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Kapitel 5

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Marco lief. Nein, er rannte. So schnell, dass die Lungen brannten. Doch er hörte nicht auf. Niemals würde er mehr stehen bleiben, das hatte er sich geschworen. Er würde seinen Beinen verbieten, sich von seiner Kontrolle zu verabschieden. Wie ein Gebet wiederholte er es immerzu: Lauft, lauft, lauft. Und es fühlte sich so gut an. So unglaublich gut! Der Unfall, die Taubheit, die Lähmung, alles war bloß ein böser Traum gewesen, so dachte er. Er war sich dessen so sicher.

„Herr Wingert“, rief es aus der Ferne. Eine Hand umfasste Marcos Schulter und bremste plötzlich seinen Lauf. Marco blieb stehen, starrte entsetzt an sich herunter und erkannte die Fesseln, die sich aus dem Nichts um seine Füße schlangen. Er wollte sich aus ihnen herauswinden, doch sie zogen sich dabei nur fester zusammen. Er stürzte, wollte wieder aufstehen, aber seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Marco schrie und schlug nach der Hand an seiner Schulter, die ihm das alles eingebrockt hatte. Doch er wurde sie nicht los.

Als er seine Augen aufriss, starrte er in das Gesicht einer Krankenschwester. Sie lächelte ihn sanft an.

„Guten Morgen. Ich werde Sie jetzt waschen.“ Und mit diesen Worten zog sie den Nachtschrank heran, auf dem bereits eine Waschschüssel stand.

Irritiert sprang Marcos Blick von der Schwester zu der Waschschüssel und wieder zurück. Der Schock seines Traumes war noch nicht überwunden, da folgte unmittelbar schon der nächste.

„Waschen?“, fragte er entgeistert.

Die Schwester lachte leise.

„Ja, Sauberkeit muss auch im Krankenhaus sein. Außerdem fühlen Sie sich danach frischer, Sie werden sehen.“

„Aber ich kann mich doch selber waschen.“

Die Krankenschwester zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Na, das glaube ich kaum. Aber Ihr Gesicht und den Oberkörper können Sie gerne selbst waschen. Das bekommen Sie in der Tat hin. Und beim Rasieren kann ich Ihnen gleich helfen.“ Die Schwester nahm einen Lappen aus der Schüssel, wrang ihn aus und reichte ihn Marco.

„Dann fangen Sie schon mal an. Ich leere in der Zeit den Urinbeutel.“

Wieder stutzte Marco und erst jetzt fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit gar nicht auf die Toilette gemusst hatte. Auf einmal fühlte er sich wie einer der alten Männer, die er damals in seinem Zivildienst gewaschen hatte. Von jetzt auf gleich war er bar jedweder Intimsphäre, ohne Würde und für den Waschenden bloß Arbeit, die zu erledigen war. Unwillkürlich schoss ihm die Schamesröte in die Wangen und brannte dort wie ein unauslöschliches Feuer. Er sah, wie die hübsche junge Schwester sich mit einer Kanne in der Hand vor das Bett hockte und hörte kurz darauf das Plätschern seines Urins, der in die Kanne ablief. Am liebsten wäre er augenblicklich im Erdboden versunken und die Vorstellung, dass er nun womöglich immer solch einen Beutel mit sich herumtragen musste, versetzte ihm einen Schock.

Aber das war erst der Anfang.

Mit ganzer Kraft hatte Marco gegen das Gefühl der Erniedrigung angekämpft, sodass es ihm nun immerhin gelang, sich halbherzig mit dem Lappen durch das Gesicht zu wischen, über die Brust und unter die Achseln. Dabei beobachtete er jedoch verstohlen, wie die Schwester seine Beine wusch, und es kam ihm alles so irreal vor. Er sah das Wasser an den Seiten seiner Schienbeine herunter laufen und konnte sich noch ganz genau an das Gefühl erinnern, das man gewöhnlich dabei hat. Aber was er sah, hätte einem Fremden passieren können, denn sein Hirn meldete ihm keine Reaktion dazu. War das Wasser warm? Oder eiskalt? Rieb der Lappen beherzt oder behutsam über seine Haut? Er wusste es nicht und dieses Unwissen stach ihm wie ein glühender Stachel in seine Brust, quälte ihn, ärgerte ihn, trieb ihn zur Verzweiflung. Dennoch starrte er gebannt auf den Waschlappen, der sich unaufhaltsam die Beine hinauf arbeitete, bis er dort angekommen war, wo Marco nun voller Entsetzen erkannte, dass wirklich alles unterhalb des Bauchnabels von der Taubheit betroffen war. Routiniert wusch die Schwester Marcos Geschlecht und Marco sah ihr dabei zu; fassungslos darüber, dass er nichts, aber auch gar nichts davon nur ansatzweise spürte; geschockt darüber, dass er etwas unwiederbringlich verloren hatte, was er bis vor wenigen Tagen als so selbstverständlich und schön empfunden hatte; niedergeschmettert, weil er doch erst dreiundzwanzig Jahre alt war und ihm noch ein ganzes Leben bevor stand...

Tränen, geboren aus grausamer Erkenntnis, Demütigung und Trauer, schossen ihm in die Augen, sodass er sie zukniff, damit die Schwester davon nichts merkte. Aber das Zucken in seinem Oberkörper, das seine unterdrückten Schluchzer mit sich brachten, konnte er nicht verhindern. Rasch nahm er seine Hand vor den Mund und biss sich auf die Seite seines Zeigefingers, konzentrierte sich auf den Schmerz, den seine Zähne verursachten sowie auf seinen Atem, den er zu beruhigen versuchte, und sagte sich immerzu: Gleich hast du es geschafft! Gleich ist es vorbei!...

Die nagende Schwärze aber, die dabei in seine Seele einzog, blieb und begleitete ihn in den Tag hinein.

Marcos Mutter Sofia kam gemeinsam mit Toni am späten Vormittag. Marco döste gerade vor sich hin, als sie das Zimmer betraten. Die unruhige Nacht sowie das Schmerzmittel taten ihre Wirkung, sodass Marco nach dem Frühstück froh gewesen war, die Augen zumachen und alles um sich herum für eine Weile aussperren zu können.

Das Schließen der Tür holte ihn zurück in das Krankenzimmer.

„Marco!“, brach es aus seiner Mutter heraus, als sie an das Bett herantrat. Sie beugte sich zum ihm herunter, um ihn in die Arme zu schließen, doch Marco spürte ihre Anspannung, die diesen Akt seltsam unbeholfen erscheinen ließ.

„Hallo Mama“, war alles, was ihm dazu einfiel und er erwiderte die Umarmung allenfalls pflichtschuldig, während er Toni an ihr vorbei einen Blick zuwarf. Er war froh, dass sein Bruder dabei war.

„Wie geht es dir, mein Junge?“ Seine Mutter richtete sich wieder auf und sah besorgt auf Marco hinunter, während sie seinen Arm streichelte.

Beschissen, wollte er am liebsten ausspeien, biss sich aber zuletzt auf die Unterlippe und beließ es bei einem im Grunde lächerlichen: „Naja, könnte besser sein.“

„Mein Gott, wie konnte das denn nur passieren, Marco?“, sagte sie mit erstickter Stimme und wischte sich eilig mit dem Finger eine Träne fort, die aus dem Augenwinkel zu kullern drohte.

„Mama“, fiel Toni da ein, „lass ihn doch in Ruhe damit.“

Die Mutter blinzelte und warf ihrem älteren Sohn einen pikierten Blick zu, wandte sich dann aber wieder an Marco und lächelte bemüht tröstlich.

„Na, das wird schon wieder...“

Fast hätte Marco gelacht, wenn es nicht so erbärmlich gewesen wäre.

„Ja, bestimmt.“

„Nein, ich meine, wir sind ja da, Marco. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, auch um deine Zukunft nicht. Wir kümmern uns um dich!“

Großartig..., dachte Marco und „Danke“ sagte er, in der Hoffnung, damit das Thema abhaken zu können, denn um seine Zukunft wollte er sich gerade eigentlich keine Gedanken machen. Das hier und jetzt genügte ihm schon. Seine Antwort vermochte es allerdings nicht, die verspannte Atmosphäre zu lösen.

„Und, was macht ihr heute noch so?“, fragte er deshalb müde und erntete damit zwei verständnislose Blicke.

„Wir helfen dir gleich beim Umzug auf die Akutstation“, rettete Toni schließlich die Situation und hob die kleine Reisetasche hoch, die er in der Hand hielt, um Marco zu demonstrieren, dass er Kleidung für ihn dabei hatte. Sichtbar erleichtert nickte Sofia dazu und widmete ihre Aufmerksamkeit sogleich dem Nachtschrank, auf dem einige wenige Utensilien lagen, darunter ein Buch, das Marco nicht einmal angerührt hatte, sein Discman und eine alte CD von Pink Floyd. Mit wenigen Griffen hatte sie die Sachen in eine kleine Tasche gesteckt. Dann zog sie die Schubladen auf und kramte das Portemonnaie und Marcos Wohnungsschlüssel heraus. Während sie die Geldbörse gleich zu den anderen Sachen in die Tasche packte, hielt sie den Schlüssel hingegen nachdenklich in der Hand. Marco beobachtete sie dabei und als sie zu ihm aufsah, trafen sich ihre Blicke.

„Wo ist denn der Autoschlüssel?“, fragte sie schließlich mit skeptischer Miene.

„Der Autoschlüssel?“, tat Marco ahnungslos.

„Ja, ich hatte dir das Auto doch geliehen, damit du es auch benutzt. Warum bist du denn um Himmels Willen bei dem Wetter in der Dunkelheit mit dem Fahrrad gefahren?“ Der Vorwurf in Sofias Worten war nicht zu überhören und Marco wand sich innerlich unter ihm.

„Ich hatte den Schlüssel auf die Schnelle nicht gefunden, muss ihn wohl verlegt haben. Ich hatte es eilig...“

Sofia bedachte Marco mit einem langen Blick, der so viele Gedanken gleichzeitig ausdrückte, von denen sie jedoch keinen einzigen aussprach. Der schlimmste davon war, dass Marco heute noch laufen könnte, wenn er sich die Zeit genommen und den Schlüssel gesucht hätte. Der zweite war die Wut darüber, dass sie Marcos Schlendrian schon immer verurteilt hatte und er ihm nun im wahrsten Sinne des Wortes das Kreuz gebrochen hatte. Und der dritte war die schmerzende Bitterkeit, die sie darüber empfand, dass Marco nun behindert und damit in ihren Augen ein Pflegefall war.

Marco konnte all das in den Augen seiner Mutter lesen und es tat ihm weh, tief in seiner Seele. Er fühlte sich bereits aufgegeben, noch bevor er überhaupt ausloten konnte, welche Möglichkeiten ihm noch blieben.

„Glaub mir, wenn ich gewusst hätte, wie das endet, hätte ich ihn gesucht...“, setzte er schließlich geschlagen nach, um ihr damit den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Aber nun ist es wohl zu spät.“

Sofia zog die Mundwinkel herunter, kam jedoch nicht mehr dazu, zu antworten, denn eine Schwester betrat das Zimmer.

„So, es geht jetzt auf die andere Station!“, kündigte sie schwungvoll an und begann damit, Marcos Tasche auf das Fußende des Bettes zu legen und die Bremsen zu lösen. Toni half ihr, das Bett aus dem Raum heraus, über den Flur zu den Aufzügen zu schieben, während Sofia mit zusammengekniffenen Lippen folgte.

Toni warf seiner Mutter einen flüchtigen Blick zu. Er wusste, wie düster es in ihr aussah. Alles, was sie nie an Kummer über ihren Mann ausgesprochen hatte, alles, was sie sich bemüht hatte nach seinem Tod zu vergessen, brach nun aus ihr heraus. Sie war für keinerlei Argumente zugänglich gewesen, hatte gar nicht verstehen wollen, als Toni ihr erklärte, dass Marco doch ein hohes Maß an Selbständigkeit zurückerlangen würde. Wenigstens hatte sie ihm zugehört, als er sie bat, Marco heute gegenüber nichts von ihren Sorgen zu erwähnen. Ob sie sich allerdings daran halten würde, war fraglich.

Marco kam sich vor, wie nutzloser Ballast. Er war es gewöhnt, sich um sich selbst zu kümmern und hatte es immer schon gehasst, jemanden um Hilfe bitten zu müssen. Nun aber lag er wie ein hilfloser Walfisch im Bett und musste sich durch die Flure schieben lassen. Alle um ihn herum liefen, sahen traurig auf ihn herab und er, der Walfisch, lag da und konnte nur blöde zurück glotzen und womöglich noch verkrampft lächeln. Schon der ganze Tag war bis zu diesem Moment ein einziges Desaster gewesen, eine Ansammlung von Demütigungen und Würdeverlust. So empfand er es. Genauso! Und langsam begann es in ihm zu brodeln. Leise noch, aber er spürte es. Eine Unruhe, Unzufriedenheit, Unmut, der Wunsch danach, wegzulaufen, und das verfluchte Wissen darüber, dass genau dies sein Problem war...

Für heute reichte es, dachte er und schloss die Augen, um auf diese Weise wenigstens den Blicken zu entfliehen.

Marcos neues Zimmer unterschied sich kaum von dem vorherigen. Es sah nicht ganz so krank machend aus, aber das war es auch schon. Immerhin.

Toni und Sofia machten sich daran, Marcos Kleidung in den Schrank zu räumen sowie Buch und Discman auf den Nachtschrank zu legen. Als Sofia Portemonnaie und Schlüssel aus der Tasche holte, zögerte sie. Dann reichte sie die Sachen an Toni.

„Nimm du das“, sagte sie bloß.

„He, Moment“, protestierte Marco, „das sind meine Sachen! Tu sie wieder in meinen Nachtschrank, Mama.“

Sofia hielt die Sachen weiter Toni entgegen und schenkte Marco nur einen entschiedenen Blick.

„Marco, du brauchst die Sachen hier doch nicht. Das Portemonnaie wird höchstens gestohlen und mit dem Wohnungsschlüssel kannst du auch nichts mehr anfangen.“

Dieser Kommentar saß. Marco wusste selbst, dass er seine jetzige Bude wohl oder übel aufgeben musste, weil es ohne Aufzug für ihn nun unmöglich war, zu ihr hinauf in den dritten Stock zu gelangen. Wie erschreckend einfach war es vor einer Woche noch gewesen... Seine Mutter hatte es sicher nicht so gemeint, aber Marco empfand ihre Worte als Schlag in den Magen.

„Ich will diese Dinge aber trotzdem hier bei mir haben. Es ist mir egal, ob ich sie brauche. Es sind meine Sachen und darüber entscheide immer noch ich!“

„Wie du willst...“, gab Sofia nach, öffnete ein Stück zu ruppig die Schublade und legte Geldbörse und Schlüssel hinein.

„Danke.“

„Marco...“, begann Sofia zögerlich. „Wegen der Wohnung...“

„Um die Wohnung mach ich mir ein anderes Mal Gedanken, Mama, ist das okay?“ Marco konnte den aggressiven Unterton nicht ganz verbergen, seine Mutter schien dies jedoch nicht zu kümmern.

„Ich will nur, dass du weißt: du musst dir da keine Sorgen machen. Ich lasse Vaters Zimmer renovieren, dann hast du dort Platz. Es ist ebenerdig und das Bad ist geräumig. Es wäre gar kein großer Aufwand.“

Toni hielt die Luft an und warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu, doch es war bereits zu spät.

Marco schluckte und starrte seine Mutter entsetzt an. Vaters Zimmer war für ihn immer schon der schrecklichste Ort im ganzen Haus gewesen und als Vater tot war, hatte Mutter es abgeschlossen und nie wieder betreten. Marco hatte sich damals so gewünscht, dass sie ein Spielzimmer daraus machen würde, mit einem Kickertisch, einer Dartscheibe und einem Basketballkorb. Doch sie hatte sich immer geweigert, mit ihrer seltsam hartnäckigen Verbohrtheit, wonach Marco schließlich begonnen hatte, das Zimmer zu verabscheuen.

„Das ist nicht dein Ernst, Mama! Du willst mich nicht wirklich in dieses Totenzimmer stecken, oder?“

„Marco!“, rief Sofia empört aus. „Benutze nie wieder dieses Wort!“

„Warum denn nicht? Das entspricht doch den Tatsachen. Totenzimmer! Glaubst du, dass ich je wieder nach Hause ziehe und dann noch in diese triste Todeskammer?“

Sofia tat einen tiefen Atemzug und unterdrückte den Impuls, Marco eine Ohrfeige zu verpassen. Sie sah auf ihn herab und blickte in seine provozierend funkelnden Augen.

„Marco, du bist nun behindert“, bemühte sie sich um einen ruhigen Tonfall. „Wer soll dir denn den ganzen Tag helfen? Zu Hause kann ich mich um dich kümmern.“

Marco war sprachlos. Er betrachtete seine Mutter und fand in ihr plötzlich einen fremden Menschen. Er musste mehrfach schlucken, bevor er seiner Stimme wieder mächtig war.

„Ich glaube, so behindert bin ich auch wieder nicht...“, brachte er heiser heraus und räusperte sich. „Ich werde schon für mich sorgen können, Mama. Das hat der Arzt zumindest gesagt.“

Sofia schwieg und blickte hilfesuchend zu Toni, der ihr zunickte, als wolle er damit Marcos Worte bestätigen. Aber Sofias Bedenken waren noch nicht beigelegt.

„Und wovon wirst du deine neue Wohnung bezahlen? Deinen Studentenjob als Kellner kannst du so“, sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Marcos Beine, „wohl nicht mehr ausüben... Und ich kann es mir nicht leisten, dir eine Miete zu bezahlen. So eine Behindertenwohnung ist sicher nicht billig und an jeder Ecke zu haben... Marco, sieh doch ein, dass es erst einmal das Beste wäre, nach Hause zu kommen.“

„Nein, Mama.“ Marco schüttelte entschieden den Kopf. „Ich kann das nicht. Irgendwie wird es schon gehen...“

„Er bekommt ja noch eine finanzielle Entschädigung, Mama. Ich bin schon dabei, das alles zu regeln. Es ist gar nicht so wenig. Damit kommt er erst mal zurecht. Es gibt da schon Lösungen...“, fiel Toni ein und wurde von Marco mit einem dankbaren Lächeln belohnt. Sofia hingegen hatte nur einen missmutigen Blick für ihn übrig.

Aus irgendeinem, Marco nicht ersichtlichen Grund wollte seine Mutter sich um ihn kümmern wie damals um Vater. Dabei hätte sie doch froh sein können, diese Last kein weiteres Mal übernehmen zu müssen. Aber es war eine seltsam aggressive, fast lähmende Besorgnis, die sie in sich trug und mit der sie ihn nun zu vereinnahmen versuchte.

Zu gerne hätte Marco einen Vorwand gehabt, seine Mutter fort zu schicken und so freute er sich, als die Schwester wenig später herein kam, um ihn zu lagern. Er brauchte das Gesicht seiner Mutter dabei nicht einmal sehen, um zu wissen, dass ihr dieser Anblick ganz und gar nicht behagte, und so sehr ihn diese Prozedur bisher immer betrübt hatte, so erfüllte sie ihn diesmal mit einer Mischung aus Gehässigkeit und Schadenfreude.

Toni hatte sich während der ganzen Szene unbehaglich gefühlt und war froh, dass er mit seiner zugesicherten Unterstützung den erdrückenden Dunst aus Beklemmung ein wenig zu lichten vermochte. Als dann noch die Krankenschwester hereinplatzte, um Marco auf die Seite zu drehen, kam es ihm vor, als bringe sie einen Schwall frische Luft mit hinein, sodass er endlich wieder frei atmen konnte.

Dieser Umstand sowie Marcos hilfesuchender Blick, den er Toni zuwarf und welcher ihm zu erkennen gab, dass auch er sich nach Erlösung sehnte, veranlasste ihn schließlich, aufzubrechen.

„Marco sieht müde aus, Mama. Ich glaube, wir sollten nach Hause gehen, damit er noch etwas schlafen kann.“ Toni zwinkerte Marco zu, der mit einem verschwörerischen Grinsen antwortete. Sofia zögerte zwar, willigte dann aber bereitwillig ein, wobei Toni glaubte, einen Anflug von Erleichterung durch ihre besorgte Miene huschen zu sehen.

Er schickte seine Mutter voraus und wandte sich noch einmal an Marco.

„Ich bringe Mama jetzt heim und dann komme ich am Nachmittag noch mal vorbei. Ist das okay?“

Marco nickte.

„Mach dir keine Gedanken über das, was sie gesagt hat...“

Wieder nickte Marco, obgleich sich ein Zug von Bitterkeit um seine Mundwinkel abzeichnete.

„Klar, kein Problem. Ich habe ja quasi gar keine Zeit zum Nachdenken...“, erwiderte er und erhielt dafür einen gequälten Blick, der ihn seine Aussage bereuen ließ.

„Geht schon, Toni. Ich kriege das hin. Danke für deine Unterstützung.“ Marco lächelte. Wieder einmal jenes Lächeln, das die Last auf den Schultern seines Bruders mildern sollte und Toni die Erlaubnis gab, ohne schlechtes Gewissen zu gehen.

Gebrochene Flügel

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