Читать книгу Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - Страница 6
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Limbergen, 2010
Der Hof war das Schönste, das ich je gesehen hatte, abgesehen natürlich von meinem Mann und meinen beiden Kindern. Sagen wir, er war einfach der schönste Bauernhof aller Zeiten.
Wochenlang suchten wir nun schon nach einem Haus im Münsterland. Frank hatte keine Mühen gescheut und mich von einer Besichtigung zur nächsten geschleppt, aber es war nie das Richtige dabei. Doppelhaushälften gab es hier fast im Überfluss. Ich hatte nichts gegen die typischen Klinkerfassaden, aber sie waren mir zu neu und unpersönlich. Ich suchte nach Flair, einem Juwel, das man noch schleifen konnte.
Während wir durch die Räume des Wohntrakts geführt wurden, brach ich in wahre Begeisterungsstürme aus. Das schien den Makler zu amüsieren, denn er beobachtete mich bei jeder neuen Entdeckung und grinste fast schon unverschämt.
Auch Frank konnte mich nicht auf den Boden der Tatsachen zurückbringen, als er mir verschiedene marode Stellen des Gebäudes zeigte. Ich hatte kein Auge für die teilweise gerissenen Türen, für die verrosteten Wasserleitungen und die hoffnungslos veraltete Nachtspeicherheizung.
Mein Blick wurde von dem uralten, ausladenden Kamin in der Eingangshalle gefesselt. An dessen Rückwand hing eine rußgeschwärzte Eisenplatte mit einem kaum erkennbaren Motiv und man konnte ihn in geduckter Haltung sogar betreten.
„Du weißt aber schon, dass der keinen besonders hohen Brennwert hat? Die warme Luft zieht geradewegs nach oben raus“, versuchte Frank zu mir durchzudringen.
„Aber sieht er nicht toll aus?“, jubelte ich.
„Ja, sicher“, brummte er und schüttelte den Kopf.
Ich glaubte, ein „typisch Frau“ gehört zu haben, beschloss aber, diese Bemerkung geflissentlich zu ignorieren.
Die überdimensionale Esse in der Wohnküche war für mich Romantik pur. Frank sagte nur, dass sie zu viel Platz wegnehmen würde, aber mir war das gleich.
Ich liebte das Knarren der Holzdielen unter meinen Füßen vom ersten Augenblick an, auch wenn das laut Frank bedeutete, dass es keine Bodenplatte gab, die die Feuchtigkeit daran hätte hindern können, die Wände hoch zu ziehen.
Dieser alte Bauernhof war in meinen Augen perfekt. Hier würden Leon und Kathi aufwachsen und echte Landkinder werden, mit allem was dazu gehörte. Verdreckte Klamotten, mit Tieren spielen und Spaß haben.
Ich glaube, Frank ergab sich einfach in sein Schicksal, denn es dauerte nicht lange und auch er musste lächeln. Kopfschüttelnd sagte er: „Da zeige ich dir die tollsten Häuser, modern und lichtdurchflutet; du findest den einzigen zum Verkauf stehenden Kotten der gesamten Gegend und bist hin und weg.“ Er schnaubte. „Du bist verrückt, weißt du das?“
Ich lachte und knuffte ihn spielerisch in die Seite. „Schau doch her. Ist das nicht wundervoll?“ Ich ging drei Stufen hinauf auf ein kleines Podest, dann folgten weitere drei, die zu einem oberhalb der Küche gelegenen Zimmer führten. Ich wies auf eine Holztür mit Porzellangriff. Der Lichtausschnitt war von Sprossen unterteilt, in jedem Abschnitt eine unebene, trübe Glasscheibe mit Gravuren. Es fehlte zwar ein Glas und ein anderes war gesprungen, aber dennoch war das Motiv noch deutlich zu erkennen. Es war ein feines Ornament, das Weizenähren andeutete und in seiner Gesamtheit einen Kranz aus Feldfrüchten darstellte.
„Das ist eine Upkammer“, meldete sich der Makler zu Wort, der uns gefolgt war. „Die sind typisch für die alten Höfe in dieser Region.“
Frank drückte die Tür nach innen auf und sie schrappte unbarmherzig über die Holzdielen. Dann wies er auf die notdürftig reparierte Zarge. „Noch eine Baustelle“, bemerkte er trocken und verdrehte die Augen. Sein verhaltenes Lachen klang wie das Schnaufen einer Lokomotive.
Ich kicherte. „Klar, aber sie ist wundervoll. Irgendjemand hat sie vor langer Zeit in Auftrag gegeben, vielleicht sogar selbst mit viel Liebe gebaut und seine Frau hat dann bestimmt genauso staunend davor gestanden wie ich.“ Ich schlang einen Arm um seine Hüfte, sah zu ihm auf und hauchte: „Ich liebe diesen Hof schon jetzt, genau so wie er ist. Was glaubst du, wie der erst aussieht, wenn wir mit ihm fertig sind. Es wäre doch nicht das erste Mal, dass wir ein Haus sanieren und ich finde er ist es wert gerettet zu werden. Meinst du nicht?“
Er schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. „Herr, bewahre mich vor dieser Frau. Du würdest doch jede abbruchreife Hütte vor dem endgültigen Verfall retten, wenn du könntest.“
Ich biss auf meiner Unterlippe herum und musste ihm insgeheim Recht geben. Mich interessierte von jeher alles was alt war. Ich liebte es mir vorzustellen, wie sich Generationen von Menschen an diesen Dingen erfreut hatten und welche Erlebnisse sie damit verbanden. Auch wenn sie längst nicht mehr lebten, hatte ich immer das Gefühl, als würden sie einen Teil von sich zurücklassen. Davon abgesehen, war dieser Hof etwas ganz Besonderes.
Meine Vorliebe schien auch der Makler bemerkt zu haben, denn er fragte mich unvermittelt: „Sie mögen alte Dinge?“
„Oh ja, sehr.“ Ich nickte eifrig.
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte für einen Sekundenbruchteil über seine Lippen. Dann sagte er: „Wenn das so ist, hat dieser Hof nur auf sie gewartet. Soweit ich weiß, ist er einer der Ältesten in dieser Gegend, wenn nicht sogar der Älteste.“
„Aber sie wollen mir jetzt nicht durch die Hintertür erzählen, dass er unter Denkmalschutz steht?“, fragte Frank misstrauisch.
Der Makler schüttelte den Kopf. „Nein. Dazu soll es hier schon zu viele Umbauten gegeben haben. Die Originalpläne sind auch nicht mehr vorhanden.“ Mit einem Zwinkern wandte er sich wieder an mich. „Aber es gibt einige Sagen in der Gegend und manche meinen, sie hätten mit diesem Hof zu tun.“
„Wow, hast du das gehört?“
„Nett“, sagte Frank nur.
Ich lachte. „Ach komm schon. Ich finde das einfach spannend. Der Hof ist klasse. Genau so was habe ich gesucht.“ Entschlossen packte ich Frank am Jackenärmel, zog ihn hinter mir her die Stufen hinunter, durch Küche und Kamindiele hinaus ins Freie.
Wir gingen durch den weitläufigen Vorgarten, an einem uralten Backsteinbrunnen vorbei und standen schließlich auf dem schmalen Wirtschaftsweg, der über die ganze Längsseite am Hof vorbei führte. Ich wies mit einer großzügigen Armbewegung über die Szenerie, als wäre ich eine Bühnenartistin, die kurz davor war sich zu verbeugen.
Frank ließ seinen Blick über das Gebäude gleiten und ich hoffte inständig, dass er dasselbe sah wie ich.
Vor uns lag der Wohntrakt in voller Länge, gespickt mit einer Reihe Fenster, die von grünen Blendläden flankiert waren. Die Haustür stammte schon aus den achtziger Jahren, aber es war sicherlich kein Problem eine Haustür aufzutreiben, die mehr Charme ausstrahlte. Der Schweinestall stand rechtwinklig zum Wohntrakt, uns zugewandt, so dass eine L-Form entstand. Auch in ihm befanden sich einige Fenster und in einigem Abstand eine altersschwache, grün gestrichene Pforte, die in das Holzlager führte. Der ganze Bau bestand aus echten Backsteinen. Zur Linken des Wohntraktes stand eine mächtige Eiche, die ihre schweren Äste über das Dach streckte, als wolle sie den Hof beschützen. Die hoch am Himmel stehende Sonne schickte ihre Strahlen durch das dichte Herbstlaub herab, so dass es aussah, als hätte ein Künstler die ganze Szene in Gold- und Rottöne getaucht.
„Da fehlen ein paar Dachziegel“, sagte Frank trocken.
Diesmal war es an mir, die Augen zu verdrehen und er lachte. Abwehrend hob er die Hände, als wollte er sich ergeben und sagte: „Ich weiß, was du meinst. Man kann tatsächlich was draus machen. Allerdings wird das auch nicht billig.“
Ich seufzte. Das war ein Argument, dem ich nicht viel entgegenzusetzen hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. „Meinst du, wir können ihn vielleicht nach und nach herrichten?“
Er hob eine Braue und sah mich fragend an.
„Na, ich meine, wenn wir zuerst einziehen und dann einen Raum nach dem anderen renovieren. So könnten wir doch die Kosten ein wenig aufteilen.“
„Das würde schon gehen, aber …“
Es folgte eine Litanei von langweiligen Details über Arbeiten, die sofort anstanden, aber ich hörte schon gar nicht mehr hin. Es war genau so, wie wenn er beim Autokauf über Extras, PS und Zylinder sprach, von denen ich keine Ahnung hatte. Mich interessierte nur ein klares ja oder nein, der Rest war für mich belangloses Beiwerk, das er genauso gut der maroden Mauer hätte erzählen können.
Ich hing meinen ganz eigenen Gedanken nach und betrachtete die Fensterreihe. Ich sah die vagen Umrisse des Maklers, der an einem der Fenster in der Diele stand. Mir wurde unangenehm bewusst, dass ich ihn anstarrte und Frank rückte in meine Aufmerksamkeit zurück, als er schloss: „… meinetwegen können wir ja mal um den Preis verhandeln, wenn der Hof dir so gut gefällt.“
Im selben Moment quietschte die kleine Pforte in den Angeln und schwang auf. Ich wandte den Kopf und der Makler trat heraus. Irritiert sah ich zurück zum Fenster. Der Umriss war verschwunden.
Ich musste Frank völlig entgeistert angesehen haben, denn er legte den Kopf schief und sagte: „Erde an Julia – bist du noch da? Das war mein Ernst.“
Erst da begriff ich, dass er bereit war, meinen Traum wahr werden zu lassen. „Wirklich?“
Er lachte. „Ja, sonst hätte ich es nicht gesagt. Aber das wird ein schönes Stück Arbeit. Das ist dir klar?“
Ich jauchzte vor Freude und fiel ihm um den Hals. „Das macht gar nichts. Das wird absolut klasse“, rief ich begeistert aus. Dann wandte ich mich dem Makler zu und sagte: „Sie hatten es aber eilig. Haben sie einen Geheimgang benutzt, dass sie so schnell hier sein konnten?“
Er sah mich an, als wüsste er nicht was ich meinte, dann grinste er und sagte nur: „Es ist mein Job zu wissen, wann es an der Zeit ist, beim Kunden zu sein.“