Читать книгу Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - Страница 13

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„Ach Kind.“ Annas Mutter seufzte. „Nimm doch diese Ammenmärchen nicht ernst.“ Clara legte einen Laib Brot auf das Schneidebrett und stellte es vor sie auf den Tisch.

„Ich will es aber wissen.“

Ihre Mutter kehrte ihr den Rücken und holte ein Fässchen Schmalz aus dem Küchenschrank. Sie stellte es neben das Brot und legte noch ein Messer dazu. Anschließend setzte sie sich zu ihr und begann das frische Backwerk aufzuschneiden.

„Bitte“, flehte Anna.

Ihre Mutter wirkte nachdenklich, gab ihr eine Scheibe und schob ihr das Schmalz zu.

„Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst“, sagte sie schließlich. „Es ist ja schön, dass du dich überwunden hast und mich endlich wieder besuchst. Es ist nicht gut so lange zu trauern.“

Anna senkte den Kopf und studierte eingehend das Muster der Tischdecke. Als sie sich sicher war, dass sich der Kloß in ihrem Hals aufgelöst hatte und sie nicht wieder in Tränen ausbrechen würde, sah sie ihre Mutter unverwandt an. „Es interessiert mich. Ich möchte wissen, wer die Frau in Öl war.“

Clara verdrehte die Augen. „Dieses dumme Bild. Ich habe nie verstanden, warum dein Mann es nicht abgenommen hat. Er hätte es verbrennen sollen.“

„Er hat gesagt, es sei nur ein schönes Gemälde, weiter nichts. Warum willst du mir die Geschichte nicht erzählen?“

Ihre Mutter warf das Messer auf den Tisch. „Weil du genug Probleme hast und nicht auch noch über dumme Spukgeschichten brüten musst.“

In Anna brodelte es. „Gut“, sagte sie und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu beherrschen. „Wie du willst. Dann werde ich Großmutter danach fragen.“ Sie schob den Stuhl zurück und stand auf.

„Das wagst du nicht.“

Anna nickte. „Das werde ich und du kannst mich nicht daran hindern.“

„Du weißt, dass sie nicht mehr ganz beisammen ist. Wahrscheinlich erinnert sie sich gar nicht, wer du bist.“ Sie erhob sich und trat neben sie. In versöhnlichem Ton sagte sie: „Tu dir das nicht an.“ Clara legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm.

„Sag mir, was du weißt, Mutter.“

„Bitte setz dich und iss etwas. Du brauchst was auf die Rippen“, sagte sie sanft.

Anna betrachtete das freundliche Gesicht ihrer Mutter und als diese ihr zunickte, wusste sie, dass sie gewonnen hatte. Sie hatte sich selbst nicht ganz wohl bei ihrer Drohung gefühlt. In Gegenwart ihrer Großmutter fühlte sie sich beklommen. Die alte Dame hatte etwas Angsteinflößendes an sich, das sie nicht in Worte fassen konnte.

Sie nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz, zog ihn dichter heran, langte nach einer Scheibe Brot und schmalzte sie sorgfältig ein. Sie nahm einen ordentlichen Bissen und kaute betont, während sie ihre Mutter ansah.

Diese schüttelte leicht den Kopf und sah zu Boden. Es wirkte, als wöge sie genau ab, was sie ihr erzählen würde und was sie lieber verschweigen wollte.

„Die Wahrheit“, sagte Anna.

„Es ist nicht viel, was ich weiß, und man kann nicht behaupten, dass ich diese Geschichte jemals geglaubt hätte. Die Frau auf dem Gemälde soll die Herrin auf eurem Hof gewesen und irgendwann auf mysteriöse Weise verschwunden sein.“

„Wann war das?“, fragte Anna und bereute augenblicklich, dass sie ihre Mutter unterbrochen hatte, denn sie erntete einen harschen Blick.

„Als ich deinen Vater heiratete, stand der Hof schon lange Zeit wüst.“ Als könnte sie ihre Gedanken lesen, fügte sie hinzu: „Ich weiß nicht, ob er zur Zeit deiner Großmutter noch bewirtschaftet wurde.“

Anna runzelte die Stirn. „Und weiter?“

„Nichts weiter. Mehr weiß ich nicht.“

„Du lügst“, fuhr Anna sie an. Als sie sah, dass ihre Mutter weiter schwieg, verengte sie die Augen zu Schlitzen. „Ganz wie du willst“, sagte sie und wollte erneut aufstehen.

Das Gesicht ihrer Mutter rötete sich, dann brach es aus ihr heraus: „Du bist nicht bei Trost. Wenn man sich mit den Verdammten befasst, dann beschwört man das Unglück wissentlich herauf.“

Annas Kiefer klappte herunter. Damit hatte sie nicht gerechnet. Im ersten Moment glaubte sie ihren Ohren nicht zu trauen. Hatte ihre Mutter gerade „die Verdammten“ gesagt? Was ging hier vor?

Clara schien über sich selbst überrascht und sah ihr in die Augen. Ihr Blick senkte sich und sie betrachtete missmutig das Schmalz auf ihrem Brot.

Das Schweigen zog sich in die Länge und Anna war sich nicht sicher, ob sie etwas sagen sollte. Sie ließ ihre Mutter nicht aus den Augen und fühlte sich unbehaglich.

Mit leiser Stimme begann Clara schließlich zu erzählen: „Die Frau soll sehr schön gewesen sein, viel schöner als auf dem Portrait. Allerdings soll sie auch ein Geheimnis gehabt haben. Manche sagen, sie sei eine Zauberin gewesen, aber wenn du mich fragst, waren das die meisten Frauen in diesen dunklen Zeiten, wenn es nach den missgünstigen Nachbarn ging.“

Anna schwieg.

„Eines Tages soll sie auf mysteriöse Weise verschwunden sein. Sie war einfach weg. Ihr Mann wurde verdächtigt etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass er sie ermordet habe. Andere sagen, er habe selbst mit dem Teufel gebuhlt und sie mit einem Schadzauber belegt, sodass sie gestorben sei. Aber niemand weiß es genau.“ Sie verdrehte die Augen. „Natürlich nicht, es ist ein albernes Märchen.“

„Daran hattest du nie einen Zweifel?“, fragte Anna vorsichtig, denn sie glaubte ihr nicht, sonst hätte sie nicht von den Verdammten gesprochen.

„Nein, selbst als die Tillmann von dort Hals über Kopf geflohen ist nicht.“

„Da hat noch jemand vor uns gelebt?“

Ihre Mutter biss sich auf die Zunge.

„Das hast du mir nie gesagt.“ Wenn sie recht darüber nachdachte, auch Johann nicht. Warum hatte man ihr das verheimlicht? „Was war mit dieser Tillmann?“

Die Stimme ihrer Mutter klang verächtlich, als sie sagte: „Bernhardette Tillmann war nicht ganz recht da oben.“ Sie hob den Zeigefinger an die Schläfe und ließ ihn kreisen. „Sie wohnte vielleicht zwei Wochen dort, als sie schreiend zu ihren Nachbarn rannte und lautstark behauptete, sie habe einen Geist gesehen. Die Wemschere hat mir davon erzählt. Sie sagte damals, Bernhardette habe die blanke Angst im Gesicht gestanden. Auf ihre Nachfragen hin beschrieb sie eine durchscheinende, rauchfarbene Dame. Noch am selben Tag hat sie ihr Hab und Gut holen lassen und ist angeblich nach Münster zu ihrer Schwester gezogen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Seither erzählt man sich, dass es dort spukt und man bringt das in Verbindung mit der Frau, die damals verschwand.“ Sie biss von ihrem Brot ab und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Aber wenn du mich fragst, ist das der blanke Unsinn.“

„Aber wenn die Tillmann wirklich was gesehen hat?“

Ihre Mutter stieß einen schnippischen Ton aus. „Was soll sie schon gesehen haben? Sie hat wahrscheinlich einen über den Durst getrunken und sich was fabriziert.“

Sie aßen schweigend und Anna hing ihren Gedanken nach. Was wenn die Tillmann tatsächlich einen Geist gesehen hatte. Was wäre, wenn Rita ihr die Wahrheit gesagt hatte und die unruhige Seele dieser Frau auf ihrem Hof spukte? Die Wemschere konnte sie zu dem Vorfall nicht befragen. Sie war vorletztes Jahr verstorben und ihre Großmutter war wirklich nicht mehr in der geistigen Verfassung, um sich an diese Geschichte erinnern zu können. Es schien ihr wahrscheinlich, dass auch sie bald in das Reich des Herrn eingehen würde. Verbittert stellte sie fest, dass sie umgeben war vom Tod. Überall lauerte er und nahm die Menschen fort vom Antlitz dieser Erde.

Am frühen Nachmittag verabschiedete sie sich von ihrer Mutter und begab sich auf den Heimweg. Es war ein Fußmarsch von etwa einer Stunde, doch das Wetter war so schön, dass es ihr nichts ausmachte. Es wehte ein laues Lüftchen, die Vögel zwitscherten und kündeten vom nahenden Frühling. Grund genug, um positiv in die Zukunft zu sehen. Der Lenz machte alles neu. Das Leben erwachte, erste Schmetterlinge flogen – alles würde gut werden, wäre da nicht diese Sorge, die sie mit sich trug und die Trauer um ihr Kind. Sollte es wirklich der Wahrheit entsprechen, dass es auf dem Hof spukte, was bedeutete das für sie? Würde es überhaupt möglich sein, Glück zu finden, solange sie heimgesucht wurde? Insgeheim gab sie zu, dass sie diese Sage beunruhigte. Alles schien darauf hinzudeuten, dass mehr dahinter steckte, als eine bloße Geschichte. Wenn Bernhardette Tillmann tatsächlich einen Geist gesehen hatte, auf ihrem Hof, dann … Ja, was dann? Was sollte sie dagegen tun? Würde man sie für verrückt halten, wenn sie daran glaubte? Nichts lag ihr ferner, als ihren guten Leumund zu riskieren. Üble Nachrede war etwas, das Johann und sie zugrunde richten konnte.

Sie würde Stillschweigen bewahren müssen. Niemand durfte je erfahren, dass Rita bei ihr gewesen war. Das musste ihr Geheimnis bleiben.

An der Weggabelung nach Lymbergen blieb sie stehen und ließ den Blick über die weiten Felder schweifen. Dann machte sie unvermittelt kehrt und wandte sich nach Osten. Sie ließ Buldern rechter Hand liegen und lief in Richtung Hangenau. Sie ging bis zum Ortsrand und folgte dem leise murmelnden Bach bis zum Kotten ihrer Großmutter. Vor der Tür zögerte sie, doch dann sammelte sie all ihren Mut zusammen und klopfte verhalten.

Kaum eine Minute verstrich, als die Tür auch schon geöffnet wurde. Martha, eine Frau mittleren Alters, die sich schon seit zwei Jahren um ihre Großmutter kümmerte, musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie sagte missmutig: „Sie ist nicht in der Verfassung, Besuch zu empfangen.“

Das wird sie nie sein, dachte Anna und je länger sie warten würde, desto weniger wahrscheinlich war eine Aussicht auf Erfolg. Sie schob sich kurzerhand an Martha vorbei und sagte: „Das ist mir gleich. Ich muss jetzt mit ihr sprechen.“

Sie hörte die Angeln der Tür knarren, als Martha sie schloss und deren Schritte, die ihr durch den düsteren Flur folgten. Vor dem Zimmer ihrer Großmutter zögerte sie.

Martha musste es bemerkt haben, denn sie flüsterte: „Sie wird dich nicht erkennen. Bist du sicher, dass du da rein willst, Mädchen?“

Sie straffte ihre Schultern. „Ich bin schon lange kein Mädchen mehr“, sagte Anna bestimmt und öffnete die Zimmertür. Die Vorhänge waren zugezogen und im Raum herrschte Dämmerlicht. Ein schaler Geruch hing in der Luft, nach Alter und Tod. Augenblicklich fühlte sie sich unbehaglich. Sie bewegte sich leise; schlich förmlich auf spitzen Zehen zu dem Bett, in dem sie eine Gestalt wahrnahm. Als sie näher herankam, erkannte sie ihre Großmutter kaum. Sie lag mit einem großen Kissen im Rücken halb aufgerichtet im Bett. Das Gesicht war eingefallen und die blasse, faltige Haut wirkte wie vertrocknetes Pergament. Ihr Atem ging rasselnd, was den Eindruck des Dahinsiechens verstärkte. Die alte Frau starrte an die Decke und schien nicht bemerkt zu haben, dass jemand den Raum betreten hatte.

„Großmutter?“

Langsam wandte diese den Kopf und sah sie an, jedoch kam es Anna vor, als starrte sie durch sie hindurch.

Die Stimme der alten Frau krächzte, als sie fragte: „Wer bist du?“

„Ich bin Anna, deine Enkeltochter“, sagte sie.

„Anna?“

„Ja.“

„Ich kenn’ dich nicht.“

„Du erinnerst dich nur nicht an mich. Du bist sehr krank.“

Die Frau nickte schwach und sagte im Brustton der Überzeugung: „Das weiß ich.“

„Woran kannst du dich denn erinnern?“

„Weiß ich nicht.“

„Erinnerst du dich an früher, als du noch jung warst?“

„Ich war ein hübsches Mädchen“, sagte sie matt.

„Ja, das stimmt“, bestätigte Anna. „Erinnerst du dich an den Lymberger Hof und die Leute, die dort lebten?“

„Da wohnt keiner“, sagte sie.

„Ich wohne da“, sagte Anna. „Aber da haben auch früher schon Leute gelebt.“

Die alte Frau schüttelte langsam den Kopf. „Da lebt keiner. Niemand will das.“

„Warum nicht?“, hakte Anna nach.

Ihre Großmutter schwieg und sah wieder zur Zimmerdecke hinauf.

„Bitte“, flüsterte Martha. „Das strengt sie zu sehr an. Sie erinnert sich nicht. Lass es dabei bewenden.“

„Aber sie muss“, brauste Anna auf. „Es ist wichtig.“

„Was könnte daran wichtig sein?“, fragte Martha. „Wir alle kennen die Gerüchte über den Hof. Deine Großmutter weiß auch nicht mehr.“

„Woher willst du das wissen?“

„Anna, sei dir gewiss, wir fühlen mit dir, aber du solltest dich nicht mit diesen Geschichten abgeben. Der Herrgott hat deine Kinder zu sich genommen, aber er wird dir bald ein anderes schenken. Belaste dich nicht mit diesem Märchen.“

Die alte Dame regte sich unter der Decke und sah Anna an. „Ist dein Kind gestorben?“

Anna kniff die Lippen zusammen und nickte.

„Das ist ihr auch passiert.“

Anna stutzte. „Wem?“

„Der Leugerschen.“

Anna sah zu Martha, doch diese zuckte mit den Schultern und verzog die Mundwinkel.

„Wer ist die Leugersche?“, fragte Anna, doch die alte Dame antwortete nicht.

„Du musst jetzt gehen“, mischte sich Martha ein und wandte sich zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie stehen, sah sie auffordernd an und trat dann in den Flur.

Anna sah noch einmal zu ihrer Großmutter. Mitleid ersetzte ihr Unbehagen. Sie beugte sich zu ihr herunter und strich ihr eine weiße Haarsträhne aus der Stirn.

Plötzlich schoss eine Hand unter der Bettdecke hervor und packte sie am Arm. Die Frau zog sie mit ungeahnter Kraft zu sich herab, bis ihre Lippen fast ihr Ohr berührten. Dann hörte sie sie zischen: „Halte dich von dorte fern.“ Sie ließ die Hand sinken und starrte wieder an die Decke.

Das Herz schlug Anna bis zum Hals. Sie wich einen Schritt zurück und forschte in den Zügen der Großmutter nach irgendeiner Art von Erkenntnis, doch sie starrte genauso reglos, wie in dem Moment, als sie das Zimmer betreten hatte.

Langsam wandte sie ihren Kopf und sah sie an. Ihre Stimme krächzte, als sie fragte: „Wer bist du?“

Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder

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