Читать книгу Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - Страница 12
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Lymbergen, 1737
Anna wollte an diesem Morgen das Bett nicht verlassen. Ihre Gedanken glitten zurück zu dem Tag, da ihr Vater sie zu ihrem Gatten gebracht und sie nach der langen Zeit des Sehnens endlich einen gemeinsamen Hausstand hatten gründen können. Wehmütig rief sie sich Johanns leuchtende Augen in Erinnerung, als er die Kaminplatte enthüllt und sie im Anschluss innig geküsst hatte.
Drei steinige Jahre waren seither vergangen, getragen von ihrer tief empfundenen Liebe, doch begleitet von Trauer und Leid.
In Jahresfrist hatte sie ihr erstes Kind geboren, einen Jungen. Die Freude hätte nicht größer sein können. Johann stolzierte umher, als habe er den Grundstein einer Großdynastie gelegt. Der männliche Erbe würde den Fortbestand seines Schaffens sichern. Großes sollte er vollbringen. Doch kaum dass ihr Sohn von der Mutterbrust entwöhnt war, begann er zu kränkeln. Anna hatte hilflos zusehen müssen, wie er von Tag zu Tag schwächer wurde, bis ihr kleiner Junge am Ende vollkommen ausgezehrt in ihren Armen verstarb.
In jener dunklen Stunde blutete ihr das Herz und sie hatte geglaubt, den Schmerz niemals verwinden zu können.
Ihre Mutter, Clara, war es schließlich, die es vermocht hatte sie aufzurichten, ihr neuen Mut zuzusprechen. Sie hörte zum ersten Mal Dinge, über die Clara nie zuvor mit ihr gesprochen hatte. Sie erfuhr von ihrem Bruder, der einst das Licht der Welt erblickt hatte, doch kaum nach der Geburt verstorben war. Sie sah die Tränen in ihrer Mutter Augen und erkannte sie als ihre eigenen. Tränen der Trauer und des Verlusts. Doch waren sie erst geweint, vermochten sie ihre Seele zu heilen. Nie würde sie ihren kleinen Jungen vergessen. Er würde immer einen Platz in ihrem Herzen haben. Sie begann die Dinge hinzunehmen als das, was sie waren: Eine Prüfung ihres Glaubens. Dem Herrgott hatte es gefallen, ihren kleinen Hermann zu sich zu rufen. Sein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Wenig später war Anna erneut guter Hoffnung. Sie ertrug die beschwerliche Zeit der Schwangerschaft mit Geduld und sehnte den Tag der Geburt herbei.
An einem sonnigen Augusttag kam sie nieder und es erfüllte sich ihr sehnlichster Wunsch. Es war, als sei das einst Verlorene in ihre Arme zurückgekehrt und so gab sie dem Säugling hoffnungsvoll den Namen seines Bruders. Hermann.
Hatte sie fehl getan? Dem Herrn gespottet? Sie würde Johanns Blick niemals vergessen, als er feststellte, dass ihr Junge zu kränkeln begann. Hermann siechte dahin wie sein Bruder zuvor. Hilflos trocknete sie mit bebenden Fingern seine schweißnasse Stirn. Nichts war so, wie es hätte sein sollen. Der Tag seines Todes zerriss ihr das Herz.
Für sie gab es keinen Grund mehr, das Bett zu verlassen. Johann verbrachte den Tag auf dem Feld und würde erst spät zurückkehren. Die Magd hatte Annas Pflichten weitestgehend übernommen, da sie sich seit der Beerdigung völlig zurückgezogen hatte und in ihrer Trauer versank. Was ihr widerfahren war, das war nicht recht, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
Sie war sich bewusst, dass diese Grübelei nicht gut für sie war. Dennoch fühlte sie sich nicht imstande, dagegen anzukämpfen. Sie brachte es nicht fertig, ihren gewohnten Alltag wieder aufzunehmen. Dieses Mal nicht.
Der Gedanke an ein weiteres Kind schien ihr verfrüht, auch wenn Johann anderer Meinung war. Es wäre ihr so vorgekommen, als würden sie ihren Sohn durch ein weiteres Kind ersetzen und diese Vorstellung ertrug sie nicht mehr.
Ihr Blick glitt zum Fenster. Die Gardinen waren fast zur Gänze zugezogen, doch es stahlen sich einige Sonnenstrahlen durch einen Spalt herein. Draußen zwitscherten die Vögel ihren Morgengruß.
Anna schloss die Augen und zog sich kurzerhand die Decke über den Kopf. Sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern und Emma würde an die Zimmertür klopfen. Was sollte sie sagen? Nein, ich will nicht aufstehen? Das wusste sie doch ohnehin. Sie hatte die Magd mit dem Küchenmädchen flüstern hören. Es ging darum, dass sie versuchen wollten sie aufzumuntern und sie hatten leichte Aufgaben für sie ersonnen, doch Anna hatte sie abgewiesen und ihre mitleidigen Blicke ignoriert. Niemand vermochte ihr zu helfen, denn keiner von ihnen war in der Lage ihre Kinder zurückzubringen.
Auch Pfarrer Haferkamp nicht – es nützte ihr wenig, dass er meinte, Hermann habe seine Aufgabe auf Erden erfüllt und müsse nun seiner himmlischen Bestimmung folgen.
Welche irdische Aufgabe könnte das wohl gewesen sein? Sie waren doch noch viel zu klein gewesen, um überhaupt eine solche haben zu können.
Die Worte aus dem Munde des Pfarrers klangen ihr hohl, als er sagte: „Gottes Wege sind unergründlich. Es ist nicht an uns Menschen seine Absichten in Frage zu stellen.“
Warum nicht? Sie wollte nicht akzeptieren, dass Gott womöglich einen Grund hatte, ihr das Liebste zu nehmen. Für sie war es reine Bosheit, um sie zu quälen. Sie weigerte sich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es eine Prüfung ihres Glaubens sein sollte. Wie unbarmherzig konnte dieser Gott sein. Sie hatte doch immer alles getan, was er von ihr verlangte. Sie war ein gottesfürchtiger Mensch, besuchte regelmäßig das Gotteshaus, lauschte den Ausführungen des Pfarrers und versuchte immer, sich an dessen Weisungen zu halten. Selbst das Fluchen verabscheute sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, womit sie eine solche Grausamkeit verdient haben könnte. Einem solchen Gott wollte sie nicht dienen.
Selbstverständlich sagte sie das niemandem – auch Johann nicht. Sie war nicht vollkommen davon überzeugt, das Richtige zu tun, wenn sie Gott den Rücken kehrte, aber das war etwas, das nur sie anging.
Wie sie es vorausgesehen hatte, klopfte es an der Tür. „Mersche Herzog? Bist du wach?“
Sie antwortete Emma nicht.
„Mersche Herzog?“
Anna lugte unter ihrer Bettdecke hervor zur Tür, doch sie war immer noch verschlossen. Sie beschloss ihre Magd einfach zu ignorieren. Einige Augenblicke später hörte sie Schritte, die sich entfernten. Emma schien aufgegeben zu haben.
Anna drehte sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke.
Eine Weile später klopfte es erneut an der Tür. Dieses Mal eindringlicher.
„Mersche Herzog?“
Anna richtete ihren Blick zur Tür und wartete darauf, dass die Magd abermals verschwinden möge, doch stattdessen klopfte sie energischer.
„Es ist Besuch für dich gekommen.“
Besuch? Oh, bitte nicht. Ich will allein sein, dachte Anna, sagte jedoch nichts.
„Ich habe gesagt, dass du nicht gestört werden möchtest, aber sie besteht darauf zu warten.“
Welch eine hartnäckige Person.
„Bitte“, flehte Emma durch die Tür. Verzweiflung lag in ihrer Stimme.
Anna wog ihre Möglichkeiten ab. Natürlich könnte sie einfach liegen bleiben. Dann war der Besuch eben beleidigt – was scherte es sie. Andererseits, wer konnte so aufdringlich sein und einfach warten wollen? Wie lange würde es wohl dauern, bis ihr Besuch aufgab? Anna seufzte, dann fragte sie: „Wer ist es denn?“
Sie konnte deutlich die Erleichterung in der Stimme der Magd hören, als diese ihr antwortete: „Es ist Rita.“
Allmächtiger, dachte Anna, warf die Bettdecke zurück, schwang ihre nackten Beine über die Bettkante und richtete sich auf. „Was will sie hier?“
„Sie sagte nur, dass sie ein Gespräch wünsche. Mehr weiß ich nicht.“
Eine Unterredung – mit Rita. Ein schöner Gast, dachte Anna. Wenn Johann wüsste, dass diese Person auf seinem Hof war, würde er ihr unmissverständlich zu verstehen geben, dass sie hier nichts verloren hatte und sie mit Schimpf und Schande davonjagen. Jetzt verstand Anna auch, warum Emma so verzweifelt geklungen hatte. Niemand in dieser Gegend, der auch nur halbwegs bei Verstand war, gab sich freiwillig mit einer Frau ab, der man Zauberei nachsagte. „Ich komme“, rief sie und stand auf. In Windeseile schlüpfte sie in ihre Kleidung und nahm sich nicht einmal die Zeit, die Vorhänge zurückzuziehen, bevor sie aus der Tür ging.
Vor ihr stand die Magd und sah sie mit großen, blauen Augen an. „Guten Morgen“, sagte diese und fuhr dann fort: „Sie ist in der Deele.“
„Danke, ich werde mich darum kümmern.“ Anna wollte gerade die Küche durchqueren, als Emma sie zurückhielt.
„Mersche?“
Anna wandte sich zu ihr um. „Ja?“
„Sie hat mich um einen Becher Milch gebeten“, wisperte sie.
„Oh“, entfuhr es ihr. Ihr Blick glitt zur Tür, die in die Deele führte und sie dachte nach. Durfte sie ihr diesen Wunsch erfüllen? Es war eine Sache, einem ungebetenen Gast ein Getränk zu gewähren, doch war diese Frau kein gewöhnlicher Gast. Was hatte der Pfarrer über Dämonen gesagt? Sie konnten einem nur Schaden zufügen, wenn man sie in sein Haus einlud. Galt das auch für eine Hexe? Ihrer Bitte zu entsprechen, konnte als Wohlwollen und damit als Einladung gewertet werden. Andererseits, welchen Schaden könnte sie wohl noch anrichten. Es war ihr schließlich schon das Schlimmste widerfahren. Gab es denn noch mehr? Und was kümmerte sie der Pfarrer, der als das Sprachrohr Gottes galt. Ein Gott, der ihr Schreckliches angetan hatte.
Sie wunderte sich über sich selbst, als sie schließlich zustimmte. „Bring es ihr.“
Emma betastete erschrocken das silberne Kreuz an ihrer Kette, doch sie sagte nichts. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und öffnete den Küchenschrank.
Sie würde Johann davon erzählen, dessen war sich Anna sicher, doch darum konnte sie sich kümmern, wenn es soweit war. Einen Augenblick später trat sie in die Deele.
Eine schlanke, schwarz gekleidete Frau stand vor dem Kamin und betrachtete das Gemälde. Ihr silberdurchwirktes, bräunliches Haar hatte sie zu einem Knoten im Nacken gebunden.
„Was willst du von mir?“, fragte Anna und verfolgte, wie sich die ältere Frau umwandte.
Sie sah nicht aus wie eine Hexe, was hatte sie auch erwartet? Ihre grünen Augen wirkten freundlich, auch wenn ein leicht spöttischer Zug um ihre Mundwinkel lag. Um den Hals trug sie ein Band aus hellem Leder, an dem ein schwarz gesprenkelter Stein befestigt war. Als sie lächelte entblößte sie ungewöhnlich gepflegte Zähne. Rita trat einige Schritte auf sie zu und streckte die Hand aus.
Anna überging die Geste geflissentlich. „Nun?“, verlangte sie nach einer Antwort.
„Verzeih mein Eindringen. Ich weiß, ich bin nicht willkommen, aber ich wollte wenigstens versuchen dir meine Hilfe anzubieten.“ Sie ließ die Hand sinken und sah ihr unverwandt in die Augen.
Anna runzelte die Stirn. „Wie könntest du mir wohl helfen, außer dabei, mir meinen Ruf zu ruinieren?“
Ritas Lächeln verschwand. Dann entgegnete sie: „Ist dir dein Ruf wichtiger, als dein Seelenfrieden?“
„Wie bitte?“ Anna schnaubte. „Das ist doch wirklich eine Frechheit. Du weißt nichts über mich und mein Seelenfrieden geht dich nichts an.“
„Aber …“
„Nein“, fiel Anna ihr ins Wort. „Es reicht mir schon. Der Himmel weiß, warum ich dich überhaupt empfangen habe. Ich möchte, dass du auf der Stelle den Hof verlässt.“
Die Magd trat ein und hielt den Becher Milch in der Hand. Anna drehte sich zu ihr um, nahm ihn ihr ab und trank ihn in einem schnellen Zug leer. „Danke“, sagte sie und gab ihn an die verdutzt dreinblickende Emma zurück.
Diese nickte kurz und verschwand hastig in die Küche.
Als Anna sich wieder der Hexe zuwandte, sah sie, dass diese wieder lächelte. In ihren Augen lag ein amüsiertes Funkeln.
„Was ist so komisch?“
Um die Augen der Frau bildeten sich kleine Fältchen. „Denk über mein Angebot nach“, sagte sie einfach, ohne die Frage zu beachten und ging zum Ausgang. Sie legte eine Hand auf den Knauf, öffnete die Tür und drehte sich dann auf der Schwelle noch einmal zu ihr um. „Deine Lieben können dir nicht helfen und der Pfarrer ist zu ignorant um zu erkennen, was auf diesem Gut vor sich geht. Wenn du genug von seinem religiösen Geschwätz hast, dann such mich auf. Ich kann dafür sorgen, dass sie dich in Ruhe lässt.“ Ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus und schloss die Tür.
Anna stand vollkommen verdutzt da und starrte die Tür an. Von allen seltsamen Begegnungen, die sie bisher erlebt hatte, war Ritas Besuch eindeutig die merkwürdigste. Sie sann über die gesprochenen Worte nach und erkannte, dass ihre heftige Reaktion auf die Frau daher rühren musste, dass sie nun mal eine Hexe war, mit der es sich nicht abzugeben galt. Zumindest sagte man ihr finstere Praktiken nach, auch wenn es keine eindeutigen Beweise für diese Behauptungen gab.
Nichtsdestotrotz teilte sie ihre Ansichten über den Pfarrer; allerdings hätte sie niemals gewagt, ihn als ignorant zu bezeichnen. Sie durchmaß die Deele mit einigen Schritten und sah zu der Frau auf dem Gemälde hinauf. Johann hatte ihr gesagt, es seien nur dumme Geschichten, die über diese Frau erzählt wurden. Ammenmärchen, bestenfalls dazu geeignet, allzu vorlaute Kinder zu ängstigen. Sie kam nicht umhin zuzugeben, dass auch sie sich anfangs vor dieser dunklen Frau gefürchtet hatte. Laut Johann gab es jedoch keinen vernünftigen Grund den Sagen zu glauben.
Rita schien das offenbar anders zu sehen. Wenn sie ihre Worte richtig verstanden hatte, glaubte die Hexe, dass sie von dieser Frau heimgesucht wurde.
Anna versuchte krampfhaft sich die Geschichten ins Gedächtnis zurückzurufen, die sie so lange Zeit verdrängt hatte. Sie kannte nicht jede Einzelheit, aber im Grunde ging es darum, dass sie einst hier auf diesem Hof verschwand. Angeblich sollte ihr unruhiger Geist auf diesem Hof umgehen, doch Anna lebte nun schon seit drei Jahren hier und hatte seither keinerlei Erscheinung gehabt. Das untermauerte Johanns Ansicht, dass es sich nur um eine Spukgeschichte handelte, die mit der Wirklichkeit nichts gemeinsam hatte.
Was aber, wenn Rita Recht hatte. Was wenn die Geschichten wahr wären. Anna musterte das Gesicht der Frau, die überirdisch schön wirkte. Sie konnte nichts Böses in ihren Zügen erkennen. Sie wirkte friedvoll, ein wenig scheu sogar, aber keinesfalls grausam. War diese Frau umgebracht worden? Suchte sie womöglich nach ihrem Mörder? Aber was hatte das mit ihr zu tun? Es ergab für sie keinen Sinn. Welchen Grund sollte sie haben, sie heimzusuchen?
Anna beschloss, ihre Mutter aufzusuchen, um mehr über diese Frau in Erfahrung zu bringen. Vielleicht konnte sie sich an mehr Einzelheiten erinnern und ihr helfen, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Außerdem könnte sie sie vorsichtig nach Rita aushorchen. War das Unglück, das sie erfahren hatte vielleicht gar nicht Gottes Wille? Hatte sie eine Möglichkeit dem Schicksal zu entgehen?
Anna klammerte sich an diesen winzigen Funken des Zweifels, der zu ungeahnter Hoffnung aufglimmte. Doch was, wenn sie einer Schwindlerin aufsaß?