Читать книгу Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - Страница 5

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Prolog

Linthberghe, 1690

Wolkenfetzen jagten über den Horizont und das entfernte Grollen eines Gewitters erfüllte die Nacht. Der kalte Septemberwind toste über das Münsterland und brandete gegen das Gutshaus, welches ihm starrköpfig trotzte.

Katharina stand in der Küche und erwartete die Rückkehr ihres Gatten, der sich die Zeit im Wirtshaus vertrieb. Alles was sie hörte, waren unruhige Laute, die aus dem Stall drangen, als könnten die Tiere darin spüren, welche Boshaftigkeit sich in der undurchdringlichen Dunkelheit verbarg. Das Feuer in der Esse war beinahe gänzlich niedergebrannt und tauchte den Raum in einen rötlichen Schimmer. Das Küchenmädchen trat herein. Das magere Ding trug einen Stapel Holz in den Armen und ächzte unter der Last. Katharina trat ihr in den Weg. „Du sollst doch nicht so viel auf einmal tragen“, schalt sie.

Scheu lächelnd sah sie zu ihr auf.

„Nicht“, sagte Katharina und hinderte sie daran einen der Scheite auf die Glut zu legen.

„Aber das Feuer“, stammelte das Mädchen und sah sie aus großen Augen an.

Katharina schüttelte den Kopf und rieb sich die kalten Arme. Sie dachte an Heinrich. Der kleinste Funke von Verschwendung könnte ihn erzürnen. „Mich friert nicht“, sagte sie schließlich, nahm ihr einige Stücke aus den Armen und trat zur Seite.

Das Mädchen warf ihr einen letzten ungläubigen Blick zu, dann sank sie auf die Knie und schichtete die Scheite sorgfältig übereinander.

Katharina reichte ihr die Übrigen. Als sie die Hände frei hatte, trat sie an den Spülstein, nässte ein Tuch und entfernte den Schmutz. Eine Hand legte sich auf die ihre. Sie sah auf, geradewegs in die Augen des Mädchens, das neben ihr hockte.

Es wirkte verlegen, zog die Hand zurück und blickte zu Boden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ein Hauch von Unsicherheit begleitete ihre Worte. „Es ist alles Recht. Mehr kann er unmöglich verlangen.“

Katharina schwieg. Er konnte. Und wenn es ihm danach gelüstete, dann würde er.

Das Mädchen nahm ihr ohne ein weiteres Wort das Tuch aus der Hand und wischte die restlichen Späne auf.

Katharina erhob sich und ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Sie durfte nichts übersehen.

Als das Geäst der jungen Eiche bedrohlich gegen die Sprossenfenster der Deele schlug, als begehre es beharrlich Einlass, rieselte ihr ein Schauer den Rücken hinunter.

Aus ihrer Kammer drang ein leises Wimmern. Sie schlich die Stufen hinauf und spähte vorsichtig hinein. Ihr Kind regte sich. Sie trat an das Bettchen heran und prüfte, ob es sorgfältig in die Decke eingeschlagen war, dann schaukelte sie sanft die Wiege und summte eine Melodie.

Plötzlich krachte es im Stall. Katharina fuhr zusammen und lauschte. Es hatte sich angehört, als sei das Tennentor mit roher Gewalt zugeschlagen worden. Sie hastete auf leisen Sohlen aus der Kammer und eilte die sechs Stufen hinab in die Küche. Sie sah das völlig erstarrte Mädchen mitten im Raum stehen, mit dem Lappen in der Hand. „Rasch“, zischte sie. „Verschwinde!“ Sie hastete zu ihr und stieß sie in die Deele, als die Tür zur Tenne auch schon geöffnet wurde.

Heinrich trat lautstark fluchend ein. „Weib, komm her!“ Mit einem Schlag erfüllte seine üble Laune das ganze Haus. Seine Hand schoss vor wie eine zubeißende Natter und umschloss ihren Arm. „Warum ist das Feuer aus?“, fuhr er sie an.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie besser daran getan hätte, es ihm gemütlich zu machen, statt auf verschwendetes Holz zu achten. Was sie auch tat, nichts tat sie ihm Recht. Um ihre Lage nicht zu verschlimmern, achtete sie darauf, dass kein Laut über ihre Lippen drang.

Sein nach Bier stinkender Atem schlug ihr ins Gesicht. „Leg Holz auf! Sofort!“, befahl er. Er lockerte seinen Griff, ohne sie jedoch gänzlich loszulassen. Sein eisiger Blick traf sie bis ins Mark und sie glaubte Argwohn darin zu lesen. Dann wandte er sich ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der unter seiner kräftigen Statur ächzte.

Sie hastete zur Esse, um seinem Befehl Folge zu leisten. Liebend gern hätte sie ihren schmerzenden Arm gerieben, doch wagte sie es nicht. Sie spürte deutlich die Bedrohung, die von ihm ausging. Wie ein lähmendes Gift kroch sie in jeden Winkel ihres Bewusstseins.

Seine schwere Hand krachte auf den Tisch.

Katharina fuhr erschrocken herum.

„Bring mir dein Kind.“

Ihre Augen weiteten sich. Sie starrte ihn an, forschte in seinen Zügen nach dem Grund. Nie zuvor hatte er so gesprochen. Eine entsetzliche Ahnung keimte in ihr auf.

Er lehnte sich vor und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er formte seine Lippen, als spräche er zu einer geistig Umnachteten. „Hörst du die Worte, die meinen Mund verlassen, Weib?“, fragte er boshaft. „Bring mir dein Kind, sonst hole ich es selbst.“

Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte vorsichtig: „Der Junge schläft, Heinrich. Morgen in der Früh bringe ich ihn dir.“ Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass nichts, was sie auch entgegnen mochte, ihn von seinem Verlangen abhalten konnte.

Er sprang so heftig auf, dass der Stuhl klappernd zu Boden fiel.

Katharina löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie musste ihr Kind schützen, koste es was es wolle. Sie trat an Heinrich heran und ihr wurde übel, als sie ihre Hand beschwichtigend auf seinen Arm legte. „Ich werde ihn holen. Bitte, nimm wieder Platz.“ Sie trat um ihn herum und spürte seinen Blick im Nacken. Sie stellte den Stuhl auf, schob ihn zurecht und trat wachsam wenige Schritte zur Seite. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als er sich niederließ, doch sein kaltes Grinsen entging ihr nicht.

Langsam, um Zeit zu gewinnen, wandte sie sich zur Schlafkammer. Er hegte einen Verdacht. Sie kannte den Ursprung nicht, aber irgendwie hatte er es erfahren. In Sekundenbruchteilen jagten ihr sämtliche Möglichkeiten durch den Kopf, die ihr blieben. Als sie an der Tür zur Deele vorbei ging, sah sie im Augenwinkel einen Schatten. War das Mädchen immer noch dort? Sie flehte inständig, dass es so war. Aber was nutzte sie ihr? Ihre Gedanken rasten, als sie die wenigen Stufen hinauf stieg. Sie musste fliehen. Wenn sie es schaffte mit dem Jungen ins Gesindehaus zu gelangen, waren sie vielleicht in Sicherheit. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Kammer. Doch wie sollte sie an Heinrich vorbei kommen? Der einzige Fluchtweg führte durch die Küche.

Sie trat an die Wiege, spähte hinein und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Vorsichtig hob sie ihr Kind heraus und schmiegte es liebevoll an sich. Es seufzte zufrieden an ihrer Brust. Tränen traten ihr in die Augen. War dies das Ende?

Ihr Blick glitt zu dem winzigen Butzenfenster. Verzweifelt klammerte sie sich an den einzigen Ausweg, der sich ihr bot. Sie wusste, was sie zu tun hatte. In großer Hast wickelte sie ihren Sohn fest in seine Decke, riss eine weitere von einem Stuhl und schlug auch diese um ihn, als hülle sie ihn in einen schützenden Kokon. Sie trat ans Fenster, öffnete es leise und prüfte die dichten Sträucher, die unter dem Fenster wuchsen. Alles war besser, als mit ihm zurück zu gehen. Sie küsste ihr Kind auf die Stirn. „Ich liebe dich“, flüsterte sie.

Die Kammertür schlug krachend gegen die Wand. Das Glas splitterte. Katharina schrie auf. Heinrich stand wutschnaubend auf der Schwelle.

„Ich wusste, sie haben Recht!“, dröhnte er. „Verschwinde vom Fenster und gib mir deinen Bastard!“

Sie zögerte keinen Augenblick länger. Während er mit schweren Schritten auf sie zukam, schlug sie die Decke über das Gesicht ihres Sohnes, suchte die beste Stelle und ließ ihn fallen.

Heinrich packte sie und schleuderte sie zu Boden. Katharina hörte ihr Kind schreien. ‚Er lebt‘, schoss es ihr durch den Kopf. Augenblicklich begann sie aus voller Kehle zu kreischen. All ihre Hoffnung ruhte auf dem Küchenmädchen. Vielleicht wurde auch die Magd aufmerksam. Irgendjemand, sonst war ihr Sohn verloren.

„Das wird dir nichts nützen! Glaubst du tatsächlich, ich könnte ihn in den Büschen nicht finden? Schrei nur! Du kannst deinen Bastard nicht retten!“, dröhnte Heinrich und ging zur Tür.

Katharina stürzte sich auf ihn und kämpfte um das Leben ihres Kindes. Mit fast übermenschlicher Kraft zwang sie ihren überraschten Mann zu Boden. Sie biss ihm in die Arme und zerkratzte sein Gesicht, doch vermochte sie ihm nicht lange standzuhalten. Schon nach Sekunden gewann er die Oberhand und prügelte sie, bis ihr die Sinne zu schwinden drohten. Reglos lag sie auf den Dielen, betete still um Erlösung. Sein übergroßer Schatten lag auf ihr, wie die Umrisse eines Dämons aus dem tiefsten Winkel der Hölle selbst.

Sie hörte ein verächtliches Schnauben. Etwas Nasses traf ihre Schläfe und sie war sich sicher, zu wissen, was es war. Voller Ekel fühlte sie, wie sein Speichel eine klebrige Bahn über ihre Stirn zog.

Heinrich zog sich zurück, verließ die Kammer und schloss sie ein.

Mit letzter Kraft kroch sie zum Fenster und zog sich hoch. Ihr Kind schrie aus Leibeskräften, doch sie konnte es nicht sehen. Silbernes Mondlicht stahl sich durch die Wolkenfetzen und für einen Moment konnte sie erkennen, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste und unter ihrem Fenster verschwand.

„Rette mein Kind“, krächzte sie. „Bitte.“ Ihre Stimme verklang zu einem Flüstern. „Bitte.“ Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften auf ihre geschundenen Glieder. Ihr Sohn wimmerte leise, von fern rief ein Käuzchen, dann wurde es still und sie hörte, wie sich jemand eilig vom Haus entfernte.

Katharina sank erleichtert zu Boden. Wer war der namenlose Retter? Hatte das Küchenmädchen verstanden, was sie zu tun hatte? War die Magd gekommen? Ein Fremder? In wessen Obhut sich ihr Kind auch immer befand, sie faltete die Hände und sprach ein Gebet. Sie dankte dem allmächtigen Herrn aus dem tiefsten Winkel ihres Herzens dafür, dass er jemanden geschickt hatte, um ihren Sohn zu retten. Dieses Mal hatte sie Recht getan.

Es war ihr gleich, was mit ihr selbst geschah, wenn nur ihr Kind überlebte. Es war kein Argwohn, den sie in Heinrichs Augen hatte glimmen sehen. Es war der blanke Hass gewesen. Sie hegte keinen Zweifel mehr daran, dass Heinrich ihren Jungen hatte töten wollen.

Die Zeit verstrich. Katharina lauschte angespannt einem jeden Geräusch. Stille legte sich über die weiten Felder. Der Wind rauschte in den Bäumen.

Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Nacht.

„Nein.“ Das Entsetzen kehrte zurück, nistete sich tief in ihrer Seele ein. „Nein!“ Sie stemmte sich ein letztes Mal auf die Füße, angelte nach dem Fenstersims, zog sich hoch und starrte hinaus. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie glaubte, nie wieder in ihrem Leben atmen zu können. Ein lang gezogenes, nie enden wollendes Heulen drang aus ihr heraus: „Mein Kind!“ Ihre Stimme brach und die Beine gaben unter ihr nach. Sie sackte in sich zusammen und verlor das Bewusstsein.

Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder

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