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Tag 2 Noch ein weiter Weg vor der Nacht An den Enden der Erde
ОглавлениеAm nächsten Morgen kommen wir in aller Frühe an einer maroden Flugzeughalle an. Vier Personen begleiten mich: außer Sigs, Chris und Aaron auch Nabin, der in diesem Land geboren ist und nun mit Aaron zusammenarbeitet. Er wird bei den Begegnungen mit Einheimischen für uns dolmetschen.
Aaron ruft uns zu sich und sagt: „Wir befinden uns hier ungefähr 1 500 Meter über dem Meeresspiegel, werden aber gleich bis auf fast 4 000 Meter aufsteigen. Deshalb empfehle ich euch dringend, diese Tabletten als Vorbeugung gegen Höhenkrankheit zu nehmen, bevor wir abheben.“
Er reicht jedem von uns eine Tablette. Wir nehmen seine Warnung ernst, schlucken das Medikament auch gleich und spülen es mit Wasser aus unserer Wasserflasche hinunter.
Als wir auf den wartenden Hubschrauber zugehen, werde ich zusehends nervös. Ich muss an den bisher einzigen Helikopterflug meines Lebens denken. Ich war zum Predigen nach Hawaii eingeladen worden und hatte gerne zugesagt. Meine Frau begleitete mich. Als Heather und ich an einem Tag etwas Zeit für uns fanden, machten wir einen Hubschrauberrundflug über die Berge. Während meine Frau den Ausblick auf die Wasserfälle sichtlich genoss, blickte ich stur auf die Tasche auf meinem Schoß und machte mich darauf gefasst, jeden Moment mein Mittagessen wieder von mir zu geben. Es war keine gute Erfahrung.
Jetzt kommt der Pilot zu uns herüber und warnt uns insbesondere vor der Gefahr, von den Rotoren getroffen zu werden: „Nähern Sie sich dem Helikopter immer von vorne, wo ich Sie sehen kann, und nehmen Sie nach dem Aussteigen denselben Weg zurück“, erklärt er. „Gehen Sie tief geduckt und drücken Sie Ihr Gepäck ständig an sich. Halten Sie nichts über Augenhöhe, damit es nicht weggeblasen wird. Und sollte das doch passieren, versuchen Sie nicht, es wieder einzufangen. Denn damit riskieren Sie, einen Arm zu verlieren, nur um Ihren Hut zu behalten.“
„Und noch etwas“, fügt er mit einer Miene hinzu, die nahelegt, dass dies schon viele Leute versucht haben, „bleiben Sie auf keinen Fall unter den laufenden Rotoren stehen, um ein Selfie zu schießen. Steigen Sie zügig ein und aus.“ Langsam lässt jeder von uns sein Handy in die Hosentasche gleiten.
„Wenn Sie sitzen, dann schnallen Sie sich an und genießen Sie den Flug“, schließt der Pilot seine Anweisungen. „Sollte es einen Notfall geben, bleiben Sie ruhig und folgen Sie meinen Anweisungen.“
Ernüchtert von der Tatsache, dass ein Notfall im Bereich des Möglichen ist, versammeln wir uns etwas befangen zu einem Gruppenbild vor dem Hubschrauber (bevor die Rotoren starten!). Danach laden wir unsere Rucksäcke in die auf der Seite angebrachten Körbe, klettern auf unsere Sitze und schnallen uns an. Der Pilot startet die Rotoren und der Lärm des Hubschraubers erfüllt die Kabine. Da es nun praktisch unmöglich ist, irgendein Wort zu verstehen, ist jeder von uns mit seinen Gedanken alleine.
Wir heben langsam ab und bald zeichnet sich eine traumhafte Szenerie ab. Mittlerweile haben wir Lärm, Staub und Verkehrschaos hinter uns gelassen und sehen unter uns eine bunte Mischung aus weißen, gelben und orangefarbenen Gebäuden. Vor unseren Augen dehnt sich ein schier endloser Großstadtdschungel, den hier am Fuße des Himalaja Millionen Menschen ihr Zuhause nennen. Nach und nach können wir die Gipfel, die die Einheimischen „Hügel“ nennen – in 1 800, 2 500 und 3 000 Metern Höhe –, von oben betrachten. In anderen Teilen der Welt würden sie als höchst imposante Berge gelten. Nicht so hier.
Dem Großstadtdunst entronnen, begreifen wir nun auch, warum sie als „Hügel“ bezeichnet werden. Denn plötzlich tauchen Berge vor unseren Augen auf, die bis in den Himmel zu reichen scheinen. Sie sind so hoch, dass ich den Kopf weit in den Nacken legen muss, um einen Blick auf ihre Gipfel zu erhaschen. Die Szenerie ist atemberaubend. Unter uns ein sattgrünes Tal, wie ein saftiges Band aus Wäldern und Feldern, das sich zwischen den Bergen hindurchzieht. Aber ich kann die Augen gar nicht abwenden von den Gipfeln, die sich vor uns auftürmen und deren schneebedeckte Häupter in der Morgensonne glitzern, als seien sie mit weißen Juwelen besetzt.
Ein Lächeln geht über mein Gesicht. Ich bin wie ein kleines Kind, das ein unerwartetes Geschenk bekommt. Diese majestätischen Berge liegen nun direkt vor meinen Augen. Kurz überlege ich, ob ich nicht mein Handy herausziehen und ein Foto schießen soll, aber ich weiß genau, dass es dem Anblick nicht gerecht würde. So sitze ich einfach da und nehme staunend und ehrfürchtig alle Eindrücke in mich auf.
Die nächsten dreißig Minuten schwebt der Hubschrauber zwischen diesen Riesen hindurch. Ich habe schon von Bergen wie Mount Everest, Annapurna, Manaslu und Lhotse gehört, aber nun darf ich solche Giganten mit eigenen Augen sehen. Ich bin überwältigt von ihrer majestätischen Größe und dem Gefühl der Verletzlichkeit, das sie in mir auslösen.
Flüge wie dieser sind gefährlich. Wenn es jetzt ein Problem gibt, ist es aus mit uns, schießt es mir durch den Kopf. Ich komme mir vor, als sei ich mit einem Floß ein wenig zu weit aufs Meer hinausgefahren: Für einige Sekunden fühlt man sich hilflos, bis man es schafft, wieder näher an den Strand zu paddeln. Aber die Furcht beim Fliegen hoch über diesen Tälern zwischen den gewaltigen Bergen hindurch währt länger als einige Sekunden. Still bete ich um unsere Sicherheit und merke, dass dieses Gefühl von Hilflosigkeit, von Verletzlichkeit so schnell nicht vergehen wird.
Der Gedanke an Psalm 65 tröstet mich:
… du Gott, der uns Rettung schenkt,
du Zuversicht aller, die auf der Erde wohnen,
von den abgelegensten Enden bis zu den fernsten Meeresküsten.
Du bist es, der die Berge gründet in seiner Kraft,
Stärke umgibt dich.
Das Tosen der Meere bringst du zur Ruhe,
das Brausen ihrer Wogen genauso wie den Aufruhr der Völker.
Selbst in den fernen Gegenden der Erde haben die Menschen große Ehrfurcht vor deinen Wundern … (Psalm 65,6–9).
Die letzte Zeile sagt alles. Ich fühle mich, als sei ich dort – buchstäblich an den Enden der Erde –, und ich kann tatsächlich nur ehrfürchtig staunen vor seinen Wundern. Nun bin ich ruhiger. Der Psalm hat mich daran erinnert, dass mein Leben in den Händen des Einen liegt, der „die Berge gegründet“ hat.
Als sich der halbstündige Flug seinem Ende zuneigt, dreht der Hubschrauber einige Kreise und landet auf einer kleinen, aber ebenen Hochfläche in einem Ort namens Bumthang. Da der Pilot sofort wieder zurückfliegen will, lässt er die Rotoren laufen. „Steigen Sie aus, nehmen Sie Ihr Gepäck an sich und gehen Sie schnell zur Seite“, schreit er.
Im Gänsemarsch flüchten wir geduckt und mit gesenktem Kopf aus der Gefahrenzone, unsere Rucksäcke an uns gedrückt. Als wir in Sicherheit sind, beobachten wir, wie der große Vogel abhebt und wieder ins Tal hinunterschwebt. Schon bald ist er aus unserem Sichtfeld verschwunden. Der Lärm des Helikopters weicht einer großen Stille. Wir stehen regungslos da, völlig verzaubert von der großartigen Kulisse, die uns umgibt.
„Und, was sagt ihr?“, bricht Aaron das Schweigen mit einem wissenden Lächeln.
Als Prediger bin ich nur selten sprachlos, aber in diesem Augenblick bin ich es tatsächlich.