Читать книгу Etwas muss sich ändern - David Platt - Страница 18
Ausbruch der Cholera
ОглавлениеNach einiger Zeit wird der Weg breiter und führt vom Bergrücken weg. So können wir wieder nebeneinanderher gehen. Oder auch ab und zu eine kleine Pause einlegen und mit Passanten plaudern.
Genau dies geschieht, als Aaron einen Mann sieht, der uns mit seinem etwa einjährigen Sohn entgegenkommt. Als sie einander erblicken, lächeln sie sich an und umarmen sich herzlich. Aaron bedeutet unserer Gruppe stehen zu bleiben und stellt uns einander vor: „Das sind Sijan und sein kleiner Sohn Amir.“
Mittlerweile haben wir alle den Gruß der Einheimischen gelernt, begrüßen sie in ihrer Sprache, lächeln und deuten eine Verbeugung an.
„Sijan und Amir kommen aus einem Dorf, das dort direkt am Weg liegt“, erklärt Aaron und zeigt auf einen Bergrücken zu unserer Linken. „Vor nicht einmal einem Jahr ist kurz nach Amirs Geburt in diesem Dorf die Cholera ausgebrochen. Ich weiß nicht, wie viel ihr über diese Krankheit wisst. Sie wird durch Bakterien in Nahrungsmitteln oder Trinkwasser ausgelöst und kann tödlich enden.“
Das erinnert mich daran, dass Aaron uns von Anfang an eingeschärft hat, nur kochend heißen Tee und gefiltertes Wasser aus unseren Wasserflaschen zu trinken.
„Menschen, die verseuchte Nahrungsmittel gegessen oder kontaminiertes Wasser getrunken haben, bekommen wässrigen Durchfall und trocknen sehr schnell lebensbedrohlich aus“, fährt Aaron fort. „Mit den richtigen Mitteln ist Cholera einfach zu behandeln. Die Patienten bekommen Lösungen zu trinken, die den Flüssigkeitshaushalt auffüllen, kombiniert mit Antibiotika. Damit erholen sich 99 Prozent schnell. Bleibt Cholera jedoch unbehandelt, sterben Kinder und auch Erwachsene innerhalb weniger Tage, manchmal sogar innerhalb weniger Stunden.“
Aaron hält inne, blickt Sijan und Amir bedeutungsvoll an und redet weiter. „Genau das ist in Sijans Dorf passiert. Durch mangelnde Hygiene und verschmutztes Wasser haben sich die Menschen mit Cholera infiziert und sie hat sich rasant ausgebreitet. Mittel zur Behandlung gab es nicht und innerhalb von Stunden hatten sich Menschen aller Altersgruppen angesteckt. Nach ein paar Tagen waren sechzig von ihnen gestorben.“
Wir sind fassungslos. Können Sie sich vorstellen, dass sechzig Menschen in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft innerhalb von zwei Tagen an Durchfall sterben, darunter auch nahe Angehörige?
„Fast jeder Haushalt war betroffen“, berichtet Aaron. „Zu den sechzig Toten zählten auch ein Sohn und eine Tochter von Sijan, Amirs ältere Geschwister.“
Und als sei dies alles noch nicht genug, erzählt Aaron uns noch den Schluss der Geschichte. „Diese traumatische Erfahrung hat Sijans Ehefrau – Amirs Mutter – in eine tiefe Depression und Verzweiflung gestürzt. Sie wurde nicht damit fertig, zwei ihrer drei Kinder verloren zu haben, dazu so viele Freunde und Verwandte. Eines Tages nahm sie einen Strick und erhängte sich damit an einem Baum.“
Während Aaron uns diese tragischen Ereignisse auf Englisch berichtet, blicken wir zu Sijan hinüber. Er versteht die Worte nicht und beachtet Aaron deshalb gar nicht so sehr. Stattdessen sieht er seinen Sohn an, den er in den Armen hält. Vor einem Jahr hatte er noch eine Frau und drei Kinder. Nun lebt er mit seinem kleinen Jungen alleine.
„In der Zeit nach dem Tod seiner Frau vertraute Sijan Amir anderen Frauen im Dorf an, die ihn stillten und damit am Leben hielten.“
Während ich diese Geschichte höre und den Vater mit seinem Sohn so ansehe, deren Leben sich für immer verändert hat, muss ich an einen Zeitungsartikel denken. Es war darin von 725 Cholerafällen im Jemen die Rede. Die Weltgesundheitsorganisation sprach vom „schlimmsten Choleraausbruch weltweit“1. Auf diesem Pfad in den Bergen geht mir ganz neu auf: Diese Cholerafälle sind nicht einfach nur Zahlen. Es sind Menschen wie Sijan und Amir. Es sind kleine Jungen und ihre Väter, Mütter und ihre Töchter, es sind Großeltern – sie alle sterben an vermeidbaren Krankheiten. Welch unermessliche Not!
Vor meiner Abreise zu dieser Tour hat einer meiner Söhne ein Armband gebastelt. Ich solle es auf meiner Reise einem Kind schenken. Natürlich weiß ich sehr gut, dass ein Armband nicht das ist, was Amir im Moment am nötigsten hat. Dennoch möchte ich ihm und seinem Vater etwas schenken und ihnen damit zeigen, dass Menschen auf der anderen Seite des Erdballs an ihrem Ergehen Anteil nehmen. Ich ziehe also das Armband aus der Tasche und sage (übersetzt von Aaron) zu Sijan: „Mein kleiner Sohn hat dieses Armband für Ihren kleinen Sohn gebastelt. Ich möchte es Ihnen schenken. Sie sollen wissen, dass meine Familie für Sie betet.“
Sijan nimmt das Armband und streift es lächelnd seinem Sohn über das Handgelenk. Während ich zusehe, wie Amir zu ergründen versucht, was es mit diesem Ding auf sich hat, unterhalten sich Aaron und Sijan noch ein wenig. Dann verabschieden wir uns und ziehen weiter.
Aaron geht neben mir und erzählt: „Als wir von diesem Choleraausbruch gehört hatten, haben wir sofort Frischwasserfilter und ein Wasserreinigungssystem in Sijans Dorf gebracht. Dem kleinen Amir konnten wir mit einer speziellen Behandlung helfen.“
„Das ist fantastisch, Aaron“, entgegne ich. Ich bin dankbar, mit jemandem unterwegs zu sein, der angesichts der drückenden Not tatsächlich konkrete Hilfe leistet.