recht, mich derartig zu behandeln!

`Siehst du´, sagte ich laut zu mir selbst, `so erbärmlich geht dein Leben nun zu Ende. Nur gut, dass deine Familie dich ohnehin schon für tot hält... Dabei wollte ich doch...´

Ich brach ab, denn plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen, die meinen Blick verschwimmen ließen. Und hätte ich noch ein Wort gesprochen, dann hätte ich ihnen wohl nichts mehr entgegensetzen können.

Wieso hatte all das passieren müssen? Wieso war ich damals überhaupt auf diese verfluchte Jagd gegangen? Wieso hatte ich Dummkopf nur meinen Fuß in diese verdammte Höhle gesetzt?

WIESO?

Während ich mich auf diese Weise weiterhin nutzlos mit Vorwürfen quälte und mich voller Selbstmitleid der Hoffnungslosigkeit hingab, fiel mein Blick zufällig auf einen verschimmelten Klumpen Stroh. Es war eine Kleinigkeit, die mich daran hängen bleiben ließ, aber diese Kleinigkeit konnte vielleicht in der Lage sein, mein Leben zu retten.

Es war die scharfe Spitze einer einzelnen Tonscherbe, die zaghaft aus dem Stroh hervorlugte. Ein gewöhnlicher Mensch hätte sie bei den hiesigen Lichtverhältnissen nie und nimmer gesehen, doch meinem Auge entging sie glücklicherweise nicht. Sofort war mein Kummer verflogen. Eilig robbte ich mich an sie heran, drehte ihr dann den Rücken zu und wand und bog mich so lange, bis ich sie endlich mit meinen ungelenken Fingern zu fassen bekam. Von da an kostete es mich bloß noch ein wenig Experimentierfreude und Geduld, bis es mir gelang, den Strick um meine Handgelenke mit ihrer Hilfe zu zerschneiden. Bald schon spürte ich, wie er sich endlich löste, und zuletzt bedurfte es nur noch einer kleinen Bewegung und ich war vollständig von ihm befreit.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich war! Grinsend hob ich die Hände vor mein Gesicht, um sie zu betrachten, während ich sie kreisend bewegte und mir die Handgelenke rieb, um wieder Gefühl darin zu bekommen. Dabei konnte ich zusehen, wie die Wunden, welche die Fesseln dort im Rahmen meiner verzweifelten Befreiungsversuche hinterlassen hatten, noch in diesem Moment verheilten.

Wie herrlich! Diese Eigenschaft war wirklich ein Zugewinn!

`Gepriesen sei der, der diese Scherbe hier vergessen hat´, jubilierte ich und machte mich dann eilig daran, mich auch der Fußfesseln zu entledigen, was mir mit meinen freien Händen nun ein Leichtes war.

Begeistert sprang ich auf und vertrat mir die eingeschlafenen Beine. Dabei reckte und streckte ich mich, bis es in der Wirbelsäule wohltuend knackte. Dann ging ich zu der Kerkertür; das letzte Hindernis auf meinem Weg in die Freiheit, denn das Fenster schied von vornherein als Fluchtweg aus. Selbst ohne Gitter wäre es zu klein gewesen wäre, um hindurch zu gelangen.

Zunächst versuchte ich – einfach weil mir nichts Besseres einfiel -, die Tür auf konventionellem Weg zu öffnen. Natürlich war sie verriegelt und dieser Riegel gab nicht nach, gleich wie fest ich gegen die Tür drückte oder mich zuletzt sogar dagegen warf.

Daraufhin versuchte ich mit den Fingern den Eisenbeschlag von der Tür zu reißen, doch vergebens. Das Einzige, was dabei riss, waren meine Fingernägel...

Ebenso gelang es mir nicht, die Angeln aus dem Türrahmen zu lösen. Und obwohl ich wirklich mehr als meine gesamte Kraft einsetzte, blieb die Tür unerbittlich verschlossen. Es schien aussichtslos und meine gerade neu gewonnene Zuversicht begann sich wieder zu verflüchtigen wie ein vom Wind erfasster Nebel. Hierbei konnte mir nun auch eine vergessene Tonscherbe nicht mehr helfen.

Frustriert lehnte ich mich mit dem Rücken an die Tür und ließ mich langsam daran entlang auf den Boden sinken. Ich fühlte mich müde und zudem auch noch furchtbar durstig. Betrübt sah ich zu dem Fenster hinüber und war sofort wieder hellwach.

Der kleine Ausschnitt des zunächst fast unmerklich grauenden Nachthimmels, der durch die Luke zu sehen war, genügte, um mir zu verraten, dass bereits der Morgen anbrach. Und zu allem Überfluss verriet er mir außerdem, dass dieses Fenster gen Osten ausgerichtet war, was bedeutete, dass die Sonne bei Aufgang direkt in meine Zelle scheinen würde... Es blieb mir also nicht mehr viel Zeit!

Panisch sprang ich auf und rüttelte ohne Sinn und Verstand an der Tür, obgleich ich ja inzwischen wusste, dass es nichts nützen würde. Dann, vielmehr aus einem Instinkt, als einem Plan heraus, hielt ich inne und begann auf einmal, mit noch nie gekannter Innbrunst diese verhasste Eichentür zu beschwören; und obgleich ich etwas derartiges noch nie getan hatte, schien irgendetwas in mir zu wissen, was geschehen würde.

Plötzlich spürte ich, wie sich mein Geist mit dem Riegel verband und sich dieser, wie durch eine imaginäre Hand langsam in Bewegung setzte.

Ich war verblüfft und in diesem kurzen Moment der Ablenkung verharrte der Riegel wieder. Da begriff ich, dass kein anderer, außer mir selbst diesen Riegel da draußen verschoben hatte, und das mit der reinen Kraft meines Willens!

Rasch konzentrierte ich mich erneut darauf und diesmal gelang es mir tatsächlich, die Tür zu öffnen. Ich war frei!

Erstaunt und erleichtert zugleich lachte ich auf. Was für eine Gabe!

Ich war tatsächlich frei und hätte nun auf dem schnellsten Weg in meine Gruft flüchten können. Doch da war noch etwas, das ich zu erledigen hatte.

Grimmig verschwand ich aus der Zelle in den düsteren Gang, welcher zu der Treppe führte, mit der ich schon so unsanft Bekanntschaft geschlossen hatte.

Ich hatte zwar nur noch äußerst wenig Zeit bis zum Sonnenaufgang, aber es war mir doch ein dringendes Bedürfnis dem Nachtwächter noch einmal gegenüber zu treten. Außerdem hatte ich Durst!

Schnell spurtete ich die Treppenstufen hinauf, rannte den Gang entlang bis zu der Schreibstube, in der ich ihn vermutete. Ich riss die Tür auf und blieb im Türrahmen stehen.

Da saß er. Groß, fett, mit rotem Gesicht, war er über einem Schreiben eingeschlafen, das er gerade - vermutlich über meine Person und dem damit verbundenen Vorfall heute Nacht - verfasst hatte. Trotz meines ungestümen Erscheinens hatte er mich nicht bemerkt, sondern schnarchte weiter vor sich hin, was mir nur Recht war.

Langsam ging ich auf ihn zu, bis ich unmittelbar vor ihm stand, und beugte mich dann ein Stück herunter, sodass ich mich mit ihm auf etwa gleicher Augenhöhe befand. Dabei war ich ihm so nah, dass ich seinen üblen Atem riechen konnte.

Wie sehr ich diesen Kerl verabscheute!

Noch schlief er und ich hätte ihn einfach töten und dann gehen können. Doch mich dürstete nach Genugtuung, mindestens so sehr, wie nach seinem Blut.

Sachte strich ich dem Nachtwächter mit meinen eisigen Fingern über die Wange, was ausreichte, um ihn aus seinem Schlaf aufschrecken zu lassen. Zunächst etwas desorientiert, dann aber doch sichtlich schockiert, starrte er mir in die Augen, die sich in direkter Nähe vor den Seinen befanden. Ich lächelte.

`Gut geschlafen?´ fragte ich ihn, fast flüsternd, als würde ich ein kleines Kind aufwecken.

Mit einem abrupten Satz sprang der Nachtwächter von seinem Stuhl auf, sodass dieser krachend hinter ihm zu Boden fiel. Entsetzt wich er vor mir zurück und stolperte dabei fast über den umgestürzten Stuhl.

Langsam ging ich auf ihn zu.

`Was denkst du, was ich bin?´, fragte ich ihn. `Der Teufel? Ein Dämon? Oder hast du an gar nichts dergleichen geglaubt und mich bloß für einen Irren gehalten, den du nach Belieben quälen konntest?´

Der Nachtwächter antwortete mir nicht, sondern wich bloß weiter Schritt für Schritt vor mir zurück bis er zuletzt mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Ungläubig starrte er mich an, während ich mich ihm weiter unbeirrt näherte.

`Aber siehst du?´ Ich breitete meine Arme aus. `Alle meine Wunden sind verheilt. Kein Knochen ist mehr gebrochen. Die Fesseln sind fort und selbst die verriegelte Tür hat mich nicht aufgehalten... Wie ist das wohl möglich?´

Inzwischen war ich unmittelbar vor ihm stehen geblieben und reckte mich noch etwas vor, um ihm in sein Ohr zu flüstern: `Nun, ich will es dir verraten.´

Bevor ich jedoch weiter sprach, machte ich eine bedeutungsvolle Pause und genoss den Ausdruck des Schreckens in seinen Augen.

`Ich bin ein Dämon, der das Blut und die Seele der Menschen aussaugt, bis nichts mehr davon übrig bleibt, als eine armselige, leere Hülle... Und weißt du, was ich jetzt tun werde?´ Ich hob meine Hand und strich mit meinen Fingern langsam seinen Hals entlang, während ich ihm in seine aufgerissenen Augen blickte. Der Nachtwächter zitterte am ganzen Körper und schüttelte bloß verzweifelt den Kopf, worauf ich kurz auflachte und dabei ganz bewusst vermied, meine scharfen Fangzähne zu verbergen.

`Nun, ich dachte, du wärst schlau genug, das zu erraten...´

Mit dem Ausdruck des Bedauerns sah ich ihn einen Moment lang an, nur um ihn dann ohne Vorwarnung blitzartig an der Kehle zu packen und mich in seiner Schlagader zu verbeißen. Der Nachtwächter begann daraufhin in seiner Todesangst wild um sich zu schlagen und sich mit enormer Kraft gegen mich zu stemmen. Doch ich hatte mich wie eine Zecke an ihm festgebissen und ließ nicht mehr von ihm ab, bis einige Zeit später – es dauerte erstaunlich lange – seine Bewegungen endlich träger wurden und er zuletzt langsam in den Tod hinüber glitt.

Ohne jegliches Mitgefühl ließ ich schließlich den dahingeschiedenen Nachtwächter zu Boden plumpsen, wie einen nassen Sack. Von meiner ersehnten Rache jedoch, blieb nichts weiter übrig, als ein fader Nachgeschmack. Nichts, wofür es sich zu leben lohnt, dachte ich. Wenigstens aber war ich endlich satt.


Daimonion

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