Читать книгу Gebrochene Flügel - Daniela Hochstein - Страница 16
Kapitel 7
ОглавлениеMarcos Tage zerflossen in rhythmisch wiederkehrenden Ritualen, und eines war niederdrückender als das andere.
Beginnen tat der Tag grundsätzlich mit einem Traum. Dabei gab es zweierlei. In den guten Träumen – so nannte Marco sie – konnte er laufen. Er lief, rannte, stieg Treppen, kletterte Felsen hinauf, fuhr Fahrrad, fühlte an Stränden den Sand unter den Füßen und war überglücklich.
In den schlechten Träumen sah er Rollstühle. Überall war er umgeben von ihnen. Viel zu viele. Aber stets saßen nur andere darin. Er selbst jedoch nie.
Am Ende zu erwachen, tat nach beiden Träumen weh. Jedes mal schlug Marco die Augen auf, sah, wie sich die letzten Bilder verflüchtigten und der knallharten Wirklichkeit seines spartanisch eingerichteten Krankenzimmers wichen. Und sollte es tatsächlich einmal vorkommen, dass Marco sich dabei dennoch ansatzweise zuversichtlich fühlte, so wartete sein düsterer Begleiter Frustration schon am Bettrand auf ihn, um ihm einen gehörigen Schlag in den Magen zu verpassen. Spätestens dann, wenn Marco, wie jeden Morgen, hoffnungsvoll versuchte, seine Zehen zu bewegen.
Aufgepeppt wurde diese herzerfrischende Guten-Morgen-Erfahrung durch das Pflegepersonal.
Bald hatte Marco sich angewöhnt, stets die Augen zu schließen, wenn jemand von ihnen sein Zimmer betrat, denn in der Regel kam nicht viel Gutes von ihnen. Entweder er wurde gewälzt wie ein Stück Fleisch – fehlte nur noch die Panade und er hätte ein gutes Schnitzel abgegeben – oder er wurde von seinen menschlichen Abfallprodukten befreit. In diesem Fall erwies sich der Umstand, dass er dort unten nichts mehr spüren konnte, allerdings als äußerst angenehm, denn so konnte Marco sich wenigstens der Illusion hingeben, es finde einfach gerade gar nicht statt.
Morgens wurde er dann einmal rundumentwürdigt, indem er wie ein gerade aufgefundenes Wrack von oben bis unten abgeschrubbt wurde. Mittlerweile hatte Marco es sogar aufgegeben, sich im Gesicht selbst zu waschen, sollten die doch gleich alles machen; zu verlieren gab es ja nichts mehr...
Ein winzig kleiner Lichtblick an dem Horizont voller schwarzer Regenwolken war allerdings der Physiotherapeut. Wenn er kam, um sinnlos an Marcos Beinen herumzuwerkeln, zu beugen, zu strecken, zu kneten und weiß Gott, was er sich noch alles einfallen ließ, pflegte Marco die Augen sogar dafür aufzumachen. Einfach, weil es jeden Tag etwas Neues zu gucken gab. Zudem sollte er die Bewegungen dabei im Geiste mit nachvollziehen und er hoffte, eines Tages vielleicht auch etwas davon zu spüren.
Außerdem erzählte der Therapeut währenddessen stets etwas. Irgendetwas, meist belangloses Zeug, als sei Marco gerade bei einem banalen Friseurtermin. Es war eigentlich vollkommen unwichtig, aber für Marco wurde es wichtig. Einfach, weil er zuhören konnte, ohne etwas dazu sagen zu müssen, weil es ihn für eine halbe Stunde lang fort trug aus der Klinik, zurück in die simple, heile Welt da draußen, wo es wichtig war, welcher Schauspieler gerade welche Schönheit heiratete oder verließ.
An Marcos besseren Tagen stellte er dem Therapeuten sogar Fragen. Hauptsächlich über den Sinn der Übungen und die Aussicht darauf, dass es vielleicht doch noch mal etwas mit seinen Beinen werden könnte. Und bei allen ehrlichen Antworten, die der Therapeut Marco gab, so wahrte er stets die Grenze der Hoffnung, Marcos einzige Kraftquelle, die er gerade besaß. Und dafür war Marco ihm dankbar.
Unterbrochen wurden diese Rituale von Besuchen. Vorwiegend von Toni und seiner Mutter, was nicht immer einfach war. Aber dennoch war Marco froh, seine Familie um sich zu haben und zu spüren, dass sie ihn liebten. Es erinnerte ihn daran, dass er gar nicht so alleine war, wie er sich oft fühlte. Es gab ihm Trost und Halt.
Für heute allerdings hatten sich seine Kumpels angekündigt und Marco blickte dem nicht ganz ohne Unbehagen entgegen.
Sie - Jan, Sven und Dirk - kamen zur Mittagszeit, schneiten in Marcos Zimmer hinein, als habe er gerade bloß die Mandeln herausgenommen bekommen. Und dies taten sie zudem so bewusst, dass es schon wieder hölzern wirkte.
Marco hatte sich inzwischen ein wenig an seine liegende Position gewöhnt, das Grauen war zum Alltag geworden und erst in den Augen seiner Freunde sah er wieder aufblitzen, dass sein ganzes Leben nun anders als das ihre sein würde, dass er nun anders war.
„Hey Marco!“, begrüßten sie ihn, beugten sich zu ihm herunter und nahmen ihn freundschaftlich in den Arm, so gut es eben in dieser Lage ging.
Und dann war es auch schon ziemlich still. Marco spürte die Beklemmung, die sich unter ihnen breit machte und er fühlte sich auf einmal seltsam verantwortlich für seine Freunde.
„Ihr wolltet doch bestimmt fragen, wie es mir geht, oder?“ Marco lächelte, und das gelang ihm wahrlich überzeugend. So überzeugend, dass auch Jan mit dem Ausdruck der Erleichterung auflachte.
„In der Tat! Woher weißt du das bloß?“
„Nun ja, ist so meine Erfahrung in der letzten Zeit...“ Wieder ein Lächeln. Marco war schon beinahe von sich selbst beeindruckt.
„Ne, jetzt aber im Ernst, Marco: Wie geht es Dir?“, wagte Sven schließlich die entscheidende Frage und machte diesmal Marco etwas betreten. Wenn er die Wahrheit hätte sagen wollen, hätte er Worte wie „Hölle“ oder „grausam“ oder „nur beschissen“ gewählt. Aber diese Wahrheit ging niemanden etwas an. Was sollten seine Freunde denn damit anfangen? Marco hatte Angst, sie würden bloß die Flucht ergreifen.
„Naja, gut ist anders...“, wich er schließlich aus und erntete drei mitfühlende Blicke, was ihn beinahe imperativ zu seinem nächsten Lächeln führte, dieses allerdings mehr schlecht als recht glaubwürdig.
„Okay. Klar... Ich meine“, druckste Dirk herum, „es ist scheiße, was passiert ist. Richtige Scheiße! Oh Mann...“
Marco nickte bloß, denn Dirk hatte es auf den Kopf getroffen. Was blieb ihm dazu also noch zu sagen?
„Wie ist das denn überhaupt passiert?“, fiel Sven ein, zuckte aber fast unmerklich dabei zusammen, als bereue er seine Frage sofort. Zu gerne hätte Marco ihm gesagt, dass er ruhig fragen könne, was er wissen wolle. Es würde die ganze Sache möglicherweise leichter machen. Und dennoch hielt er sich zurück mit seinem Angebot; aus einer unbestimmten Furcht heraus, die ihm einflüsterte, er wäre vielleicht noch nicht so weit, diese Fragen dann auch alle beantworten zu können.
„Naja, Zweikampf mit nem Auto... Hab verloren...“
Ein verhaltenes Lachen war die Reaktion seiner Freunde. Dabei fand Marco seinen Witz gelungen. Er hätte sich darüber gefreut, sie damit zum Lachen zu bringen. Zu einem richtigen Lachen. Eines, das die Situation für einen kurzen Moment nur halb so schlimm gemacht hätte, eines, das sie wieder miteinander verbunden hätte. Aber wie es schien, verboten seine Kumpels sich dieses Lachen. Über Behinderte machte man keine Witze und diese Erkenntnis traf Marco wie ein Schlag ins Gesicht.
Wieder wollte das Schweigen sich wie eine graue Spinne zwischen sie hocken, doch diesmal kam Jan dem zuvor.
„Ach, wir haben dir übrigens was mitgebracht“, sagte er und zog ein in buntes Papier geschlagenes Geschenk aus der geräumigen Innentasche seiner Jacke, um es Marco zu reichen.
„Wir dachten, es ist immer gut, ein Ziel zu haben.“
Marco nahm es mit einem „Danke“ entgegen und hielt es unentschlossen in seinen Händen. Eigentlich war er erfreut und neugierig, doch das Wort Ziel machte ihm Angst.
„Willst du es nicht auspacken?“, fragte Jan, der Marcos Zögern bemerkte.
Eilig nickte Marco und begann, das Geschenk langsam von dem Papier zu befreien. Seine Hände zitterten dabei. Leicht zwar und für die anderen drei nicht sichtbar. Aber ihm selbst genügte es, um sich unwohl zu fühlen.
Riss um Riss kam unter dem bunten Papier ein buntes Buch zum Vorschein. Neuseeland stand ganz oben als Überschrift. Reiseführer direkt darunter.
Marco zwang sich zu einem dankbaren Lächeln.
„Cool. Danke“, war alles, was er herausbrachte, und er wollte es rasch auf den Nachtschrank legen, da kam Sven ihm dazwischen.
„Du hast doch immer von Neuseeland geträumt, weißt du noch?“
„Mhm.“ Marco nickte.
„Wir haben gedacht, es könnte ein Ziel sein. Du verstehst?“
Wieder nickte Marco. „Ja, verstehe.“
Sven sah ihn erwartungsvoll an und als keine weitere Antwort folgte, machte sich Enttäuschung in seiner Miene breit.
„Du magst das Geschenk nicht, oder?“
„Doch, doch! Es ist nett von euch. Vielen Dank!“
Sven zog eine Augenbraue hoch und warf Jan einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich wieder an Marco wandte.
„Und nun das Aber...“
Marco wand sich innerlich. Stöhnend stieß er die Luft aus.
„Nein, Sven, es ist wirklich sehr aufmerksam von euch... Aber...“ Marco unterbrach sich, weil er unsicher war, ob er die Wahrheit sagen sollte. Eine Wahrheit, die ihm Sorge machte, weil es ihn ein weiteres Stück von seinen Freunden trennte. „Naja, ich habe davon geträumt. Damals. Vor dem Unfall. Jetzt aber...“ Marco zögerte, worauf Sven ihm etwas unwirsch das Wort abnahm.
„Was: jetzt aber... Was willst du damit sagen?“
„Jetzt ist das Vergangenheit!“, gab er schließlich zur Antwort und es kam so entschieden, dass wieder nur Stille darauf folgte.
„Warum?“, fragte schließlich Jan.
Marco sah ihn an. Lange und traurig, aber Jan wich dem Blick nicht aus.
„Mit einem Rollstuhl ist das scheiße.“ Das war es. Das war das, was Marco fühlte und was ihm wie eine Faust um sein Herz lag. Ein Leben im Rollstuhl war scheiße. Und so wollte er sich keine Träume mehr erfüllen.
„Weißt du was?“, fasste Sven schließlich seinen ganzen Mut zusammen. „Deine Einstellung ist scheiße!“ Und damit drehte er sich um und verließ den Raum.
Fassungslos starrte Marco ihm hinterher. Ebenso wie Jan und Dirk.
„Scheiße!“, fluchte Dirk und eilte Sven hinterher, sodass nur noch Jan vor Marcos Bett stand und auf ihn nieder blickte.
„Warum sagst du so etwas, Marco? Wir hatten uns echt Gedanken gemacht. Dreh das Buch doch mal um!“
Resigniert tat Marco, was Jan von ihm forderte, und las den Klappentext. Als er damit fertig war, taten ihm seine Worte leid. Betreten ließ er das Buch sinken.
„Es ist von einem Rollstuhlfahrer verfasst worden. Er hat die Reise selber gemacht und wir hatten uns überlegt, mit dir zusammen dort hinzufahren. Wir alle vier. Wie immer.“
Marco spürte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. Er wagte es nicht, sich Jans Blick zu stellen. Ein Schauer durchlief seine Brust und er musste schlucken.
„Danke“, brachte er schließlich heiser hervor. „Es tut mir leid...“
„Mir auch... Wir hatten uns den Besuch anders vorgestellt. Wir wollten dir einfach eine Freude machen, weißt du?“
Marco zog die Nase hoch und sah Jan nun doch in die Augen.
„Sorry... vielleicht habt ihr einfach nur einen schlechten Tag erwischt...“
„Fast glaube ich das, Marco. Hey, ich kann mir vorstellen, wie es dir geht. Wir sind alle geschockt. Aber weißt du, schau dir das Buch doch einfach in Ruhe mal an. Denk drüber nach. Wir machen die Reise auf jeden Fall. Termin offen. Und wenn du willst, fährst du mit, okay?“
Marco nickte, während er seine Tränen niederkämpfte, und Jan knuffte ihn gegen den Oberarm.
„Ich lauf mal den anderen beiden hinterher. Wir sehen uns die Tage wieder, okay? Bis dahin solltet ihr vielleicht noch mal telefonieren, Sven, Dirk und du.“
„Klar... Danke, Jan. Und sag den beiden bitte, dass es mir leid tut, ja? Bis zum nächsten Besuch arbeite ich an meiner Einstellung, versprochen...“
Diesmal lachte Jan ein ehrliches Lachen.
„Ich nehme dich beim Wort, Marco! Bis denne.“ Jan winkte Marco noch einmal zu und verließ dann ebenfalls das Zimmer.
Neuseeland. Marco hatte das Buch noch einmal hochgehoben, um es sich zu betrachten. Neuseeland im Rollstuhl. Die Vorstellung wog wie ein unüberwindlich großer Stein in Marcos Brust und drückte ihm beinahe die Luft ab. Er konnte sich schon nicht vorstellen, da draußen in der Welt der Gesunden mit einem Rollstuhl herum zu kurven, sich zwischen ihnen hindurch zu schieben, wo man grundsätzlich über ihn hinwegsehen würde - oder gar auf ihn herab. Und dann nach Neuseeland?
Mit einem Seufzer legte Marco das Buch auf den Nachtschrank.