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Kapitel 9
ОглавлениеMüde ging ich zu dem Bett hinüber und löste die Bänder, mit denen die vier Bettvorhänge zurückgehalten wurden. Dann legte ich mich angezogen wie ich war - samt Stiefel - rücklings auf die, über dem Bett ausgebreitete Tagesdecke. Wohlig versank ich ein Stück in der weichen Matratze und schlief unmittelbar darauf ein.
Obgleich mein Schlaf über Tag immer traumlos, tief und ohne das geringste Bewusstsein war, fühlte ich mich nach diesem Mal unglaublich erholt. Als ich meine Augen aufschlug, war es absolut finster in meinem Zimmer und ich brauchte einen kurzen Moment, mich daran zu erinnern, wo ich eigentlich war. Letztendlich war es die, meinen Körper sanft umschmeichelnde Matratze, welche mir dabei entscheidend auf die Sprünge half.
Ich musste lächeln, denn es war einfach wunderbar, in solch einem Bett wach zu werden! Wie lange hatte ich das entbehren müssen... Es war sogar so wunderbar, dass ich noch eine ganze Weile mit geöffneten Augen liegen blieb und schlicht weg dieses angenehme Gefühl genoss.
Dann aber begann ich darüber nachzudenken, welche nächsten Schritte nun zu unternehmen waren. Schließlich raffte ich mich – nicht ganz ohne Bedauern – auf, verließ das Bett und öffnete die Vorhänge und Fensterläden. Draußen war die Sonne bereits untergegangen und das letzte Dämmerlicht ließ schon die ersten hellen Sterne am Himmel aufleuchten. Ich liebte diesen Zeitpunkt, denn hier hatte ich in der Tat noch das Gefühl, es sei Tag.
Die Menschen waren noch unten auf den Straßen unterwegs; sei es, um ihre letzten Besorgungen zu tun oder nach getaner Arbeit heimzugehen, und sie verliehen der Stadt den Hauch der Lebendigkeit, der alsbald jedoch mit zunehmender Dunkelheit verflog.
Nach einer geraumen Weile löste ich mich schließlich von dem Anblick der einschlafenden Stadt unter meinem Fenster und ging zu dem kleinen Nachttisch, der sich neben dem Bett befand, um eine dort befindliche Kerze zu entzünden. In dem Licht der Flamme, nahm ich das Zimmer nun zum ersten Mal eingehend in Augenschein. Dabei entdeckte ich in einer Nische, die hinter einem Vorhang verborgen lag, einen Wachtisch mit Waschschüssel und wassergefülltem Krug sowie einen großen Spiegel, der sofort meine Neugier weckte.
Ich zog den Vorhang zur Seite, holte den Kerzenleuchter, um ihn auf dem Waschtisch abzustellen und trat näher an den Spiegel heran. Skeptisch, ja sogar ein wenig ängstlich musterte ich mein Spiegelbild von oben bis unten, als sähe ich mich zum ersten Mal, was in gewisser Hinsicht sogar zutraf. Doch so sehr ich mich auch anfangs vor dem gefürchtet hatte, was ich wohl erblicken könnte, so erleichtert war ich nun, festzustellen, dass ich mich im Grunde nicht sehr verändert hatte.
Auf den ersten Blick sah ich nach wie vor aus, wie ein gewöhnlicher Mensch. Vielleicht etwas blass, aber in Adelskreisen galt dies ohnehin als modern und würde daher nicht weiter auffallen. Bloß meine Augen..., an ihnen, schien mir, hatte sich etwas verändert. Es war eigenartig. Bisher waren sie von brauner Farbe gewesen, wie die meines Vaters. Nun aber waren sie schwarz. Und sie besaßen einen eigenartigen Glanz. Doch wenn ich ganz genau hinsah, schien dieser aus ihnen selbst heraus zu kommen, denn zu meiner Verblüffung zeigte sich auf meiner Iris kein Spiegelbild, so sehr ich auch versuchte, eines einzufangen. Dies unterschied mich von den Menschen.
Ein weiteres Detail waren meine Eckzähne. Nacht für Nacht fühlte ich sie hinter meinen Lippen, an meiner Zunge; treu ebneten sie mir den Weg in die Hälse meiner Opfer. Stets waren sie präsent. Anfangs hatte mich diese Tatsache irritiert und manches Mal sogar geärgert. Inzwischen hatte ich mich an sie gewöhnt. Aber gesehen hatte ich sie noch nie.
Also öffnete ich meinen Mund und zog mit meinem Finger die Oberlippe ein wenig hoch, um sie zu betrachten. Ich muss zugeben, dass ich dies nicht ganz ohne Widerwillen tat, waren sie doch am engsten mit meiner verhassten Natur verbunden. Spitz und scharf prangten sie mir entgegen. Allerdings waren sie kürzer, als ich erwartet hätte, aber dabei immer noch länger, als sie es gewöhnlich bei einem Mensch sind. Diesen Umstand notgedrungen zur Kenntnis nehmend, ließ ich meine Lippe wieder los, auf dass sie sich über meine kleinen Mordinstrumente schieben und sie wieder verdecken konnte. Beim Sprechen würden sie sich glücklicherweise gut versteckt halten. Bloß beim Lachen sollte ich in Zukunft aufpassen.
Andere Dinge wiederum, hatten sich überraschender Weise gar nicht verändert. Beispielsweise war mein Kopfhaar keinen Deut länger geworden, obgleich der letzte Haarschnitt ein gutes dreiviertel Jahr zurücklag. Gut, es war ziemlich zerzaust, aber dem konnte schnell Abhilfe geschaffen werden.
Ebenso zeichnete sich nicht einmal der Schatten eines Bartes auf Wangen und Kinn ab, ohne dass ich mich in den letzten Monaten rasiert hätte. Ein Blick auf meine Fingernägel machte mir bewusst, dass auch sie seit meiner Verwandlung nicht gewachsen waren. Ich hatte bisher gar nicht darauf geachtet, aber nun fiel es mir auf. Mein Gesicht war weder schmaler, noch runder geworden. Nein, es war genauso, wie ich es in Erinnerung hatte.
Es schien, als sei ich in gewisser Weise in dem Zustand konserviert, in dem ich mich unmittelbar vor der Verwandlung befunden hatte. Alles, was daran etwas geändert hätte, seien es Wunden, Narben, abgebrochene Nägel oder dergleichen, wurde von meinem Körper regeneriert und in den alten Zustand zurückgeführt. Eine eigenartige Vorstellung... Ob beruhigend oder eher Besorgnis erregend, vermochte ich dabei nicht einmal zu sagen. Für die Begegnung mit den Menschen allerdings, war das zunächst nicht von Belang.
Mit einem Kamm, der glücklicherweise bereitlag, ordnete ich schließlich meine Haare und zupfte die vom Schlaf verrutschte Kleidung noch etwas zurecht. Dann wandte ich mich von dem Spiegel ab, steckte die Geldbörse in meine Westentasche und verließ das Gasthaus; allerdings nicht, ohne den Wirt noch gebührend für seine Dienste zu belohnen. Überschwänglich bedankte er sich und ich empfand es mal wieder als eindrucksvoll, wie sehr die Welt dem Geld zu Füßen lag. Ein Umstand, den ich zukünftig auch bei der Auswahl meiner Opfer mit zu berücksichtigen gedachte. Denn es würde immer wieder Situationen geben, in denen mir wohl nur die Taler helfen konnten, meine Wünsche zu unpassenden Uhrzeiten erfüllt zu bekommen.
Als Erstes an diesem Abend, noch vor der Jagd, suchte ich einen Lederwarenhändler auf. Glücklicherweise fand ich auf Anhieb einen, der sich auch nach Ladenschluss noch in seinem Geschäft aufhielt, sodass ich nur anzuklopfen brauchte. Er zögerte zwar, mir zu öffnen, ließ sich aber mithilfe eines entschuldigenden Lächelns meinerseits doch dazu überreden.
Auf diese Weise erstand ich mir schließlich einen überteuerten, fast mannshohen Schrankkoffer, den ich nicht etwa für die vielen Kleidungsstücke benötigte, die ich nicht besaß. Nein, er würde mir andere Dienste leisten müssen: Er würde meine dunkle Schlafgelegenheit sein, wenn ich einmal unterwegs war und nirgends ein, vor dem Sonnenlicht absolut sicheres Nachtlager bis zur Morgendämmerung finden konnte.
Ihn zu besitzen empfand ich doch als ungemeine Beruhigung und ich gab dem Händler ein großzügiges Trinkgeld, damit ich den Koffer noch solange bei ihm unterstellen durfte, bis ich ihn dann im Laufe der Nacht abholen würde.
Hiernach machte ich mich schließlich auf die Jagd, bis ich satt genug war, um nicht gleich bei dem bloßen Geruch jedes beliebigen Menschen gegen darbenden Blutdurst ankämpfen zu müssen. Dabei achtete ich außerdem darauf, den Inhalt meiner Geldbörse noch etwas zu vermehren.
Es mag routiniert klingen, wie ich diese Angelegenheit hier schildere, aber das war sie in diesem Moment ganz und gar nicht. Im Gegenteil: es war das erste Mal, dass ich als Mensch, den ich nun darstellte, tötete.
Die Auswahl meines Opfers erfolgte zudem nicht, wie sonst, nach rein moralischen, sondern ganz eindeutig auch nach sehr egoistischen Maßstäben. Erschwerend kam noch hinzu, dass mein Opfer – ein Mann meines Alters - nicht vor mir erschrak oder beim ersten Anblick bereits wusste, dass ich nichts Gutes bringen würde. Vielmehr fasste er direkt Zutrauen zu mir, sodass er mich sogar mit den üblichen Floskeln begrüßte, als ich mich ihm näherte. Ich tat mich daher wirklich schwer, ihm so unbarmherzig das Leben auszusaugen. Aber ich versuchte mich dem Mitleid zu verschließen und stattdessen an das Prinzip der Selbsterhaltung zu denken.
Fressen und gefressen werden... In diesem Moment galt es nun eben, mich zu nähren und mein Überleben zu sichern.
Für den nächsten Abschnitt meiner Reise machte ich mich auf die Suche nach einem Kutscher, der bereit war, mich noch in dieser Nacht in die nächste große Stadt zu fahren.
Allerdings erwies sich dies als viel schwieriger, als ich zunächst gedacht hatte. Das lag nicht unbedingt daran, dass der Abend schon fortgeschritten war und nur noch Wenige überhaupt wach waren, die ich hätte ansprechen können. Nein, es war noch früh genug, um ausreichend Kutschen auf der Straße anzutreffen, die sich gerade auf dem Weg zu den Stallungen befanden oder sogar schon davor standen, während die Pferde noch für die Nacht versorgt wurden. Doch gleich, wen ich ansprach und versuchte, mit einem guten Preis zu locken, jeder lehnte strikt ab, des Nachts zu fahren, was mich zugegebener Maßen sehr verwunderte.
Erst nach längerem Suchen und einer deutlichen Preiserhöhung, traf ich endlich auf einen Fahrer, der sich zwar schwer mit der Entscheidung tat, aber schließlich doch einwilligte.
Da sich die Pferde bereits im Stall befanden, musste ich eine Weile warten, bis sie wieder herausgeführt und vor die Kutsche gespannt worden waren. Währenddessen beobachtete ich interessiert, wie die Stallburschen – etwas mürrisch, weil sie sich eigentlich schon in ihrem erwarteten Feierabend wähnten - ihre Arbeit verrichteten. Der Kutscher trieb sie dabei ungeduldig an, während er, die Brauen sorgenvoll zusammengezogen, selbst Hand mit anlegte. Er wollte die Fahrt allem Anschein nach schnell hinter sich bringen, fast als sei sie ihm unheimlich, auch wenn ich mir diese Furcht nicht erklären konnte.
Nachdem die Kutsche endlich bereit zum Aufbruch war, öffnete der Fahrer einen Deut zu ruppig die Kabinentür und signalisierte mir mit einer pflichtbewussten Geste, nun einzusteigen. Doch ich winkte ab.
`Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne oben auf dem Kutschbock mitfahren´, erklärte ich.
Der Fahrer, ein schlanker, kleiner Mann, sah mich für einen kurzen Moment irritiert an, wobei er seine ohnehin schon schmalen Augen skeptisch zu zwei Sicheln zusammenkniff.
Ich lächelte entschuldigend.
`Ich genieße es immer, mir bei der Fahrt die frische Luft um die Nase streichen zu lassen.´
Die Wahrheit aber war, dass ich mit ihm sprechen wollte. Mir war einfach danach, mich mit einem Menschen zu unterhalten, denn ich hatte schon so lange kein richtiges Gespräch mehr geführt. Zudem war ich neugierig, was es für Neuigkeiten aus der Welt der Lebenden gab.
Nach kurzem Zögern nickte der Fahrer schließlich stumm und stieg, ohne sich weiter nach mir umzusehen, hinauf auf seinen Platz. Ich tat es ihm nach, wobei ich langsam daran zweifelte, dass ich neben diesem Mann tatsächlich auf meine Kosten kommen würde, und so begann die Fahrt tatsächlich sehr schweigsam.
Nachdem wir, auf meine Bitte hin, noch meinen Schrankkoffer bei dem Lederwarenhändler abgeholt und auf die Gepäckablage geschnallt hatten, sollte es endlich auf die Reise gehen. Griesgrämig trieb der Kutscher die Pferde an und starrte dabei wortlos vor sich hin, ohne mich weiter zu beachten.
Ich empfand sein Verhalten als recht unhöflich. Immerhin wurde er mehr als gut von mir für diese Fahrt bezahlt, und ein Fünkchen mehr Freundlichkeit konnte man dafür doch schließlich verlangen. Dann aber dachte ich mir, dass es viel interessanter wäre, herauszufinden, warum diese nächtliche Fahrt ihn sowie all die anderen derart mit Widerwillen erfüllte, und ich entschloss mich, aller Abweisung zum Trotz ein Gespräch mit ihm zu beginnen.
`Was für eine herrliche Nacht, nicht wahr?´
Ein Murren war die einzige Antwort, die ich bekam. Ich wartete eine Weile, doch der Kutscher machte keinerlei Anstalten gesprächiger zu werden.
`Ich nehme an, Sie verdienen nicht jede Nacht so gut wie diese?´
Auf ein zustimmendes Grunzen seitens des Fahrers folgte wieder bloß beharrliches Schweigen. Aber gerade, als ich meine Hoffnung auf eine gehaltvollere Antwort aufgeben wollte, begann der Kutscher tatsächlich doch noch zu sprechen.
`Für weniger hätte ich das Risiko auch nicht auf mich genommen...´, knurrte er.
Ich war überrascht.
`Welches Risiko?´, fragte ich und der Fahrer blickte mich daraufhin nicht weniger überrascht an.
`Wissen Sie denn nicht, was hier nachts geschieht? Sie sind wohl nicht von hier.´
Neugierig zog ich die Stirn kraus.
`Nein, aber vielleicht mögen Sie mir ja Näheres erzählen...´
Der Kutscher – sein Name war Ulrich – starrte grimmig geradeaus und schloss dabei seine Hände zu festen Fäusten um die Zügel.
`Hier kommen nachts Menschen zu Tode...´, sagte er und senkte dann seine Stimme um eine Tonlage, wohl um den folgenden Worten noch mehr Bedeutung zu verleihen: `Und es heißt, sie sterben nicht auf natürliche Weise!´
`Mhm...´
Ich war etwas enttäuscht, klang es doch arg nach einem kindischen Ammenmärchen, das nichts anderem dienen sollte, als sich gegenseitig Angst einzujagen.
`Nun, wer weiß, vielleicht haben sie sich zu Tode erschreckt, weil es dunkel draußen geworden ist.´ Ich versuchte, mir ein spöttisches Grinsen zu verkneifen.
Ulrich schaute mich entrüstet an und für einen kurzen Augenblick meinte ich, Zorn in seinen Augen aufblitzen zu sehen.
`Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Es war bloß ein dummer Spaß von mir´, beeilte ich mich, ihn wieder zu besänftigen, damit er weiter sprach.
Nach einem missmutigen Seitenblick in meine Richtung fuhr Ulrich schließlich fort: `Es heißt, ein Dämon fällt hier des Nachts über die Menschen her, um ihre Seelen auszusaugen und mit sich in die Tiefen der Hölle zu reißen.´
Es folgte eine Pause, in der Ulrich sich verhalten umblickte, als befürchtete er, dass er allein durch seine Worte eben diesen Dämon aus der Dunkelheit heraufbeschwören könnte.
`Also gut´, nahm ich daraufhin den Faden auf, `hier kommen also nachts Menschen zu Tode... Aber wieso ausgerechnet sollte ein Dämon sie töten? Wie steht´s mit Mördern von ganz menschlicher Natur, die ihr Unwesen hier treiben? Das wäre doch eine viel naheliegendere Erklärung, oder?´
Ulrich schüttelte energisch seinen Kopf, während er mich mit großen Augen anblickte, als hätte ich noch nicht recht verstanden.
`Nein, es heißt, dass man bei den Leichen...´ Ulrich schluckte, als müsse er erst einen Widerstand in seiner Kehle überwinden, bevor er weitersprechen konnte. `... Na ja, dass man bei ihnen Bisswunden am Hals gefunden hat. Immer an der gleichen Stelle. Und zwar hier...´
Er tippte mit seinem Finger auf seinen Hals, dorthin, wo die Halsschlagader verlief. Eine mir durchaus sehr vertraute Stelle.
`Sie sehen - so sagt man - weder aus, als seien sie von einem Raubtier, noch von einem Menschen. Vielmehr würde... beides gleichzeitig passen.´
Diesmal war ich es, der den plötzlichen Widerstand in seiner Kehle überwinden musste. Entgeistert starrte ich Ulrich an.
`Sehen Sie, jetzt vergeht Ihnen Ihr Spott´, sagte er daraufhin, nicht ohne einen gewissen Triumph in seiner Stimme. Er dachte wohl, die Furcht habe mich nun doch gepackt, denn er konnte ja nicht wissen, dass es in Wirklichkeit Sorge war, die mich zusammenfahren ließ. Unwillkürlich fuhr ich mit meiner Zunge an meinen Zähnen entlang und fühlte dabei, wie die scharfen Spitzen meiner Eckzähne über ihre Oberfläche kratzten. Wie dumm war ich gewesen, die Leichen meiner Opfer Nacht für Nacht einfach liegen zu lassen, ohne darüber nachzudenken, was die Menschen daraus für Schlüsse ziehen würden, sobald sie sie gefunden hatten! Ich muss zwar zugeben, dass mir dieser Umstand bis vor zwei Nächten noch völlig gleichgültig gewesen war, aber jetzt bereute ich meine Nachlässigkeit dafür umso mehr, denn sie führte nun dazu, dass ich mich noch besser vorsehen musste, unerkannt zu bleiben.
`Die Opfer wurden obduziert...´ Ulrichs unheilschwangere Stimme riss mich aus meinen Gedanken. `Es heißt, dass sie allesamt völlig blutleer gewesen sind... Der Dämon, er trinkt das Blut dieser armen Menschen und mit ihm ihre Seelen. Es heißt, es sei ein Vampir.´
Ich schwieg.
Vampir... Dieses Wort schwebte in der Luft wie ein Gespenst: durchscheinend, formlos, unfassbar. Das also war der Name für ein Wesen wie mich: Vampir...
Ich formulierte diesen Begriff langsam in Gedanken und plötzlich fühlte ich mich anders. Meine Oberschenkel unter meinen Händen, meine Brust, die sich mit jedem Atemzug hob und senkte, mein Gesicht, über dessen Wangen die kalte Nachtluft strich, meine Haare, an denen der Fahrtwind zerrte, alles fühlte sich auf einmal anders an. Ich war ein Vampir! Und die Menschen hatten Angst vor mir. Solch eine Angst, dass sie sich des Nachts kaum nach draußen wagten...
`Weiß man denn, wie so ein... Vampir... aussieht?´, fragte ich schließlich fast mechanisch, ohne Ulrich dabei anzusehen, wobei dieses Wort mir seltsam fremd vorkam, als ich es zum ersten Mal selbst laut aussprach. Für einen fast unangenehmen Moment lang spürte ich den nachdenklichen Blick des Kutschers auf meinem Profil ruhen, bevor er sich wieder auf die Rücken der Pferde richtete.
`Ich habe zahlreiche, zum Teil hanebüchene Zeichnungen gesehen, doch keine ähnelt der anderen... Nein, ich glaube, man weiß nicht, wie diese Kreatur wirklich aussieht.´
Kreatur...
Plötzlich war mir nicht mehr nach einem Gespräch zumute. Daher nickte ich bloß und starrte in die Dunkelheit zu meiner Seite. Ulrich, der meine unvermittelte Schweigsamkeit freundlicherweise ohne Frage zur Kenntnis nahm, auch wenn er sie sicherlich gänzlich falsch deutete, schien wenig später ebenfalls in seine eigene Gedankenwelt abzutauchen, sodass wir eine Weile stumm des Weges fuhren, der uns inzwischen ein kurzes Stück durch den Wald führte.
Der Mond schien zwar hell, doch wir hatten zusätzlich die Lampen beidseits des Kutschbocks entzündet und schaukelten nun, begleitet von geisterhaft zuckenden Schatten, zwischen den eng stehenden Bäumen dahin. Ich hatte bei diesem Wegesabschnitt von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt, doch nun spürte ich, wie sich eine unbestimmbare Unruhe unter meiner Haut auszubreiten begann und meine Aufmerksamkeit wieder nach außen lenkte. Alarmiert sondierte ich meine Umgebung aus den Augenwinkeln. Dabei bezog ich auch Geräusche und Gerüche mit ein.
Währenddessen mochte ich äußerlich zwar völlig arglos erscheinen, doch Ulrich, der Seite an Seite mit mir auf dem Bock saß, konnte meine körperliche Anspannung dennoch spüren. Ängstlich sah er mich an.
`Der Dämon?´, fragte er flüsternd.
Ich schüttelte kaum sichtbar den Kopf und bedeutete ihm mit meinem Finger vor den Lippen, still zu sein.
Da war etwas. Ein Geräusch.
Für einen Augenblick schloss ich meine Augen, um noch besser in die Nacht hinein lauschen zu können. Und da war es wieder. Diesmal allerdings mit solcher Deutlichkeit, dass ich nicht länger zweifelte, was ich zu tun hatte.
`Darf ich?´, fragte ich Ulrich daher leise und nahm ihm dabei, ohne auf seine Antwort zu warten, die Zügel aus der Hand. Von den Umständen eingeschüchtert, ließ er mich freizügig gewähren.
Zunächst behielt ich die Geschwindigkeit, mit der die Pferde vorantrabten, unverändert bei. Doch als wir uns endlich jener Stelle näherten, die zu umgehen zwar das Beste gewesen wäre, wozu uns aber keine Möglichkeit mehr blieb, schlug ich plötzlich peitschend mit den Zügeln auf die Rücken der Tiere. Erschrocken wiehernd warfen sie ihre Köpfe hoch und galoppierten fluchtartig los. Dabei hoffte ich, dass zum einen der Überraschungsmoment und zum anderen die Geschwindigkeit der Kutsche uns freies Geleit ermöglichen würden. Doch leider irrte ich mich da.
Todesmutig sprangen zwei Männer auf den Pfad, einer davon hielt eine Fackel in der Hand. Die Pferde scheuten ob des plötzlichen Hindernisses, das da vor ihnen auftauchte. Abrupt blieben sie stehen und bäumten sich auf, sodass ich schon befürchtete, sie könnten uns im nächsten Moment durchgehen und die Kutsche zu Boden reißen. Aber bevor es noch dazu kommen konnte, griffen die Männer bereits beherzt in das Zaumzeug und zwangen die panischen Gäule zur Ruhe.
Dann erst kamen zwei weitere Männer aus ihren Verstecken und stellten sich uns ebenfalls in den Weg. Ein junger, muskulöser Mann mit wildem Bartwuchs und schulterlangen, zum Teil verfilzten Haaren trat hervor und aus der Art seines Auftretens schloss ich, dass er dem Rang nach über den anderen stand.
`Gebt mir alles, was ihr an Wert mit euch tragt und ich lasse euch unversehrt ziehen´, sprach er laut und bestimmt an Ulrich und mich gewandt, die wir bis dahin bloß tatenlos auf dem Kutschbock gesessen und ihn beobachtet hatten.
`Wir haben nichts bei uns, was für euch von Interesse wäre´, entgegnete ich ebenso bestimmt.
Der junge Mann lächelte kurz, als amüsierte ihn mein Widerstand, den er definitiv nicht ernst zu nehmen schien.
`Das soll ich dir also glauben, Edelmann?´
Er trat einen Schritt näher und seine Miene verfinsterte sich dabei, wohl damit sie bedrohlicher auf mich wirken sollte.
`Zwing mich nicht, euch zu durchsuchen! Du könntest es bereuen.´
`Tue es und du wirst es bereuen´, entgegnete ich in dem gleichen Tonfall.
Der Räuber schaute mir mit hochgezogenen Brauen unverwandt in die Augen und presste dabei seine Zähne so fest aufeinander, dass sich seine Kiefermuskeln sichtbar anspannten. Dann lachte er ein wenig zu laut auf, um glaubhaft belustigt zu wirken, wandte sich von mir ab und befahl seinen Männern mit barscher Stimme: `Nehmt sie gefangen!´
Auf sein Kommando hin, stürmten zwei seiner Leute auf unsere Kutsche zu, als hätten sie bereits mit gewisser Vorfreude darauf gewartet. Der Dritte hielt weiter die Pferde fest am Zügel.
Ulrich schrie entsetzt auf und wollte, blind vor Panik, schnell die Flucht ergreifen. Doch er kam nicht einmal mehr dazu, den Kutschbock auch nur herunter zu klettern, da hatte ihn schon einer der Männer mit seiner schmutzigen Pranke am Mantel gepackt und unsanft von der Kutsche gezerrt. Aber kaum, dass Ulrich wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte, versuchte er sich zappelnd aus dem unnachgiebigen Griff des Räubers zu befreien. Das jedoch war ein Fehler, denn der Räuber fackelte nicht lange. Er zog sein Messer aus dem Hosenbund und rammte es unvermittelt in Ulrichs linke Schulter. Dieser schrie auf vor Schmerz und sackte widerstandslos zu Boden, wo er zusammengekauert liegen blieb und sich wimmernd die Hand auf seine blutende Wunde presste.
Wie gebannt starrte ich auf das Blut, das unermüdlich zwischen Ulrichs Fingern hervorquoll und die Luft mit seinem eisernen Geruch erfüllte. Ja, ich meinte sogar, es hören zu können, wie es mir plätschernd zuraunte: `Komm zu mir, trink von mir!´ Und ich spürte einen ziehenden Schmerz in meinen Wangen, während sich der Speichel in meiner Mundhöhle sammelte.
Doch schon kurze Zeit später, wurde ich durch eine harte Hand aus meiner Faszination gerissen. Der Bandit hatte nun mich am Arm gepackt und wollte mit mir wohl ähnlich verfahren, wie zuvor mit Ulrich. Da zersprang ein rasender Zorn irgendwo in meiner Kehle, die eigentlich gerade nach nichts anderem verlangte, als nach Blut. Mit blitzartiger Geschwindigkeit und einem wütenden Aufschrei, entwand ich mich seinem Griff, sprang zu ihm herab, packte ihn mit beiden Händen am Kopf und drehte diesen mit einem krachenden Ruck einmal um seine Achse. Leblos fiel der Räuber zu Boden, noch bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Doch sein Fall war noch nicht zu Ende, da wurde ich bereits von dem Nächsten angegriffen, der seinem Kumpanen zu Hilfe eilte. Er hatte seine Fackel einfach fortgeworfen und ein Messer aus dem Gürtel gezogen, während er ungebremst auf mich zu rannte. Aber als sähen meine Augen alles viel langsamer, als es in Wirklichkeit geschah, war es für mich ein Kinderspiel, meinem Angreifer auszuweichen, ihm dabei das Messer zu entwenden und es ihm noch in der gleichen Bewegung von hinten in den Rücken zu jagen. Dessen jedoch nicht genug, zog ich es, noch während er zu Boden stürzte, wieder heraus und stürmte damit auf den Dritten zu, der bis dahin reglos neben den Pferden gestanden hatte und artig ihre Zügel in der Hand hielt.
Ohne sich zu bewegen, starrte er mich bloß an, als verstehe er überhaupt nicht, was sich gerade vor seinen Augen abspielte. Und noch bevor er überhaupt reagieren konnte, war ich schon bei ihm, hatte seinen Kopf bei den Haaren gepackt und ihm mit dem Messer die Kehle durchschnitten.
Oh, wie sein Blut herausschoss!
Wie gerne hätte ich es in diesem Moment über meine Lippen strömen lassen! Mein ganzer Körper verkrampfte sich vor Verlangen und womöglich hätte ich ihm spätestens an dieser Stelle nachgegeben, wenn sich nicht der junge Anführer noch immer für unbezwingbar gehalten hätte.
Hart gesotten trat er mir gegenüber und blickte mir berechnend ins Gesicht. In seiner Hand hielt er ein langes, zweischneidiges Messer und ganz offensichtlich hatte er die Absicht, mich damit zu töten. Er hätte es gerne versuchen können. Was wäre das für ein Spektakel geworden, wenn er hätte feststellen müssen, dass ihm dies selbst mit dem größten Messer nicht gelungen wäre... Nun, ein Spektakel, das ich mir und Ulrich jetzt ersparen wollte.
Also ließ ich mich auf ein kleines Gefecht mit dem jungen Räuber ein, in dem ich gekonnt seinen Attacken auswich und ihm zuletzt mein Messer in den Bauch stieß. Sterbend sank er zu Boden und ich musste mich eilig von ihm entfernen, um der Verlockung seines, vom Kampf erhitzten Blutes zu widerstehen.
Stattdessen wandte ich mich Ulrich zu, der noch immer auf dem Boden lag und mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht seine rechte Hand gegen seine blutende Schulter drückte.
Wohl wissend, welches Risiko ich damit einging und welche Willenskraft es von mir fordern würde, ging ich langsam zu ihm hinüber und kniete mich zaghaft neben ihm nieder. Dabei fiel es mir schwer, nicht ununterbrochen auf seine blutüberströmte Hand zu stieren.
Mühsam musste ich mich von dem Anblick losreißen, um Ulrichs hilfesuchenden Blick zu erwidern.
`Bleiben Sie ruhig! Ich kümmere mich um Ihre Wunde´, versuchte ich ihn zu beruhigen und lächelte ihn zuversichtlich an.
Ich kümmere mich um Ihre Wunde... Wie einfach sich das sagen ließ... Wie einfach es einem gewöhnlichen Menschen wohl auch gefallen wäre... Doch als ich - nun einmal kein Mensch - nach einem entschlossenen Schlucken Ulrichs Mantel öffnete und auf den großen, nassen, roten Fleck auf seinem weißen Hemd blickte, musste ich unweigerlich meine Hände fortziehen und einen Moment lang innehalten.
Zum Glück hatte ich eigentlich keinen großen Hunger, sodass ich bloß gegen die ungemeine Lust ankämpfen musste, mir das zu nehmen, was mein Körper so unbändig begehrte. Ansonsten hätte Ulrich diesen Moment sicher nicht überlebt.
`Muss ich sterben?´, fragte er, der mein Zögern bemerkt hatte, mit zittriger Stimme, und als hätte er mich mit dieser Frage aus einem Traum gerissen, blickte ich ihn irritiert an.
`Nein...! Nein, ich kriege das wieder hin´, versprach ich ihm eilig und machte mich gegen alle inneren Widerstände zum Trotz daran, sein Hemd aufzureißen, um seine Wunde freizulegen. Dabei biss ich mir in der Not heimlich auf die Zunge, bis sie blutete und mir der Geschmack meines eigenen Blutes für eine gewisse Zeit die nötige Ruhe verschaffte, um mich auf mein Tun konzentrieren zu können.
Wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte, war das Messer wohl an der obersten Rippe abgerutscht und daher nicht sehr tief in Ulrichs Körper eingedrungen. Doch es musste dummerweise ein Gefäß getroffen haben, denn das Blut floss in Strömen, sobald der Druck von außen auf die Wunde nachließ.
Instinktiv – und damit meine ich den Instinkt eines Menschen, den ich glücklicherweise auch noch zu besitzen schien - presste ich meine Hand darauf und blickte mich dabei suchend um. Ich brauchte etwas, um Ulrich verbinden zu können. Da ich jedoch nichts Brauchbares entdeckte, entschloss ich mich kurzum, Ulrichs ohnehin schon zerrissenes Hemd zu verwenden. Solange, wie ich allerdings brauchte, um ihm sein Hemd vom Leib und in Streifen zu reißen, gebot ich ihm, die Wunde selbst abzudrücken, was er auch wie geheißen tat. Mit seiner freien Hand aber griff er schwach nach meinem Arm.
`Bitte´, begann er mit müder Stimme. `Bitte, Sie müssen... die Wunde säubern!´ Er machte eine kurze Pause, als müsse er erst neue Kraft schöpfen, bevor er in stoßweisen Atemzügen weiter sprechen konnte. Sein Anliegen schien ihm jedoch sehr wichtig zu sein, sodass er sich die Ruhe, die er dringend nötig hatte, nicht gönnen wollte.
`Im Krieg damals... mein Kamerad... hatte eine Blutvergiftung... ist gestorben... Seine Wunden... wurden zu spät... gereinigt...´
Ulrichs Anliegen erschien mir in der jetzigen Situation zwar völlig absurd, denn meiner Ansicht nach war es jetzt viel wichtiger, die Blutung möglichst bald zum Stillstand zu bringen, da der Blutverlust bereits sehr groß war. Doch schließlich nickte ich, wollte ich doch, dass er sich nicht länger unnötig aufregte.
`Also gut! Wo kann ich denn in der Kutsche Wasser oder etwas Ähnliches finden?´
Ulrich machte ein betroffenes Gesicht.
`Ich habe... nichts...´
Ich verdrehte die Augen.
`Womit, glauben Sie denn, soll ich Ihre Wunde hier nun reinigen?´
`Haben Sie vielleicht... selbst etwas dabei?´, fragte Ulrich hoffnungsvoll. Doch ich schüttelte bloß den Kopf und betrachtete Ulrich nachdenklich, während ich mir erneut auf meine inzwischen wieder verheilte Zunge biss. Teufel, ich wollte endlich fertig werden, denn erstens würde Ulrich den Blutverlust nicht mehr lange verkraften und zweitens mochte ich mir nicht ständig auf die Zunge beißen! Also fuhr ich schließlich fort, Ulrichs Hemd in Streifen zu reißen.
`Vielleicht können Sie... die Wunde aussaugen... und so vom Dreck befreien...?´, fiel Ulrich auf einmal ein, der scheinbar nicht bereit war, sich mit der gegebenen Situation abzufinden.
Sprachlos hielt ich wieder inne und starrte ihn an. Wenn er nicht aufpasste, würde ich ihn bald nicht nur von dem Dreck, sondern auch noch von seinem Leben befreien...
`Wissen Sie eigentlich, worum Sie mich da bitten?´ Empört schüttelte ich den Kopf, als genüge das zur Antwort, und riss mit einem kräftigen Ruck den nächsten Streifen aus dem Hemd.
`Bitte!´, hauchte Ulrich und als ich ihm in die Augen blickte, standen darin nackte Angst und Verzweiflung.
`Unmöglich!´, schmetterte ich seine Bitte dennoch ab und machte mich daran, den Stoffrest, den ich gerade in meinen Händen hielt, zusammenzurollen, um ihn nachher unter dem Verband auf die Wunde zu legen und damit die Blutung abzudrücken. Gleichzeitig aber sog ich kräftig das Blut aus meiner Zunge, um mich mühsam von dieser ungemeinen Versuchung abzulenken, in die Ulrich mich da führte. Doch selbst wenn es anfangs noch etwas genützt hatte, so wurde der Effekt mittlerweile deutlich geringer. Immer lauter wurde die Frage in mir: Warum denn nicht? Er bittet dich ja sogar darum! Warum also nicht?
Schließlich legte ich den Stoff entschlossen beiseite.
`Also gut´, sagte ich nur und beugte mich über Ulrichs Schulter. Dann legte ich vorsichtig meine Lippen um seine Wunde und begann, behutsam daran zu saugen.
Selbst wenn ich heute wieder über diese Szene nachdenke, erinnere ich mich noch lebhaft daran, welche Furcht ich damals hatte, möglicherweise nicht mehr rechtzeitig aufhören zu können, und wie ich mich währenddessen schalt, überhaupt auf Ulrichs Bitte eingegangen zu sein. Doch auf der anderen Seite hätte ich ohne dies vielleicht nie die Gabe erkannt, die ich bis heute als sehr segensreich empfinde.
Es war ein eigenartiger, süßherber Geschmack, als Ulrichs Blut sich mit dem aus meiner Zunge vermischte und, begleitet von einem angenehm prickelnden Gefühl, meine Kehle hinunter lief. Doch mir blieb nur wenig Zeit, dieses Phänomen näher zu ergründen, denn bereits nach wenigen Sekunden versiegte der Strom ganz unverhofft wieder.
Ich war davon höchst überrascht, denn gewöhnlich trat dieses Stadium erst dann ein, wenn mein Opfer seinen letzten Herzschlag getan hatte. Doch ich hatte Ulrich die ganze Zeit im Auge behalten, um ja nicht den Zeitpunkt zu verpassen, an dem ich aufhören musste, und er war alles andere als tot. Im Gegenteil: hellwach beobachtete er mich und in seinen Gesichtszügen spiegelte sich vielmehr eine ungemeine Erleichterung.
Neugierig zog ich mich ein wenig zurück, um die Wunde nochmals zu betrachten. Doch was ich da sah, führte selbst bei mir zu größter Verwunderung.
Die Wunde blutete nicht mehr.
Nein, das konnte sie auch nicht mehr, denn sie war verschwunden und nichts, nicht einmal mehr der Hauch einer dünnen Narbe, deutete noch darauf hin, dass sie je da gewesen war.
Ulrich selbst hatte seine wundersame Heilung noch nicht bemerkt und ich nahm rasch das Stoffknäuel, das noch an meiner Seite lag, um es auf die Stelle zu drücken, die bis vor wenigen Augenblicken noch unaufhaltsam geblutet hatte. Dann wickelte ich schnell die restlichen Stoffstreifen um Oberkörper und Schulter, damit es wenigstens den Anschein behielt, als gäbe es dort noch etwas zu verbinden.
Ulrich, nun urplötzlich von seinen Schmerzen befreit, geriet daraufhin fast schon in einen Zustand der Euphorie. Während ich die beiden Enden des Verbands miteinander verknotete, bedankte er sich immer wieder für meine großmütige Hilfe, durch welche er nun sicherlich bald genesen würde.
Aber nichts desto trotz war er natürlich durch den großen Blutverlust noch sehr schwach, weswegen ich auch darauf bestand, dass er sich für die restliche Fahrt in der Kabine seiner Kutsche bettete, um dort etwas zu schlafen.
Ich hingegen kletterte wieder hinauf auf den Kutschbock und übernahm die Zügel. Dabei war ich froh, alleine hier oben sitzen zu können und nun keine Unterhaltung führen zu müssen. Zu abgelenkt war ich von den Gedanken an dieses seltsame Ereignis, das ich zu begreifen versuchte.
Wir hatten durch diesen Zwischenfall insgesamt viel Zeit verloren und ich hatte nun die Sorge, dass die Sonne aufgehen könnte, noch bevor ich mein Ziel erreicht hatte. Daher trieb ich die Pferde zusätzlich mit der Peitsche an, welche ich surrend auf ihre Leiber schnellen ließ, sodass sie bis an den Rand der Erschöpfung durch die Nacht donnerten. Immer wieder warf ich einen gehetzten Blick über die Schulter Richtung Osten, um mich zu vergewissern, dass ich noch außer Gefahr war.
Bald aber tauchten am Horizont vor mir die ersten Turmzipfel der Stadt auf und ein erneuter Blick nach Osten bestätigte mir, dass die Dämmerung noch etwas auf sich warten lassen würde. Zumindest lange genug, um für Ulrich und mich eine Bleibe zu suchen. Dennoch trieb ich die Pferde weiter unbarmherzig an, bis ich endlich an der Stadtgrenze angekommen war. Erst als wir das Befestigungstor durchquert hatten, erlaubte ich den schnaufenden Tieren, ihr Tempo zu drosseln und schließlich vor dem nächsten Gasthaus anzuhalten.
Kaum, dass die Kutsche stehen geblieben war, sprang ich mit einem Satz von dem Bock herab, lief zur Tür und schlug kräftig mit der Faust dagegen, damit man mich auch im tiefsten Schlaf noch hören konnte.
Mit Erfolg, denn kurz darauf öffnete mir ein verschlafen, nicht gerade freundlich dreinschauender junger Mann – ein Anblick, an den ich mich wohl gewöhnen musste, wenn ich stets noch kurz vor Sonnenaufgang um ein Zimmer bitten würde; aber auch ein Anblick, der mir deutlich machte, dass es für mich langfristig sinnvoller wäre, mir ein festes Domizil zuzulegen.
Mit etwas Überredungskunst und insbesondere ein paar Nachdruck verleihenden Talern ließ der Wirt mich schließlich ein und war bereit, mir ein Zimmer zu vermieten. Doch noch bevor ich es bezog, erkundigte ich mich nach dem nächstgelegenen Hospital, in das ich gedachte, Ulrich zu bringen, damit er von den Folgen seiner Verletzung unter fachkundigen Augen genesen konnte.
Vor dem Hospital angekommen, weckte ich Ulrich, der trotz der rasanten Fahrt in der Kabine eingeschlafen war. Da er noch sehr schwach auf den Beinen war, legte ich seinen unverletzten Arm über meine Schultern und stützte ihn auf dem Weg hinein. Dabei ließ er es sich trotz seiner Schwäche nicht nehmen, mich für meinen Mut, mein Kampfgeschick sowie meine Heilkunst zu loben.
`Sie werden sich sicher wundern, mein Herr, aber Sie haben meine Wunde so gut versorgt, dass ich nun sogar gänzlich von den Schmerzen befreit bin´, schwärmte er und mir blieb nichts anderes übrig, als sein Lob mit einem bescheidenen Lächeln hinzunehmen. Dabei hoffte ich, dass ich bereits längst von hier verschwunden sein würde, wenn schließlich der Verband entfernt wurde und auffiel, dass die Wunde im Grunde gar nicht mehr vorhanden war.
Deswegen, aber auch in Anbetracht der nahenden Dämmerung, wollte ich mich, nachdem sich inzwischen eine Krankenschwester seiner angenommen hatte, endlich von ihm verabschieden und zu meinem Zimmer zurückkehren. Also verlor ich noch ein paar freundliche Worte und streckte Ulrich meine Hand entgegen. Froh schlug er ein und schüttelte sie.
`Leben Sie wohl, mein Herr, aber eines muss ich Ihnen noch gestehen: Gegen alles Geld der Welt werde ich nicht mehr durch die Nacht fahren! Glücklicherweise waren es diesmal bloß Räuber, die uns aufgelauert haben, aber das nächste Mal könnte es auch der Dämon selbst sein... Auch Sie sollten sich das in Zukunft gut überlegen!´ Dabei zog Ulrich eine verschwörerische Grimasse und ich hätte fast angefangen zu lachen. Wenn er gewusst hätte, dass er soeben diesem Dämon noch ausschweifend für seine Taten gedankt hatte, würde er sich vielleicht noch so manches Mal wünschen, von ihm heimgesucht zu werden.
Anstatt jedoch zu lachen, begnügte ich mich mit einem nachsichtigen Lächeln und einem freundschaftlichen Klopfen auf Ulrichs Schulter, um mich dann mit einem Abschiedsgruß zum Gehen zu wenden und das Hospital zu verlassen.
Die Kutsche hinterließ ich für Ulrich in einem nahe gelegenen Stall und ging von dort aus zu Fuß zurück zu dem Gasthaus, wo mein Zimmer bereits auf mich wartete; ebenso wie der Schrankkoffer, der mir dort als Bett und sicherer Schutz vor der Sonne dienen musste. Zumindest für diesen Tag.“
***
Cheriour betrachtete den Vampir nachdenklich. Dann sah er sich die Gesichter der anderen Engel an, zuletzt das des Richters. Alle hörten sie dem Vampir gebannt zu. Armon war ihnen sympathisch, das konnte Cheriour erkennen. Irgendwie schaffte er es immer wieder, dass man ihm sein Tun nicht verübeln konnte. Ja, selbst Cheriour hätte diesem Armon etwas abgewinnen können, wenn er nicht zu gut gewusst hätte, was dieses Wesen in die Welt gebracht hatte, sei es auch unverschuldet und unwissentlich gewesen.
Sicher, er konnte noch Zeuge um Zeuge gegen ihn ins Feld führen. Es gab genug davon. Da konnte selbst Ambriel ihm mit seinen kläglichen Versuchen kaum das Wasser abgraben. Aber was hatten ihm die Zeugen genutzt? Nein, Cheriour entschied, Armon einfach weiter erzählen zu lassen. Der Engel kannte die Geschichte und er wusste, dass sie alsbald da angelangen würde, wo es deutlich heikler werden sollte. Denn die Tragweite seiner dämonischen Existenz würde dann nicht mehr nur diesen einzelnen Vampir umfassen, nicht allein seinem Ermessen von Moral und Legitimität unterliegen; nein, geboren aus seinen ureigensten Ängsten und Sehnsüchten, würde sie sich ausbreiten und unkontrolliert um sich greifen.
Diese Stelle würde Cheriour abpassen.