Читать книгу Gebrochene Flügel - Daniela Hochstein - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеMarco wollte seine Augen aufschlagen, aber sie weigerten sich. Schwer wie Blei lagen sie auf seinen Augäpfeln und es kostete ihn wirklich Kraft, sie zu heben. Daher wartete er noch einen langen, müden Moment, um es dann abermals zu probieren. Diesmal gelang es ihm und ein verschwommenes Spektrum aus kalkweißem Licht und schwarzen Schatten erklärte ihm, dass er nicht zu Hause war, wie er zunächst gehofft hatte.
Er ließ die Lider wieder sinken, tat einen tiefen Atemzug, als könne dieser ihm helfen, seine Gedanken zu klären, und versuchte mühsam, seine Erinnerung zu sortieren. Ein dumpfes Pochen in seinem Schädel hielt ihn allerdings davon ab, weiter in die Tiefe vorzudringen; und hatte er einmal einen Bilderfetzen vor Augen, so zerstob er alsbald wieder in dem grauen Nebel des Vergessens.
So wurde ihm die Frage, wo er sich wohl gerade befinden mochte, letztlich von dem beißenden Geruch nach Desinfektionsmitteln beantwortet. Ein Geruch, den er noch gut aus seinem Zivildienst im Krankenhaus kannte. Allerdings lag diese Zeit nun schon über drei Jahre zurück und diesmal, soviel war ihm klar, befand er sich auf der anderen Seite der Krankenhausgesellschaft. Auf der Seite der Patienten.
Wie der Sand durch den engen Hals einer Sanduhr, rieselte diese Erkenntnis langsam in Marcos Bewusstsein, häufte sich dort auf, wog schwerer und schwerer und brachte die Waage der Ungewissheit schließlich ins Wanken. Krankenhaus, hallte es in seinem Kopf. Krankenhaus... Und plötzlich war das Bild wieder da. Scheinwerfer, ein Auto, das unaufhaltsam auf ihn zukam, ein kurzer, elektrisierender Schmerz, wahnsinnig, und dann bloß noch Dunkelheit.
Marco riss die Augen auf und dieses Mal bereitete es ihm keine Mühe mehr. Sein Herz raste. Die Luft, die er atmen wollte, reichte nicht und er geriet in Panik. Er wollte sich aufrichten, doch sein Körper verweigerte sich ihm. Es schien, als sei er in Watte gepackt und weit, weit von seinem Willen entfernt. Er wollte rufen, brachte jedoch bloß ein Flüstern zu Stande und selbst das erforderte eine ungeheure Anstrengung. Die Luft entwich seinen Lungen, doch sie kehrte nicht zurück und Marco fürchtete, ersticken zu müssen. Schwärze zog herauf und legte sich besänftigend über seine Sinne. Marco fühlte eine Hand, die sich auf seinen Oberarm legte, kam aber nicht mehr dazu, nach ihrem Besitzer zu schauen.
Toni konnte nur noch dabei zusehen, wie sein kleiner Bruder die Augen schloss. Die ganze Zeit hatte er neben Marcos Bett ausgeharrt, um bei ihm zu sein, wenn er erwachte. Zuletzt aber musste er eingenickt sein, sodass er im entscheidenden Moment zu spät reagierte. Hilflos strich er Marco nun durch das Haar, so wie damals, als Vater gestorben war und er ihn getröstet hatte; ihn, Marco, der noch zu klein gewesen war, um zu verstehen, was Siechtum und Tod eigentlich bedeutete, während er, Toni, mit seinen dreizehn Jahren die Rolle des Vaters übernahm, weil die Mutter zu tief in ihrer Trauer gefangen war. Inzwischen war Marco zwar erwachsen, aber die väterlichen Gefühle ihm gegenüber hatte Toni nie mehr ganz ablegen können, selbst wenn er sich bemühte, es Marco nicht spüren zu lassen, weil er wusste, dass es ihn ärgerte. Jetzt allerdings, jetzt, wo Marco bewusstlos und versehrt vor ihm lag, jetzt wogen diese Gefühle plötzlich wieder schwer wie Steine in seinem Herzen.
Die Ärzte hatten Toni erklärt, dass Marco unter Schmerz- und Beruhigungsmitteln stand, damit er den anfänglichen körperlichen Schock erst einmal überwinden konnte, ohne dabei auch noch mit seinen seelischen Nöten kämpfen zu müssen. Er würde noch früh genug erwachen und die Tragweite seiner Verletzung begreifen müssen. Bis dahin aber, so hatten sie Toni geraten, sollte er nach Hause gehen, um sich auszuschlafen.
Doch er blieb. Seit zwei Tagen lebte er nun schon hier in der Klinik an der Seite seines Bruders, verschwand bloß kurz, um sich zu Hause frisch zu machen, und schlief nachts in einem Bett, das die Schwestern ihm großzügiger Weise in das Krankenzimmer geschoben hatten, obwohl das auf der Intensivstation nicht erlaubt war. Aber glücklicherweise wurden hier viele Augen zugedrückt und Toni war dankbar dafür.
Mittlerweile war die Dosis der Medikamente gesenkt worden und Marcos Schlaf wurde bereits unruhiger, sodass Toni nun erst recht nicht von seinem Bett weichen wollte. Sicher, man hatte ihm gesagt, dass sein Bruder ja nicht im Sterben lag und es ihm als dreiundzwanzigjährigen Mann durchaus zuzumuten war, alleine aufzuwachen. Er sei hier in guten Händen und Toni würde sofort informiert werden, wenn es soweit war. Aber für Toni kam das nicht in Frage. Marco würde ihn brauchen und nicht zuletzt gab es noch einen weiteren Grund, bei ihm zu bleiben.
Der Grund war ihre Mutter, die mit der Situation vollkommen überfordert war. Vaters überraschend früher Schlaganfall damals und die darauf folgenden Jahre der Pflege hatten ihre Kraft bereits weitestgehend aufgezehrt, und Marcos Unfall raubte ihr nun den letzten, kläglichen Rest.
Als sie von dem Unfall erfuhr, hatte sie alles stehen und liegen gelassen und war gemeinsam mit Toni ins Krankenhaus geeilt, bloß um ihren Sohn dort bewusstlos im Bett liegen zu sehen und neben ihm zusammenzubrechen. Sie weinte, klagte, fragte voller Verzweiflung nach dem Warum, strich mit zittriger Hand über Marcos Haar, über seine Wange und war nicht mehr zu beruhigen. Toni hatte Mühe, sie von Marcos Bett zu lösen und aus dem Zimmer zu ziehen, damit sie sich draußen wieder fangen konnte. Er brachte sie nach Hause, blieb noch lange bei ihr und versuchte sie zu trösten, hörte ihren Klagen zu und sah, wie die Tränen irgendwann versiegten, ihre Stimme immer leiser wurde, bis sie schließlich einem Schweigen wich und einer eigenartig schwelenden Wut die Oberhand überließ.
Fast gewann Toni den Eindruck, seine Mutter fühle sich durch Marcos Unfall persönlich gekränkt und nehme ihm übel, dass nun er ihr so großen Kummer bereitete. Dementsprechend sah Toni es als seine Aufgabe, seine Mutter so viel wie möglich zu entlasten, und dazu gehörte, dass er neben Marco wachte, damit sie nicht das Gefühl hatte, es selber tun zu müssen; und – das begriff Toni allerdings erst ein wenig später - damit sie nicht täglich Zeuge werden musste, wie ihr Sohn von einem jungen, sportlichen Mann zu einem unselbständigen Häuflein Elend ohne die geringste Privatsphäre degradiert wurde. Von dieser Tatsache aber wurde auch Toni kalt überrascht, sodass er daraufhin stets die Flucht ergriff, wenn das Pflegepersonal herannahte, und erleichtert darüber war, dass Marco noch nicht viel von all dem mitbekam.
Nachdem Toni eingesehen hatte, dass Marco erst einmal wieder in sein Dämmertal zurückgekehrt war, löste er sich seufzend von dem Bett und nahm seinen Stammplatz auf dem Besuchersessel ein. Er griff sich die Gerichtsunterlagen, um sie für den kommenden Dienstag ein weiteres Mal durchzugehen, wobei er sich kaum darauf konzentrieren konnte und sich ernsthaft fragte, wie er diesen Termin für die Kanzlei wahrnehmen sollte. Aber es blieben ihm ja noch zwei Tage bis dahin. Und so war er zumindest ein wenig beschäftigt.
Diesmal waren es nur wenige Stunden, die Marco schlief, obgleich er das natürlich nicht wusste. Ihm kam es vor, als tauche er nach Jahren aus einem zähflüssigen See voll verwirrender Bilder auf und sehe endlich wieder etwas, das konkret und fassbar war. Die Watte hatte sich aus seinem Kopf und Körper zurückgezogen und Marco nutzte die Klarheit, um dort noch einmal anzusetzen, wo er zuletzt das Bewusstsein verloren hatte.
Er sog den Atem ein und war erleichtert, dass es ihm nun problemlos gelang. Dann wandte er den Kopf zu jener Seite, wo er das letzte Mal die Hand an seinem Arm gespürt hatte, und fand Toni auf dem Sessel, vertieft in sein Skript. Er wollte ihn ansprechen, doch lenkte ihn plötzlich etwas davon ab. Es war der banale Wunsch, sein linkes Bein anzuziehen, um sich damit abzustoßen und ein wenig auf die Seite kippen zu lassen, sodass er Toni besser hätte sehen können.
Der Gedanke war da, aber das Bein nicht.
Eiskalte Panik zuckte durch Marcos Brust. Unvermittelt begann sein Herz wie wild gegen die Rippen zu schlagen, wieder drohte der Atem ihm die Luft zu versagen. Verzweifelt versuchte Marco, sein Bein zu bewegen. Erst das eine, dann das andere, doch da war nichts. Sein Wille versickerte ungehört.
Das kann doch nicht sein!, dachte er. Da muss doch etwas passieren! Immer wieder sandte er seinen Wunsch aus, erst konzentriert, dann hektisch und zuletzt rasend vor Angst. Doch er kam nicht an.
„Toni“, stieß er aus, als gelte es, nach einem rettenden Anker zu greifen, bevor er in den Untiefen der Furcht ertrank, und Toni reagierte sofort. Erschrocken warf er seine Unterlagen beiseite, sprang auf und eilte zu seinem Bruder.
„Hey Marco, wie geht es dir?“, fragte er reflexartig, bereute diese Frage allerdings im gleichen Moment, konnte er doch eindeutig die nackte Angst in Marcos Augen erkennen.
„Toni, wo sind meine Beine? Ich kann sie nicht fühlen. Sind sie... haben sie sie...“
„Sie sind da, wo sie immer waren, Marco. Keine Angst, sie sind da!“ Toni griff nach Marcos Hand, die bis dahin nervös über die Bettdecke getastet hatte, und hielt sie fest. Im Gegenzug hob Marco mühsam den Kopf, um einen Blick Richtung Füße zu werfen. Doch sie waren zugedeckt und die zwei sanften Hügel, unter denen sie zu erahnen waren, schienen ihn nicht zu beruhigen.
„Aber ich kann sie nicht fühlen! Warum kann ich sie nicht fühlen, Toni? Was ist denn mit mir passiert?“ Hastig zog Marco seine Hand aus Tonis Griff, um erneut nach seinen Beinen zu tasten. Schließlich packte er seine Decke und riss sie hoch, um darunter zu schauen. Toni sah, wie er versuchte, sich aufzurichten, aber es wollte ihm nicht gelingen. Behutsam legte er seine Hand auf Marcos Schulter und drückte ihn zurück auf das Bett. Marco wollte Widerstand leisten, bot seine ganze Kraft auf, doch er war zu schwach. Flehend sah er Toni ins Gesicht.
„Ich will sie sehen, Toni. Ich will meine Beine sehen! Sofort!“
„Marco, beruhige dich“, redete Toni mit gesenkter Stimme auf ihn ein, ohne ihn dabei loszulassen, und Marco kam sich vor, wie ein kleines Kind, das man nicht ernst nahm.
Unwirsch fegte er Tonis Hand von seiner Schulter.
„Lass mich los, Toni! Sag mir doch endlich, was passiert ist! Ich will einen Arzt sprechen. Ich will wissen, wann das aufhört. Wann kann ich sie wieder spüren?“
Marco fühlte Zorn in sich aufsteigen. Panischen Zorn, gepaart mit einer Ahnung, der er ganz und gar nicht weiter folgen wollte. Er fühlte sich plötzlich wie ein verwundetes Tier, das in die Ecke gedrängt wurde. Jede Berührung seines Bruders löste den unbändigen Impuls in ihm aus, danach zu schlagen und ihn anzuschreien, als könne es ihm irgendwie helfen, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, in die sein Körper ihn gerade zwang. Seine Lungen bebten, sodass sein Atem zitterte, und sein Herz raste, als wolle es ihm den Brustkorb sprengen.
Was wäre, wenn er seine Beine nie wieder fühlen können würde? Was wäre dann? Konnte ihm etwas Derartiges widerfahren? Nein!, schrie es in Marco. Nein, das ist nicht möglich! Nicht bei ihm! Bei den anderen, aber doch nicht bei ihm!
Marco zog weiter an seiner Decke. Er hatte das Gefühl, seine Beine hätten sich bewegt. Ein Zucken vielleicht. Ganz bestimmt! Er wollte es sehen, wollte die Bestätigung, dass sie da waren und dass sie sich bewegten, wenn er das wollte. Er würde sie bewegen können, ganz sicher, wenn er sie nur dabei sehen konnte. Dann würde es klappen!
Tränen verschleierten seinen Blick, während er unermüdlich die Decke fortzuziehen versuchte.
„Marco...“, brach schließlich Tonis Stimme in Marcos Verzweiflung, begleitet von seiner Hand, die er seinem kleinen Bruder auf den rechten Unterarm legte, um ihn endlich zu stoppen.
Mit erregt auf- und absteigender Brust hielt Marco inne und sah Toni in die Augen.
„Marco, du hattest einen Unfall. Ein Auto hat dich angefahren. Dabei hast du dir... Du hast dir die Wirbelsäule gebrochen...“
Marco blieb stumm, sein Blick bloß starr auf Toni gerichtet.
„Die Ärzte sagen, dass du... Naja, dass das Rückenmark verletzt ist.“
Toni spürte plötzlich eine Trockenheit in seinem Mund, die ihm das Sprechen unmöglich machte. Er konnte es nicht. Er konnte seinem Bruder einfach nicht sagen, dass die Ärzte jegliche Hoffnung auf Genesung ausgeschlossen hatten. Er konnte ihm nicht sagen, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde.
Aber er musste es auch nicht, denn Marco nickte bloß. Beinahe schien es, als ginge ihn diese Information auf einmal gar nichts mehr an. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte einfach ins Leere.
Marco fiel. Er stürzte rücklings in einen gähnenden, schwarzen Abgrund, in den Tonis Worte ihn soeben gestoßen hatten, haltlos, mit einem Schlag seines ganzen Lebens beraubt. Er war einfach entkoppelt, unfähig, seine Gedanken mit seinem Körper zu verbinden, reglos, sprachlos.
Rückenmark verletzt... Marco kannte das andere Wort dafür: Gelähmt...! Das sollte es nun sein? Das sollte er nun sein? Von einem Tag auf den anderen? Einfach so? Mal eben zum Krüppel geworden?
Übelkeit kroch ihm die Kehle hinauf und es kostete ihn Mühe, sie wieder herunter zu schlucken, weil die Zunge an seinem Gaumen festklebte.
Marco versuchte immer wieder, diese Information zu begreifen, sie mit dem Nichts unterhalb seines Bauches zu verbinden, aber er vermochte es nicht. Es war unmöglich! Nein, so einfach konnte das nicht sein! Vor wenigen Tagen war er doch noch gelaufen. Er wusste genau, wie sich das anfühlte, so einfach, so normal, so gewöhnlich. Es war schlicht weg absurd, dass er das nun nicht mehr können sollte!
Plötzlich war Marco überzeugt, ja ganz sicher, dass dieses Horrorszenario bald vorbei sein würde. Hab Geduld, sagte er sich, in ein paar Wochen wirst du hier rausgehen und es als die furchtbarste Erinnerung deines Lebens abhaken. Marco wusste, dass es so kommen würde. Anders konnte es gar nicht sein, gleich, was die Ärzte sagen würden. Ganz gleich. Sie kannten Marco nicht. Doch er, Marco, er wusste, dass er bald wieder laufen würde.
Er nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich wieder Toni zu. Müde sah sein Bruder aus. Erschöpft. Und in seinen Augen stand Mitleid. Marco fluchte innerlich, denn das Mitleid galt unmissverständlich ihm. Mitleid... Wie er diesen Ausdruck auf einmal hasste! Er hasste ihn, weil er ihm das Gefühl gab, sein Leben sei plötzlich nichts mehr wert, das Gefühl, als sei das Urteil nun endgültig, ein Gefühl, dass ihm jede Hoffnung zu rauben drohte. Seine kleine, mühsam an sich gerissene, mit aller Kraft festgehaltene Hoffnung.
Marco wollte nicht, dass Toni ihn so ansah! Er ertrug es nicht.
„Du siehst aus, als könntest du Schlaf gebrauchen“, sagte er schließlich, bemüht, nach außen die Fassung zu wahren, und stellte erleichtert fest, dass er mit diesen Worten soeben Tonis Mitleid in Überraschung verwandelt hatte. Ein flüchtiges Lächeln glitt über Tonis Züge und er nickte.
„Warum gehst du nicht nach Hause und legst dich ins Bett?“
Toni schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Er wollte seine Hand ausstrecken, um Marco durch das Haar zu streichen, aber Marcos mahnender Blick hielt ihn zurück.
„Später“, antwortete er stattdessen.
„Nein, Toni, ich glaube, es täte dir gut, jetzt zu gehen.“
Irritiert blickte Toni auf seinen Bruder herunter, der plötzlich eine eigentümliche Entschlossenheit in seinen Zügen trug. Sollte dies etwa eine Aufforderung sein?
„Hilf mir nur noch kurz, die Decke beiseite zu nehmen, damit ich meine Beine endlich richtig sehen kann. Dann kannst du gehen.“
Konsterniert stand Toni da, während Marco sich wieder umständlich an seiner Decke zu schaffen machte. Schließlich griff er selbst danach, schlug sie zur Seite und half Marco, den Kopf anzuheben.
„Nein, ich will sitzen, Toni“, protestierte er, umklammerte Tonis Hand plötzlich ganz fest und wollte sich daran hochziehen, doch dieser hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück.
„Die Ärzte haben gesagt, du sollst noch für zwei Wochen flach liegen bleiben, bis die Wirbelsäule belastbar ist.“
Wütend ließ Marco Tonis Hand wieder los und funkelte ihn an.
„Du machst wohl immer nur, was man dir von oben vorschreibt, oder? Es ist mir egal, was die Ärzte sagen! Ich will jetzt sitzen!“
Toni bedachte seinen Bruder mit einem unnachgiebigen Blick und schüttelte den Kopf, sodass dieser gezwungen war, sich wohl oder übel mit der Entscheidung der Ärzte abzufinden.
Grimmig betrachtete Marco somit das, was er aus seiner bescheidenen Position heraus erkennen konnte und der Anblick tat ihm weh. Leblos lagen seine Beine da, das linke von oben bis unten in einen Gips gehüllt und das rechte mit einem Schaumstoffpolster um die Ferse versehen, um Druckstellen zu verhindern, wie er noch aus der Pflege während des Zivildienstes wusste. Allerdings hatten da die alten, bettlägerigen Patienten so etwas getragen...
Marcos Magen krampfte sich zu einem kalten Stein zusammen und er wollte einfach nicht glauben, was er sah. Oder vielmehr, er wollte nicht glauben, dass das, was er sah, seine Beine waren. Seine Beine... Abermals versuchte er, sie zu bewegen, so wie er es seit jeher getan hatte, so wie er es seit jeher kannte. Aber es tat sich nichts. Sein Befehl, sein sehnlichster Wunsch verpuffte in dem Vakuum seines gelähmten Köpers. Immer wieder sandte Marco den Impuls aus und hoffte inständig, er möge nun endlich sein Ziel erreichen. Er lauschte in sich hinein, auf der Suche nach einer Antwort, und sei sie noch so leise, doch es herrschte Stille. Bloß die Verzweiflung hallte zurück und nistete sich in Marcos Herzen ein. Mühsam schluckte er gegen den Knoten an, der ihm die Kehle zuschnürte, und versuchte, seine Gefühle nicht zu beachten, ihnen irgendwie zu entkommen. Sonst, so dachte er, würden sie ihn gleich wahnsinnig machen.
„Warum ist das linke Bein geschient?“, fragte er schließlich mechanisch und hörte, wie Toni scharf den Atem einsog. Alarmiert sah er zu seinem Bruder auf.
„Es war gebrochen“, erhielt er darauf zur Antwort, konnte aber einen Ton dabei mitschwingen hören, der noch etwas anderes erzählte.
„Okay...? Und?“
Toni wurde etwas fahrig in seinen Gesten.
„Schwere Trümmerfraktur ... so nannten die Ärzte es.“
Toni verschwieg, dass er die Ärzte nur mit Mühe davon hatte abhalten können, das Bein zu amputieren. Sie hatten es damit begründet, dass Marco es ohnehin nie wieder brauchen würde und der Bruch zu kompliziert war. Die Risiken einer weiteren Operation, die unweigerlich lange gedauert hätte, wollten sie Marco nicht zumuten. Zumal ihr Erfolg auch zweifelhaft war. Aber Toni hatte darauf bestanden. Er wusste, dass Marco es ihm nie verziehen hätte, wenn er nicht darum gekämpft hätte. Und er hatte recht damit gehabt.
„Sie haben es mit Platten stabilisiert. Zwei Wochen muss der Gips bleiben, dann ist es wieder so gut wie neu.“ Toni lächelte und war erleichtert, dass seine Aussage Marco zufrieden zu stellen schien. Mit einem Nicken wandte dieser seinen Blick wieder auf sein eingegipstes Bein und blieb zuletzt an seinen Zehen hängen.
„Eigentlich müsste ich jetzt mit ihnen wackeln...“, stellte er benommen fest. Dann schwieg er, die Augen weiterhin auf seine Füße gerichtet. Toni fragte sich, ob Marco es tatsächlich gerade versuchte, aber die Zehen blieben still. Nicht einmal ein leises Zucken war zu sehen und Toni konnte sich nicht gegen das unangenehme Ziehen in seiner Magengegend wehren, das diesen Anblick begleitete.
„Danke“, durchbrach Marco schließlich den Moment der Beklemmung, der sich gerade wie eine schwere Decke über die beiden Brüder legen wollte. Dabei achtete er jedoch sehr genau darauf, Toni bloß auf die Lippen zu schauen. Nicht in die Augen, wo er den Schmerz hätte lesen können, den sein Bruder für ihn fühlte. Und um irgendetwas zu tun, zog er an seiner Bettdecke, um sie wieder über das zu schlagen, was er nicht mehr sehen wollte. Doch er scheiterte. Notgedrungen musste er zusehen, wie Toni daraufhin selbst Hand anlegte und seine tauben Beine endlich unsichtbar wurden.
Mit einem Schraubstock um die Brust, der bei jedem Atemzug enger wurde, wartete Marco darauf, dass Toni gehen würde, und als dieser zögerte, nickte er ihm aufmunternd zu. Sogar ein Lächeln rang er sich ab. Ein Lächeln, was sagen wollte, dass alles gut war und Toni sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ein Lächeln, wie Marco es seinem Bruder und seiner Mutter schon oft geschenkt hatte, weil sie stets so sehr danach verlangt hatten in ihrem Leben voller Lasten. Dafür hatte er selbst in dem Luxus der Unbeschwertheit groß werden dürfen. Unbeschwertheit, erkämpft mit einem Lächeln und vielen verschwiegenen Gefühlen. Jetzt machte Marco sich diese Errungenschaft von damals wieder zu nutze.
„Es ist wirklich okay für dich, wenn ich jetzt gehe?“, versicherte Toni sich noch einmal und als Marco abermals nickte, fühlte er sich erleichtert. Das schlechte Gewissen wollte zwar noch nicht gänzlich aus seinen Gedanken weichen, aber zuletzt rang er sich dazu durch, Marcos Aufforderung genüge zu tun. Er tätschelte seinem kleinen Bruder zum Abschied den Arm. Dann ging er zu dem Sessel, hob das Skript auf, steckte es in seine Aktentasche und wandte sich zum Gehen. An der Tür blickte er noch einmal zurück und sah Marco weiterhin lächeln. Zwar wirkte es ein wenig eingefroren, aber bevor Toni daran Anstoß nehmen konnte, winkte Marco ihm zu.
„Bis morgen.“
Toni nickte. „Bis morgen, Marco. Wenn etwas ist...“
„Ja, ich weiß. Ich komm schon klar.“
Abermals nickte Toni. Dann ging er endlich.
Marco hielt gerade eben so lange durch, bis der Rücken seines Bruders verschwunden war, dann brach die Welt über ihm zusammen. Er konnte es gar nicht verhindern. Die Tränen bahnten sich einfach ihren Weg, rannen ihm die Wangen herunter und raubten ihm die Luft zum Atmen. Marco versuchte, sie fortzuwischen, doch es kamen nur noch mehr. Schließlich vergrub er sein Gesicht schluchzend in beiden Händen und ließ den Tränen ihren Lauf.