Читать книгу Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - Страница 11
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Es war einer dieser Tage, an denen alles schief zu laufen schien. Kathi hatte das Waschpulver als neues Spielzeug entdeckt und es in der halben Küche verteilt. Sie saß mitten in diesem Chaos und Boomer lag hechelnd neben ihr. Kathi hatte sein langes Fell eingepudert und nun besaß ich keinen braunen, sondern einen schneeweißen Hund. Gottlob hatte sie nichts davon gegessen. Zu allem Überfluss klingelte es just in diesem Augenblick an der Tür und ich sah entsetzt auf die Küchenuhr.
„Ingrid“, entfuhr es mir. Ich hob Kathi auf meine Hüfte, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten konnte und ging zur Tür, dicht gefolgt von Boomer, der eine weiße Waschpulverspur hinter sich verteilte.
„Hallo“, schallte es mir fröhlich entgegen. Sie sah von mir zu Kathi und lachte herzhaft. „Na, das sieht mir so aus, als hättest du viel Spaß gehabt.“ Sie kitzelte Kathi mit dem Zeigefinger am Bauch, was ihr ein Kichern entlockte.
Ich bat Ingrid herein und lächelte entschuldigend.
Sie zog ihre Jacke aus und legte sie zusammen mit einer Tüte auf einen der Stühle, dann wandte sie sich um und fragte: „Hast du einen Besen für mich?“
Ich war überrascht. „Das brauchst du nicht. Du kannst dich setzen und ich mache uns Kaffee.“
Sie schnaubte. „Ich habe selbst ein Kind groß gezogen, also mach dir keine Gedanken. Außerdem bin ich gekommen, um mit dir gemeinsam einen Kaffee zu trinken und nicht, damit du mir dabei zusiehst. Also?“ Sie zog die Brauen hoch und schien keinen Widerspruch zu dulden.
Ich holte ihr einen Besen, dann zog ich Kathi in Windeseile um. Anschließend schnappte ich mir den Hund und sperrte ihn kurzerhand raus auf die Terrasse. Um sein Bad würde ich mich später kümmern.
Als ich kaum zehn Minuten später mit Kathi an der Hand in unsere ehemalige Diele trat, hatte Ingrid bereits gefegt, sah mich an und lächelte.
„Danke“, sagte ich verlegen. „Das soll jetzt aber nicht bedeuten, dass du dir in Zukunft deinen Kaffee erst verdienen musst.“
„Ach, wenn’s weiter nichts ist“, winkte sie ab.
Ich ging vor Kathi in die Hocke. „Mama macht jetzt Kaffee. Willst du etwas spielen?“
Meine sonst Fremden gegenüber recht scheue Tochter überraschte mich. „Du spielen“, sagte sie, sah zu Ingrid und streckte ihre kleinen Finger nach ihr aus.
Ingrid schmunzelte, reichte ihr die Hand und sagte: „Dann zeig mir mal, was du spielen möchtest.“
Kathi führte sie zur Kinderzimmertür und mir blieb nur, ungläubig zuzusehen, wie sie beide darin verschwanden.
Ich schüttelte leicht den Kopf, dann zuckte ich mit den Schultern und ging in die Küche. Nachdem ich den Rest von Kathis Chaos beseitigt hatte, stellte ich das Waschpulver hoch und sann über Ingrid nach. Eine nette Frau, die offensichtlich gut mit Kindern umgehen konnte. Kathi schien das zu spüren. Ich rief mir die Worte meiner Mutter ins Gedächtnis, die einst zu mir sagte: „Wenn du nicht sicher bist, was du von einem Menschen halten sollst, dann beobachte, wie ein kleines Kind auf ihn reagiert. Sie haben ein feines Gespür für so was. Leider verliert sich dieser natürliche Schutz mit dem Alter und wir müssen erst wieder lernen, wem man Vertrauen schenken kann und wem nicht.“
Gedankenverloren bereitete ich unseren Kaffee und deckte den Tisch in der Halle. Neugierig musterte ich die Tüte, die Ingrid auf den Stuhl gelegt hatte und ich konnte es kaum erwarten, zu sehen was sich darin verbarg. Ich widerstand der Versuchung einen winzigen Blick zu wagen, ging in die Küche, leerte Boomers halbvollen Fressnapf und stellte ihm frisches Futter hin. Dann besorgte ich noch ein Getränk für Kathi und machte mich auf, um nach ihr und meinem Gast zu sehen. Vor der Tür lauschte ich den Stimmen, die gedämpft aus dem Inneren des Kinderzimmers durch die Tür drangen. Kathi sprach mit sehr hoher Stimme, so wie sie es immer tat, wenn sie mit ihrer Puppe spielte. „Du nicht gefährlich.“
Ingrid antwortete mit leicht verstelltem Tonfall: „Oh doch.“ Ihre Stimme klang wie ein Knurren als sie sprach: „Ich bin böse. Wenn du mich siehst, dann musst du weglaufen, sonst krieg ich dich.“
„Kathi aufpassen“, sagte meine Kleine.
„Ja, sonst fang ich dich und nehme dich mit. Du musst dich schnell verstecken.“
Ich hörte, wie sie mit dunkler Stimme grollte und Kathi vor Begeisterung quietschte, dann öffnete ich die Tür. Mir bot sich eine wilde Jagd. Kathi lief mit ihrer Lieblingspuppe weg, während Ingrid mit einer anderen folgte. Beide lachten und sahen zu mir auf.
Ich schmunzelte. „Der Kaffee ist fertig. Kathi, magst du was trinken?“
„Kathi kinken.“
„Gut, dann komm mal mit.“ Wir gingen in die Halle und setzten uns.
Während Kathi in hastigen Schlucken trank, zog Ingrid einen Lutscher aus ihrer Jackentasche, ohne dass Kathi ihn sehen konnte und fragte mich: „Darf die Kleine?“
Ich nickte lächelnd. „Nur zu.“
Ingrid wandte sich an meine Tochter. „Schau mal, Kathi. Möchtest du einen Lutscher haben?“
Die Frage war absolut überflüssig. Natürlich wollte sie. Ingrid wickelte ihn aus dem Papier und Kathi nahm ihn lachend entgegen. Dann verschwand sie wieder in ihr Zimmer. Ich wusste, dass sie sich weiter mit ihren Puppen beschäftigen würde, denn das Spiel hatte ihr ganz offensichtlich gefallen. „Du magst Kinder?“ Das war eigentlich mehr eine Feststellung denn eine Frage und ich beobachtete, wie Ingrid an ihrer Tasse nippte und dann nickte.
„Ja, ich habe selbst eine Tochter. Aber sie ist mittlerweile schon eine junge Frau.“ Ihr Gesicht schien sich zu umwölken. „Leider ist es bei einem Kind geblieben. Ich hätte gern noch einen ganzen Stall voll gehabt, aber es war uns nicht vergönnt.“ Sie starrte versonnen in ihre Tasse, dann blickte sie zu mir auf und ihre Fröhlichkeit kehrte zurück. „Du hast zwei Kinder?“
„Ja, Leon und Kathi. Mein Sohn ist allerdings irgendwo draußen und tobt mit den Nachbarkindern herum.“
„Es ist schön, welche Freiheiten die Kinder hier auf dem Land genießen“, sagte sie. „Das ist auch der Grund, warum wir hier niemals fort wollten.“
„Du lebst schon lange hier?“
„Seit meiner Geburt. Die Familie meines Mannes stammt aus dieser Bauernschaft und meine aus der Gegend. Allerdings kamen meine Vorfahren aus Irland.“ Sie griff nach der Tüte neben sich und öffnete sie mit den Worten: „Das bringt mich zu dem, was ich dir mitgebracht habe. Du bist doch schon ganz neugierig.“
Ich verdrehte die Augen und lachte. „Wie kommst du darauf?“
Sie stimmte in mein Lachen ein. „Weil du ständig zu meiner Tüte schielst.“
Gespannt beobachtete ich, wie sie ein grünes Tuch daraus hervorzog. Sie breitete es aus und da erkannte ich was es war. „Eine irische Flagge“, sagte ich verblüfft.
„Ich habe gedacht, du magst doch alte Dinge und diese Fahne ist sehr alt.“
„Du meine Güte, die wirst du mir doch nicht allen Ernstes geben wollen?“
„Warum nicht? Bei mir liegt sie nur auf dem Dachboden herum und gammelt vor sich hin. Ich brauche sie nicht und es hängen auch keine so sentimentalen Erinnerungen daran, als dass ich sie unbedingt behalten müsste. Im Gegenteil. Ich habe schon des Öfteren daran gedacht sie wegzugeben und wenn sie dir gefällt, gehört sie dir.“
Ich fuhr vorsichtig mit der flachen Hand über den schweren Samt. In der Mitte befand sich eine feine Stickerei. Goldenes Garn war zu einer irischen Harfe verarbeitet worden. „Sie ist wunderschön, aber sicher sehr wertvoll. Ich kann sie unmöglich annehmen.“
„Deine Bescheidenheit ist unnötig. Wenn du sie nicht nimmst, verschenke ich sie anderweitig.“ Ingrid stand auf, durchmaß die Halle, bis sie vor der alten Truhe stand und raffte die Fahne kunstvoll zusammen. Dann hielt sie sie hoch an die Wand und sah mich fragend an.
Eines stand fest. Diese Frau tat was sie wollte und erstickte jeden Widerstand im Keim. Ich schüttelte leicht den Kopf. „Keine Frage, es sieht toll aus.“
„Du nimmst sie?“
„Wie könnte ich mich da noch wehren?“
Es zuckte amüsiert um ihre Mundwinkel. „Eine gute Entscheidung.“
Sie behielt die Fahne in der Hand und ich fragte verdutzt: „Jetzt sofort?“
„Aber sicher, sonst überlegst du es dir womöglich noch anders.“
„Dann werde ich wohl mal etwas zum Aufhängen holen.“ In der Tenne fand ich Hammer und Nägel, doch es erschien mir wie ein Frevel, die Fahne durch den Samt an die Wand zu nageln. Mir fiel noch eine Flasche goldener Sprühfarbe in die Hand und ich hatte die rettende Idee. In der Küche holte ich dicke Wolle, die ich in Windeseile zu zwei Kordeln drehte und anschließend vergoldete. Kaum eine Viertelstunde später hatte ich die Goldkordeln um die oberen beiden Ecken der Fahne geknotet und diese dann an zwei Nägeln über die Truhe gehängt. Wir traten einen Schritt zurück und bewunderten unser Werk.
„Du hast gesagt, deine Vorfahren kamen aus Irland? Stammt die Fahne noch aus dieser Zeit?“
„Einer meiner Vorfahren hat sie von der Insel mitgebracht.“ Sie musterte mich interessiert. „Du scheinst dich wirklich sehr für diese alten verstaubten Dinge zu begeistern.“
„Oh, nicht nur“, sagte ich. „Ich liebe Geschichte und damit meine ich vergangene Ereignisse, die nicht in den Geschichtsbüchern verfälscht wurden. Sicher ist es interessant zu wissen, welcher Feldherr, für welchen König, wann, in welcher Schlacht gewann oder verlor und wie es dazu kam, aber daraus erfahre ich fast nichts über die Menschen, die unter diesem Krieg zu leiden hatten. Ich möchte wissen, wie die einfachen Leute früher gelebt haben. Ich habe auch einen Stammbaum meiner Familie. Leider ist es sehr schwer die Namen und Daten mit Leben zu füllen. Alte Gegenstände jagen mir Ehrfurcht ein, wenn ich mir vorstelle, wie Menschen, die früher gelebt, gefühlt und gelacht haben diese benutzten.“
Ingrid folgte meinen Worten aufmerksam. Also sagte ich: „Für manche Menschen ist es seltsam, aber wenn ich jetzt meine Hand auf diese Truhe lege …“ Sie sah mir zu, wie ich die Hand ausstreckte und sie auf dem Deckel ruhen ließ, während ich weitersprach: „… dann stelle ich mir vor, wie jemand, der längst verstorben ist, dasselbe getan haben könnte. Genau an dieser Stelle lag vielleicht auch seine oder ihre Hand. Ich berühre vielleicht eine winzige Spur dessen, was dieser Mensch zurückgelassen hat, das vielleicht ins Holz eingezogen ist … Ach, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Jemand hat mal gesagt, dass jeder Mensch, der auf dieser Erde einmal gelebt hat, irgendetwas von sich zurücklässt. Manche behaupten, wir leben in unseren Kindern weiter, aber das ist sicher nicht alles. Irgendein Handwerker hat diese Truhe gebaut, oder die Fahne genäht. Er hat etwas dagelassen und ich habe heute noch Wertschätzung für ein Möbelstück, das dieser Mann einst gefertigt hat.“
Ich sann über meine Worte nach. „Es gibt Menschen, die sagen, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Raum existieren können. Wenn ich mir das vorstelle, dann sehe ich an der Stelle hier noch eine andere Hand liegen, so als würde man die Zeit verschieben.“ Ich hielt inne. „Du musst mich jetzt für völlig verrückt halten.“
Ingrid lachte. „Nein, ich verstehe, was du mir sagen willst. Ich finde deine Ansicht sehr interessant und jetzt bin ich mir auch sicher, dass es absolut richtig war, dir diese Fahne zu geben. Du weißt sie zu schätzen. Um ehrlich zu sein, habe ich mir nie sonderlich viel daraus gemacht.“ Sie verzog ihre Lippen zu einem Grinsen. „Da bist du hier ja genau richtig.“
Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte und das schien sie mir vom Gesicht abzulesen.
„Dieser Hof ist soweit ich weiß einer der ältesten hier in der Gegend.“
„Der Makler hat so was erwähnt“, sagte ich. „Ich habe auch einige Antiquitäten gefunden und wollte eine Hofchronik erstellen, um sie den Menschen, die hier lebten zuordnen zu können.“ Ich wies zum Kamin. „Da hängt eine Platte auf der Namen stehen. Ich habe im Internet recherchiert und das Heiratsdatum von ihnen im Kirchenbuch gefunden.“
„Was für Namen?“
Sie folgte mir zum Kamin und ich zeigte ihr die Platte.
„Das ist erstaunlich.“
„Was meinst du?“
Sie schien angestrengt nachzudenken. Dann sagte sie: „Anna Lüttke-Herzog, den Namen habe ich schon mal irgendwo gehört, aber ich weiß jetzt nicht genau, wo ich ihn einordnen soll.“
„Vielleicht hat mal jemand erwähnt, dass diese Leute hier lebten?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, da bin ich mir sicher.“ Sie sah sich die Platte genauer an und fuhr mit den Fingern über die erhabene Jahreszahl. „1734. Das ist sehr lange her.“ Sie legte ihre Stirn in Falten. „Es fällt mir bestimmt bald wieder ein“, sagte sie und richtete sich auf. „Ein Schluck Ginseng und es ist wieder da“, witzelte sie. „Aber das hier ist auch kein Nachname im eigentlichen Sinne.“
„Nicht?“
„Hier im Münsterland nicht. Herzog ist der Hofname. Lüttke ist im Prinzip die Bezeichnung für einen abgespaltenen kleinen Teil-Hof. Der Name Johann Lüttke-Herzog bedeutet also Johann, der Pächter vom kleinen Herzog Hof. Der tatsächliche Nachname war sicher ein anderer. Das weiß ich, weil die Familie meines Mannes zwar Jansen heißt, der Hofname aber Kelling lautet. Karl hat mir mal erzählt, dass seine Familie auch nach dem Hof genannt wurde und nicht beim Nachnamen. Das war hier früher so üblich.“
Das war allerdings eine sehr interessante Information. „Das könnte der Grund sein, warum ich zu den beiden keine Kinder gefunden habe.“
„Keine Kinder?“ Ingrids Fröhlichkeit war verflogen und ein Schatten legte sich auf ihre Züge. Sie schien zu zögern, als wenn sie irgendetwas sagen wollte, doch dann meinte sie schlicht: „Ja, das wird es sein.“ Ihr Lächeln kehrte zurück, doch es erreichte ihre Augen nicht. Sie sah auf die Uhr. „So spät schon?“
Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl und ich hatte das merkwürdige Gefühl, als wenn sie es mit einem Mal sehr eilig hätte.
„Jedenfalls, danke für den Kaffee. Es wird langsam Zeit für mich.“
Sie ließ es sich dennoch nicht nehmen, zu Kathi ins Zimmer zu sehen und sich von ihr zu verabschieden. Dann begleitete ich sie zur Tür und bedankte mich wiederholt für ihr großzügiges Geschenk.
„Keine Ursache. Sie ist bei dir in guten Händen“, sagte sie. Sie sah über die weiten Felder, dann drehte sie sich abrupt zu mir um. „Sag, wie spontan bist du?“
„Was meinst du?“
Sie lächelte. „Es gibt Menschen, die keinen ungebetenen Besuch mögen. Soll ich vorher anrufen?“
„Du bist hier ein gern gesehener Gast, zu jeder Zeit.“
Sie sah ehrlich erfreut aus. „Schön, dann sehen wir uns bald“, sagte sie, hob eine Hand zum kurzen Abschiedsgruß und schritt eilig durch den Vorgarten auf den Wirtschaftsweg.