Читать книгу Gebrochene Flügel - Daniela Hochstein - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеEs herrschte nächtliche Ruhe auf dem Flur der Intensivstation, als Marco erwachte. Er lag auf dem Rücken und starrte auf seiner Flucht vor seinem verletzten Körper an die Decke, folgte den Konturen der Schatten, die sich dort in dem Schein einer kleinen Nachtlampe abzeichneten, und suchte nach immer neuen Figuren darin. Gedanken drängten an sein Bewusstsein, wollten gehört werden, doch er beachtete sie nicht. Es kostete ihn Konzentration, den Damm gegen sie aufrecht zu halten, und Kraft, denn die Wucht ihrer Wellen nagte unermüdlich an der Basis und drohte sie zu untergraben.
Marcos Rücken war es schließlich, der sein Bollwerk zum Einsturz brachte. Er schmerzte. Dort, wo sein Gefühl ins Leere lief, hämmerte es. Es pochte, zog und brannte, sodass Marcos Nerven bald dem Zerreißen nah waren. Er hätte sich gerne gedreht, ja er hätte es gerne versucht, aber er wusste nicht wie. Die Muskeln, die er dazu brauchte, existierten für seinen Willen nicht mehr. So sehr er es immer und immer wieder probierte, so versagte er doch immer und immer wieder dabei. Als er zuletzt mit einer Hand das Bettgitter packte und sich daran auf die Seite ziehen wollte, ließ der Schmerz ihn schnell wieder loslassen. Er fluchte, ungläubig, wie wenig er seinem Körper noch abverlangen konnte. Es war doch eigentlich eine lächerliche Kleinigkeit, sich im Bett zu drehen, und doch war er einfach nicht in der Lage dazu. Es war nicht zu fassen, aber er konnte sich nicht einmal selber drehen...
Notgedrungen musste Marco einsehen, dass er ohne Hilfe nicht weiterkommen würde. Frustriert hielt er nach dem Klingelknopf Ausschau. Er fand ihn schließlich an einem Kabel, das nicht weit von ihm entfernt um den Griff eines Nachtschranks gewickelt war. Doch als er seinen Arm danach ausstreckte, war dieser ein Stück zu kurz. Seine Finger verfehlten den Knopf um wenige Zentimeter.
Marco schimpfte und reckte seinen Arm so weit er konnte. Vergebens. Schließlich zog er sich unter Schmerzen an das Bettgitter heran. Allerdings gelang es ihm mehr schlecht als recht und als er seine Hand abermals nach dem Knopf ausstreckte, konnte er ihn zwar mit seinen Fingerspitzen berühren, aber es genügte nicht, um die Klingel zu bedienen.
„Verdammte Kacke!“, stieß er zornig aus und schlug mit seiner Hand auf die Bettdecke. Dabei spürte er seinen Oberschenkel unter der Handfläche, was ihn zutiefst irritierte. Er hatte sich gerade selbst geschlagen, so fest, dass es noch ein wenig in der Handfläche kribbelte, doch er hatte es nicht ansatzweise gefühlt.
Betroffen hielt Marco inne. Er vergaß die Klingel, ja sogar die Rückenschmerzen. Plötzlich war er wie erstarrt. Bloß ein Gedanke blinkte unermüdlich vor ihm auf: Er würde im Rollstuhl sitzen. Für immer!
Der Arzt hatte es ihm heute Nachmittag mitgeteilt.
Ein paar Stunden hatte Marco diese Tatsache ausblenden und mit blinder Hoffnung überdecken können, doch nun war diese Gewissheit wieder da.
„Herr Wingert“, hatte der Arzt zu ihm gesagt. „Bei dem Unfall wurde Ihr Rückenmark auf der Höhe Th10 verletzt. In der Bildgebung hat sich gezeigt, dass es komplett durchtrennt worden ist. Das bedeutet, dass Sie unterhalb des Bauchnabels weder Gefühl haben noch in der Lage sind, sich zu bewegen. Sie werden den Rest Ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen sein.“
„Gibt es denn gar keine Möglichkeit, das zu reparieren?“, hatte Marco gefragt, weil er sich diese Endgültigkeit nicht vorstellen konnte. „Vielleicht irgendetwas, das noch in der Probephase ist? Irgendein neues Verfahren? Ich wäre auch bereit, mich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen!“ Doch der Arzt hatte den Kopf geschüttelt.
„Finden Sie sich damit ab, Herr Wingert. Das ist das einzige, was Sie tun können.“
„Gibt es wirklich nichts?“, hatte Marco trotzdem noch einmal nachgehakt, diesmal aber schon kleinlauter, und seine Stimme erstarb letztlich ganz, als darauf nur wieder ein klares „Nein“ folgte.
Das war es. Und doch weigerte Marco sich, es zu akzeptieren, denn das war alles, was ihm noch blieb. Verweigerung.
Der Arzt hatte ihm noch in groben Zügen den weiteren Verlauf seines stationären Aufenthalts sowie die Möglichkeiten und Ziele der anschließenden Reha erklärt, doch seine Worte verklangen, noch bevor sie Marcos Bewusstsein erreicht hatten. Er hatte bloß durch den Arzt hindurch geblickt, als sei er ein Trugbild. Irreal und bedrohlich, nur dazu da, einen in die Irre zu führen. Und in diesem Zustand zwischen Wirklichkeit und Albtraum hatte Marco den restlichen Tag verbracht, war irgendwann unbemerkt eingeschlafen und nun in der Nacht erst wieder aufgewacht.
Aufgewacht inmitten zahlloser Gespenster, die heulend durch seinen Kopf spukten.
„Du bist behindert“, schrien sie. „Nichts mehr wert.“ „Eine Randgestalt.“ „Der Mann im Rollstuhl, mehr nicht.“ Sie schrien es immerzu und immer lauter, bis Marco die Tränen in die Augen traten, gejagt von Wut, die das Schicksal verfluchte. Eine Wut, die schließlich schützend aufbegehrte. Sie war Marcos letzter Freund, hielt zu ihm und rief den Stimmen entgegen: „Ihr habt keine Ahnung! Er ist immer noch Marco und der besteht nicht bloß aus Beinen! Er ist viel, viel mehr!“
Schneller und schneller kreisten die Stimmen durch Marcos Kopf, der sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, um sie endlich nicht mehr hören zu müssen. Er wäre gerne aufgestanden und einfach davon gelaufen, und damit war er wieder dort, wo er angefangen hatte. Gelähmt in seinem Bett, mit einem Damm, den er mühsam errichtet hatte und der kurz darauf wieder brach wegen Rückenschmerzen; die Heil bringende Klingel so nah und doch unerreichbar für ihn.
„Hallo!“, rief er schließlich und brachte damit die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen. Er wartete und als niemand kam, rief er wieder, diesmal allerdings lauter. Er hatte beschlossen, nie wieder mit dem Rufen aufzuhören, solange, bis jemand kommen und ihn aus seiner Rückenlage befreien würde.
So einsam, wie er geglaubt hatte, war Marco gar nicht. Schon nach seinem dritten Ruf eilte eine Schwester herbei, die ihn endlich in die gewünschte Seitenlage brachte. Es war eigenartig, von einer jungen, noch dazu hübschen Frau im Bett gewälzt zu werden, wie ein nutzloses Stück Fleisch, aber Marco bemühte sich, diesen Gedanken so schnell wie möglich beiseite zu schieben. Immerhin fühlte sich sein Rücken endlich wieder besser an. Nur das zählte. Freiheit für seinen Rücken...
„Danke“, sagte er und erntete dafür ein Lächeln. Ein schönes Lächeln in einem niedlichen Gesicht, in dem jedoch bloß der Ausdruck der Hilfsbereitschaft stand. „Gern geschehen“, konnte Marco daraus lesen, mehr nicht. Und das kränkte ihn auf einmal. Er war lediglich ein Stück Fleisch. Zur Hälfte zumindest. Mehr war er nicht für diese Frau.
Marco sehnte sich nach Schlaf. Allein, um all diese verwirrenden Gefühle und Gedanken für einen Moment vergessen zu können. Er kämpfte sie nieder, immer, immer wieder, drückte sie unter die Oberfläche wie Luftballons, die jedoch stets irgendwo wieder seinen Händen entglitten. Und im Wettstreit dazu lag der Schmerz, der seinen Rücken nun bald auch in der Seitenlage wieder befiel. Am liebsten hätte Marco einfach laut geschrien. So lange, bis er heiser gewesen wäre. Doch er verkniff es sich und kämpfte weiter. Was hätte er nur dafür gegeben, sich einmal kurz selbst zu drehen, um Linderung gegen den Schmerz zu schaffen!
Klugerweise hatte er vorhin darauf bestanden, dass die Schwester ihm die Klingel in die Hand gab. Es war ein wunderbares, erleichterndes Gefühl, sie darin zu halten und zu wissen, dass er jetzt die Kontrolle darüber besaß. Und er nutzte sie bereitwillig.
Die Schwester kam nur kurze Zeit später wie bestellt.
„Könnten Sie mich wieder auf den Rücken drehen?“, bat er sie, doch sie schüttelte den Kopf.
„Es ist noch nicht soweit, Herr Wingert. Sonst bekommen Sie Druckstellen. In vier Stunden werden Sie wieder gedreht.“
„In vier Stunden?! Das halte ich nicht aus! Können Sie nicht eine Ausnahme machen?“
Erneut schüttelte die Schwester den Kopf und lächelte entschuldigend dabei.
„Versuchen Sie zu schlafen.“
Marco lachte bitter.
„Das will ich ja, aber es geht nicht, weil mein Rücken weh tut, solange Sie mich nicht drehen.“
„Brauchen Sie ein Schmerzmittel?“
„Nein“, fauchte Marco. „Ich will anders liegen, verdammt! Wieso können Sie mir nicht einfach dabei helfen?“ Ihm lagen zahlreiche Schimpfwörter auf der Zunge, um dem Ärger Ausdruck zu verleihen, den er gerade empfand, darüber, dass er sich nicht selber helfen konnte, ja darüber, dass er nicht einmal selbst bestimmen konnte, was nun mit ihm gemacht wurde. Doch er schluckte sie herunter und tat stattdessen einen tiefen Atemzug. „Bitte!“, fügte er flehend hinzu und ihm wurde fast übel dabei.
Aber es wirkte. Der Gesichtsausdruck der Schwester schwankte zwischen nachgeben und konsequent bleiben, und schließlich kippte er zu Marcos Gunsten.
„Also gut, ich drehe Sie auf die andere Seite. Aber dann sollten Sie versuchen, zu schlafen.“
„Danke! Sie sind so gut zu mir...“ Ein erschöpftes Lächeln glitt über Marcos Gesicht und er genoss den kleinen Augenblick seines Triumphs.
Er hatte sein Ziel erreicht. Er lag auf der anderen Seite und der Rücken gab vorerst Ruhe. Und damit dieser gar nicht mehr auf die Idee kam, abermals weh zu tun, ließ Marco sich gleich auch noch das Schmerzmittel geben, mit dem angenehmen Begleiteffekt, dass es ihn müde machte und er endlich in den Schlaf fand.