Читать книгу Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - Страница 14
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Gefangen. Leonore war eine Gefangene ihres eigenen Verstandes, der ihr den Dienst versagte. Die junge Frau hatte Erinnerungen wach gerufen, die tief in ihrem Bewusstsein schlummerten. An längst vergangene Ereignisse, die einst unsagbar wichtig waren, jedoch im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Als sie an ihrer Bettkante saß, hatte sie gespürt, dass sie etwas mit ihr verband. Und in einem kurzen Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie das Mädchen schützen musste. Doch zu viel war damals geschehen, als dass sie die gesamte Tragweite der Ereignisse in Worte hätte fassen können. Es blieb ihr nicht genügend Zeit. Sie hatte versucht den klaren Moment festzuhalten, an der Oberfläche ihres Bewusstseins gekämpft und nach Worten gesucht. Doch alles was sie hatte hervorbringen können war eine Warnung, von der sie sich nicht sicher war, ob die junge Frau sie verstanden hatte. Dann war sie hinabgesunken in ihren Kerker aus Gedanken und Erinnerungen, außerstande, sie zu ordnen. Der Nebel des Vergessens kroch in ihren Geist und hinterließ nicht viel mehr als ein starkes Gefühl der Dringlichkeit. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie die Tür geschlossen wurde. Sie war allein mit den Bildern in ihrem Kopf, den Szenen aus einem weit entfernten Leben und einer Person aus früher Zeit, die ihr fremd geworden war. Einst war sie schön und klug gewesen. Sie wurde geliebt und konnte Liebe geben. Aus diesem Grund war sie zu einer Geheimnisträgerin geworden, die alles daran gesetzt hatte, dass es gewahrt wurde. Die Wahrheit würde sie mit ins Grab nehmen, so hatte sie es gelobt, doch der Drang, den Schwur zu brechen, wurde mit jeder Minute stärker. Vergessen war der Name, den die junge Frau ihr mitgeteilt hatte, vergessen der Grund ihres Besuchs und sie war sich sicher, dass sie bald auch diesen selbst nicht mehr erinnern würde. Sie kannte die Ursache nicht, doch sie spürte, dass sie handeln musste. Das Geheimnis durfte nicht länger im Verborgenen bleiben.
Allein darauf musste sie sich konzentrieren. Den Gedanken festhalten, der sie antrieb. Den fast übermächtigen Zwang verinnerlichen bis ins Mark. Sie richtete ihren Blick auf das Fußende ihres Bettes und es kostete sie enorme Anstrengung sich zu rühren. Zu lange hatten ihre müden Knochen geruht. Mit größter Mühe rappelte sie sich auf, schob die tauben Beine zum Rand und ließ sie fallen. Als ihre nutzlosen Füße auf den Holzboden schlugen, erklang ein dumpfes Geräusch, begleitet von einem Ruck, der sich hinaufzog bis in die Knie. Sie saß auf der Kante, streckte den Rücken und schloss für einen Moment die Augen, als ihr schwindelte. Sie fühlte sich wie ein geschlagener Hund. Sie atmete ein und hörte das Rasseln in der Brust, das sich verstärkte und in einem wüsten Hustenanfall mündete. Sie zog den Ärmel ihres Nachthemds über die Hand, bedeckte den Mund und krümmte sich vor Schmerz.
Wieder rief sie den Gedanken in sich wach, der ihr zu entgleiten drohte. Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
Als der Anfall vorüber war, öffnete sie die Augen und sah auf ihre Hand, die sie hatte sinken lassen. Das zuvor weiße Hemd war von Blut durchtränkt. Achtlos ließ sie den Ärmel fahren, dann glitt ihr Blick zum Fenster. Augenblicklich überfiel sie der Zweifel. Würde sie es schaffen?
Die Wahrheit.
Entschlossen stemmte sie sich hoch, doch ihre Beine vermochten ihr Gewicht nicht zu tragen. Sie knickten unter ihr weg, wie Weizenstängel deren Ähren mit praller Überreife gefüllt waren. Sie schlug auf den Boden und hörte ein berstendes Geräusch. Noch bevor der Schmerz aus ihrem Oberschenkel ihren verwirrten Geist erreichte, wusste sie, dass ihr Sturz nicht ohne Folgen geblieben war. Regungslos lag sie auf dem kalten Boden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Truhe unter dem Sims. Ein stechender Schmerz durchbohrte ihren Leib. Leonore rang nach Atem, doch verschaffte dieser ihr keine Befriedigung. Ein letztes Mal krümmte sie sich, dann hörte sie die Luft aus sich weichen. Als sie die Augen für immer schloss, hing ihr Verstand an nur einem Gedanken: die Wahrheit.