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Zu guter Letzt

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Die Geschichte ist wohl erfunden, könnte aber ebenso gut wahr sein: Ein begeisterter Bewunderer nähert sich nach einem Konzert dem unnahbaren Jascha Heifetz und schwärmt: »Oh, Herr Heifetz, ihre Geige klingt so wundervoll.« Heifetz blickt nachdenklich auf seine Guarneri del Gesù und antwortet: »Ich höre nichts.« Offensichtlich ist der wahre Held der Spieler, erst dann kommt die Violine, in diskretem Abstand gefolgt von ihrem schemenhaften Erbauer. Der Bogen, ein entscheidendes Accessoire, kommt allerdings kaum vor.

Dabei ist es – wie jeder Lehrer lehrt und jeder Spieler weiß – in der Tat der Bogen, der das Instrument zum Sprechen und Singen bringt. Ohne ihn wäre |133| nicht einmal ein Heifetz ein Heifetz, und eine Guarneri könnte genauso gut eine viersaitige Gitarre sein. »Streichen Sie, oder spielen Sie gar nicht«, erklärte schon 1676 Thomas Mace in seinem Musick’s Monument. Dennoch, so versicherte im Jahr 1922 ein Autor glaubwürdig zum Thema, haben von 20 Geigern, die sich einiger Geigenkenntnisse rühmen, »kaum drei ein vergleichbares Interesse am Bogen«, und er fuhr fort: »Was die Wahrnehmung der Eigenschaften eines Bogens als Kunstwerk betrifft, die bei wahren Geigenkennern normal ist, so gibt es sie außerhalb eines kleinen Kreises von Bogenbauern überhaupt nicht.«399

Im selben Jahr 1922 schickten die Gebrüder Hill den 14-jährigen Lehrling Arthur Bultitude trotz seiner lebhaften Proteste in die Bogenabteilung. Zumindest nach mündlicher Überlieferung gab es die Abteilung seit 1892, als Samuel Allen, der einzige Bogenmacher der Werkstatt, diese wegen einer Meinungsverschiedenheit über die innere Autonomie für Irland mit seinem Arbeitgeber Alfred Hill verließ. Hill ersetzte ihn durch William Retford und William Napier aus der Geigenkastenabteilung. Keiner der beiden hatte Erfahrung in der Herstellung von Bögen, doch sie konnten sich damit trösten, dass sie deshalb auch nichts verlernen konnten, und fanden für sich eine Arbeitsteilung, die bis 1985 bestand. Verschiedene Angestellte waren für verschiedene Teile verantwortlich, die dann zusammengefügt wurden. Im Ersten Weltkrieg wurden ältere Mitarbeitende durch Jugendliche ersetzt, die – frisch von der Schule kommend – verfügbar, billig und zu jung waren, um eingezogen zu werden. 1920 wurde beschlossen, ihre Arbeiten zu nummerieren und das jeweilige Erzeugnis entsprechend zu kennzeichnen.400

In den 39 Jahren zwischen seinem Eintritt in die Firma und 1961, als er sie verließ, um einen eigenen Laden zu eröffnen, sollte Bultitude Tausende von Bögen mit dem Stempel »W. E. Hill & Sons« herstellen, eine Nachfolgegeneration englischer Bogenbauer ausbilden und unter seinen Kollegen zu einer Legende werden. Unter seinem eigenen Namen stellte er dann ein paar Tausend weitere Bögen her und verkaufte sie auch, wie er sich in einem Interview erinnerte. »Ich nehme an […], ich zeigte eine gewisse Eignung für die Detailarbeit und vielleicht ein eher ungewöhnliches Maß an Geduld.«401 Für seine Verdienste um den Handel wurde er Mitglied des Most Excellent Order of the British Empire. Das war zwar die niedrigste der fünf Klassen des Ordens, doch immerhin teilte er diese Ehre mit dem Geigenbauer William Luff, einem Kollegen bei Hill’s, und den Beatles.402

Zu den Kandidaten für die sprichwörtlichen 15 Minuten Ruhm gehörte der sogenannte Bach-Bogen. Emil Telmányi, ein in Dänemark lebender Schützling des ungarischen Meisters Jenő Hubay und Schwiegersohn des Komponisten Carl Nielsen, hatte den dänischen Bogenbauer Kurt Vestergaard um die Anfertigung eines Bogens gebeten, der mit einer konvexen, 10 Zentimeter über den Haaren liegenden Stange und einem durch den Daumen bedienbaren Hebel |134| versehen war, der es erlaubte, die Spannung zu verändern, je nachdem, ob man auf einer, drei oder vier Saiten spielen wollte. Bewaffnet mit Vestergaards Schöpfung spielte Telmányi dann Bachs Solosonaten und Partiten für Violine ein. Die Idee ging auf Albert Schweitzer und Arnold Schering zurück, zwei Musikologen des frühen 20. Jahrhunderts, die annahmen, dass Bach, der für Violine sowohl akkordisch als auch polyphon komponierte, über einen Steg gespannte Saiten gewiss begrüßt hätte. Die Wirkung war, wie Jeremy Eichler beschrieb, die von mehreren Geigern oder einer »dunkel eingefärbten und geheimnisvollen« Orgel. Einige Zuhörer fühlten sich an ein Akkordeon erinnert. Aber es hatte mit nichts zu tun, das Bach jemals selbst gehört hatte. Telmányis Bach-Bogen war – wiewohl im Namen der Werktreue entworfen – im Grunde eine Verbindung von Fantasie und wörtlicher Auslegung und mehr oder weniger so authentisch wie Bach auf dem Synthesizer oder in einer Bearbeitung der Swingle Singers.403

Während die Violine Generationen von guten und großartigen Dichtern als Motiv und Metapher diente und die Bratsche für unzählige Witze gut war, blieben der Bogen und seine Hersteller Dornröschen ohne einen Prinzen. Der Roman Der magische Bogen von Manuel Komroff (1940) und dessen Verfilmung (1947)404 waren zwar in dieser Hinsicht eine seltene und außergewöhnliche Einladung, kamen aber kaum über den Titel hinaus, ehe das Drehbuch den Bogen verschwinden ließ. Stewart Granger spielte Paganini. Paganini spielte eine Strad. Der Bogen spielte wie üblich die zweite Geige. »Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich von dem einen Händler in der 75. Straße einen Bogen kaufen und ihn gegenüber mit Gewinn an einen anderen wieder verkaufen konnte«, erinnerte sich Paul Childs an seine New Yorker Studienzeit in den späten 1960er-Jahren. Aus solchen Zitronen machte Childs Limonade, indem er zum angesehensten Experten für Bogenbau und für Bogenbauer seiner Zeit wurde.405 Es dauerte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, bis die Preise für französische Bögen des 18. und 19. Jahrhunderts so anstiegen wie die für italienische Violinen. So gewannen die Bögen zumindest etwas Respekt.

In der allgemeinen Geringschätzung lag weder Gerechtigkeit noch Logik. Der Bogen mit seiner logarithmischen Kurve,406 der eleganten Wölbung, der Feinmechanik und Juwelierskunst seiner Fertigung war ein Wunder an funktionalem Design, und seine Hersteller verfügten über Fähigkeiten, um die sie sogar ein Geigenbauer beneiden konnte. Bultitude erklärte dazu mit der für ihn charakteristischen Untertreibung: »Es ist eine schöne Arbeit, und sie ist vielseitig, da sie mehr als nur ein Medium umfasst. Sie müssen auch ein wenig Silber- oder Goldschmied sein, in Schildpatt und Ebenholz arbeiten und natürlich die Hauptsache, die Stange, herstellen.«407 Retford, der Gründungsvater der Bogenabteilung bei Hill’s, brachte in diese Mischung noch die Fähigkeiten eines Tischlers, Werkzeugmachers, Ingenieurs und sogar eines Musikers ein.408 Henryk Kaston hatte Wanda Landowskas Cembalo gestimmt, war aus |135| dem von Deutschen besetzten Frankreich entkommen, musizierte mit Albert Einstein im Quartett, spielte 35 Jahre im Orchester der Metropolitan Opera und entwarf Schmuck für den Vatikan, das Smithsonian und das Metropolitan Museum, während er Bögen für solche Größen wie Heifetz, Isaac Stern und Shlomo Mintz machte. Er fand ebenfalls die Zeit, Mitautor einer bahnbrechenden Monografie über François Tourte, unter den Bogenmachern das Gegenstück zu Stradivari, zu werden.409

Der Nachlass des älteren Pietro Guarneri enthielt 16 fertige und unfertige Bögen. Ein Brief an Tarisio von Paolo Stradivari und Entwürfe, die unter den Papieren seines Vaters gefunden wurden, lassen vermuten, dass Stradivari ebenfalls Bögen herstellte. Dies blieb jedoch von seinen Zeitgenossen unbemerkt, und für die Gebrüder Hill war die Existenz der Zeichnungen eine Überraschung.410 Es sollte noch ein Jahrhundert vergehen, bis französische und englische Bauer Bögen herstellten, die nunmehr als gleichwertig mit den frühesten Amatis angesehen wurden, ihre Erzeugnisse signierten und damit ein eigenständiges Handwerk schufen.

Die dazwischenliegenden Jahre sind ebenso geheimnisvoll wie die Vorgeschichte der Violine. Boydens Maßstäbe setzender Klassiker endet mit Absicht im Jahr 1761, jenem Jahr, in dem Joseph-Barnabé Saint-Sevin, in Fachkreisen als L’Abbé le Fils bekannt, in Paris seine Principes du violon veröffentlichte. Sevins Handbuch sollte nicht nur die alte italienische von der neuen französischen Schule des Geigenspiels abgrenzen, sondern auch den neuen Bogen vorstellen, der alle Vorgänger noch schneller hinwegfegen sollte, als es die Violine getan hatte.411

»Unser Wissen über den Bogen des 16. Jahrhunderts ist vollkommen von der Ikonografie abhängig«,412 kommentiert Boyden das Fehlen echter Beispiele, und das gilt mit einiger Berechtigung auch für den Bogen des 17. und 18. Jahrhunderts. Auf französischen, britischen, deutschen, italienischen und niederländischen Abbildungen sind Erzeugnisse zu sehen, deren Entwicklung im Fluss zu sein scheint. Obwohl Materialien aus den Tropen – wie Schlangenholz – bewundert wurden, blieben einheimische Materialien im allgemeinen Gebrauch. Die Stangen waren mal gerillt, mal geriffelt, und obwohl sie in der Regel konvex waren, konnten Bögen auch gerade oder gelegentlich sogar konkav sein. Ihre Länge erstreckte sich von 50 bis 80 Zentimetern, und sie wurden mit Griffarten geführt, die von einer geballten Faust bis zu gelenkigen Fingern reichten. Obwohl so entworfen, dass die Hand oberhalb der Stange lag, konnte ein Bogen auch nach Gambenart mit der Hand darunter geführt werden, so wie man heute noch den Kontrabass spielt. Eine Vielzahl von Vorrichtungen, aber nicht zuletzt auch der Daumen hielt die Haare in Position und modifizierte ihre Spannung am Frosch, einem kleinen Kasten am unteren Bogenende zwischen Haaren und Stange, der in der Regel aus Ebenholz, |136| gelegentlich aus Elfenbein und sehr selten aus Schildpatt bestand. Die Haare befestigte man an der Spitze mit einer Schleife, einem Knoten oder einem Keil, der in einen verzapften Kopf gestoßen wurde.413

Grafische Darstellungen und Handbücher von den großen Spielern und führenden Lehrern – Corelli, Veracini, Locatelli, Tartini, Geminiani, Leclair, Leopold Mozart – belegen, wie ein Bogen aussehen und was er leisten sollte und wie er zu halten war, wie Gewicht, Balance, Länge, Stärke, Flexibilität und Druckreaktion ausfallen sollten und welche Rolle dabei Fingern, Handgelenken, Armen, Ellbogen und Schultern zukam. Doch der einzige gemeinsame Nenner war eigentlich, dass es keinen gab. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein ruhten französische Daumen demonstrativ auf dem Haar und italienische Daumen auf der Unterseite der Stange. Ein makelloses Legato, ein kräftiger Ansatz und der Wechsel des Bogens zwischen Auf- und Abstrich, wie sie seit dem 19. Jahrhundert weltweit gelehrt und als gegebene Tatsachen angesehen wurden – bis neue Musikwissenschaftler die Alte Musik entdeckten –, lagen immer noch jenseits des Horizonts.414

Doch war es keine Frage, dass sich der Bogen ebenso veränderte wie die Geige selbst. Nach dem Handbuch des Abbé le Fils von 1761 war auch Michel Woldemars Méthode pour le violon von ca. 1798 ein Meilenstein. Woldemar hinterließ der Nachwelt eine Illustration von vier zeitgenössischen Bögen, angeblich aus seiner eigenen Sammlung. Zusammen dokumentieren sie eine Entwicklung, die seit Woldemars Geburt im Jahr 1750 stattgefunden hatte, und alle hatten eine Verbindung zu prominenten Spielern, drei von ihnen zu prominenten Komponisten.

Der erste, kurze Bogen wurde Arcangelo Corelli, gestorben 1713, zugeschrieben und war Mitte des Jahrhunderts immer noch in Gebrauch. Mit einer Länge von maximal 61 Zentimetern war er wirklich kurz, mit einem Gewicht zwischen 37 und 42 Gramm auch leicht, und an der Spitze hatte er eine leichte aufwärts zeigende Auswölbung. Doch seit etwa 1720 gab es auch schon einen langen Bogen von 69 bis 72 Zentimetern, der angeblich von Giuseppe Tartini beeinflusst worden war. Mit 45 bis 56 Gramm war er entsprechend schwerer und im Jahr 1800 immer noch in Gebrauch.

Zu diesem Zeitpunkt konnte man die Zukunft zumindest erahnen. Das neue Modell hatte nun in etwa die Länge des langen Bogens, war aber etwas höher und schwerer. Die Stange war gerade oder leicht konkav. Im Profil glichen Kopf oder Spitze einem Beil. Für diejenigen, die es sich leisten konnten, gab es möglicherweise auch einen eleganten, aber zerbrechlichen Frosch aus Elfenbein mit einer Vertiefung am hinteren und vorderen Ende, dort, wo der Daumen des Musikers lag.

Später, als er sich überlebt hatte, sollte er als »Übergangsbogen« in die Geschichte eingehen. Unterdessen wurde er mit Wilhelm Cramer (1746–1799) |137| in Verbindung gebracht, einem Spieler in zweiter Generation und Wunderkind aus Mannheim, der sich dem Orchester seines Vaters, dem am meisten bewunderten Ensemble seiner Zeit, in erstaunlich frühem Alter angeschlossen hatte, bevor er seine Heimat für eine Solokarriere in Stuttgart verließ. Als nächstes ging er nach Paris und danach – mit einer warmen Empfehlung von Johann Christian Bach – für 20 Jahre nach London. Aber der »Cramer«-Bogen hatte mit Cramer wenig zu tun. Er wurde zuerst um 1760 in Italien gesichtet, bald auch in Wien, Paris und London, wo man ihn vielfach kopierte. Seine Beliebtheit erreichte zwischen 1772 und 1792 ihren Höhepunkt, doch das berühmte Bleistiftporträt von Ingres im Louvre bestätigt, dass Paganini den »Cramer«-Bogen noch 1819 verwendete.

Doch die Zukunft des Bogens hatte schon begonnen. »Etwa um 1785«, so schrieb Werner Bachmann später, »gelang es François Tourte (1747–1835) in Paris, einen so bemerkenswert zufriedenstellenden Bogen zu machen, dass dieser zu seiner Zeit zum beliebtesten Modell wurde und es – mit ein paar Änderungen im Detail – bis heute blieb.«415 Mit seiner Gesamtlänge von 74 bis 75 Zentimetern und einem durchschnittlichen Gewicht von 56 Gramm war er der vierte und damit letzte der von Woldemar abgebildeten Bögen. Fétis, ein gebildeter und interessierter Zeitgenosse – wenn auch selten die zuverlässigste Quelle –, schrieb ihn außerdem Viotti zu, dessen sensationelles Debüt in Paris im Jahr 1782 auch die Strad zum weltweiten Standard machte. Ob Viotti tatsächlich den Tourte-Bogen benutzte oder ein ähnliches Modell, das fast zur selben Zeit von Thomas Dodd in London entwickelt worden war, ist zwar nicht sicher,416 aber die technischen Voraussetzungen in den 31 Violinkonzerten, die Viotti ausnahmslos für sich selbst komponierte, sowie eine (Fragment gebliebene) Schrift zu Methoden des Geigenspiels, die auszugsweise 1840 veröffentlicht wurde, legen erstere Vermutung nahe. Seine Nachfolger und Schützlinge – Rodolphe Kreutzer, Pierre Rode und Pierre Gaviniès – verankerten Viottis Technik in ihren Etüden, die genau wie der Tourte-Bogen zum weltweiten Maßstab geworden sind.417

Ebenso wie bei der Geige gab es kein wirkliches Aha-Erlebnis, doch zunehmende Veränderungen hatten diesmal in Paris zu einem kritischen Bewusstsein geführt, mit dem die Menschen sowohl bei Dienstleistungen als auch bei Waren nach Qualität verlangten. Diese Veränderungen betrafen musikalische Moden, Technologie, Rohstoffe und die gesellschaftliche und sogar politische Organisation. Italien war zu einem wichtigen Exporteur von Geigen und Geigern geworden. Straßen, die einst nach Brescia und Cremona geführt hatten, führten nun nach London, das stets an reisenden Superstars interessiert war, und in ein vorrevolutionäres Paris, in dem vielleicht mehr Streicher als in jeder anderen Stadt der Zeit angestellt waren.418

Ein neuer, klassischer Stil, ein neuer Standard bei der Virtuosität, eine neue Art von Orchesterspiel, das mehr und mehr Disziplin von mehr und mehr |138| Spielern verlangte, sowie ein großstädtisches Publikum, das in größeren Sälen einen größeren Ton wünschte: All dies führte dazu, dass der lange dem kurzen Bogen vorgezogen wurde,419 und wies auch die Richtung zu einem noch neueren Bogen, der springen, unmittelbar auf den Kontakt mit der Saite reagieren und den Ton wie ein Sänger halten konnte. Das importierte brasilianische Hartholz Pernambuco war widerstandsfähiger, flexibler, belastbarer und erschwinglicher als alles, was bisher zur Verfügung gestanden hatte.420 Innovationen in der Metallurgie und Mechanik führten zur Erfindung der Zwinge, eines halbkreisförmigen Rings, der 175 bis 250 sorgfältig aufeinander abgestimmte Pferdehaare zu einem breiten, glatten Band zusammenfasste, und zu einem umgerüsteten Frosch, der es Spielern an schlechten Bogenhaar-Tagen erlaubte, deren Spannung mit dem Drehen einer Schraube auszugleichen.421 Die Zuwahl ihrer Gilde in den 1770er-Jahren zu den »éventaillistes« und »tabletiers«. (den Herstellern von Fächern und Intarsien) ebnete Bogenmachern den Weg zu bisher unzugänglichen Metall- und Holzverarbeitungstechniken und eröffnete ihnen die Möglichkeit, ihre Erzeugnisse durch die Einarbeitung von Gold, Silber, Schildpatt und Perlmutt zu Sammlerstücken werden zu lassen.422

Der Prophet des neuen Bogens, François-Xavier Tourte, wurde in eine Bogenmacher-Familie und in den Geist der Zeit hineingeboren. Er war wohl weniger ein Erfinder als ein genialer Generator von Verbesserungen, die bereits in der Familienwerkstatt ausgeführt wurden. Aber er entwickelte ein neues Verfahren zum Reinigen von Bogenhaaren mit Seife und Kleiewasser und zeigte, dass Pernambuco nicht geschnitten werden musste, sondern erhitzt und in Form gebogen werden konnte, wodurch die Fasern über die Länge der Stange bewahrt wurden.423

John Dodd (1752–1839), ein Londoner Zeitgenosse, scheint ein paar Jahre später zu einer ähnlichen Lösung gekommen zu sein. Doch mit Tourte sollte man sich an einen Meister erinnern, der in bester Lage in der Nähe der Pont Neuf arbeitete, dessen Name schon durch seinen Vater anerkannt war, der einen Laden besaß, der durch natürliches Licht beleuchtet war und den so erlesene Kunden wie Viotti aufsuchten, die erwartungsvoll die fünf Stockwerke zu ihm hinaufstiegen.424 An Dodd würde man sich als einen trinkfesten Spinner und Analphabeten erinnern, der Gewehrschlösser und Geldwaagen herstellte, Geld für Austernschalen erbettelte, »sehr regelmäßig in seinen unregelmäßigen Gewohnheiten« war, gelegentlich silberne Löffel mitgehen ließ und – vermutlich mittellos – im Armenhaus von Richmond endete.425

Tourte lebte und arbeitete nur wenige Gehminuten von der Guillotine im Epizentrum von einigen der ereignisreichsten Jahrzehnte der Geschichte; die einzigen eindeutigen Spuren der revolutionären Zeit aber finden sich paradoxerweise in der Karriere seines Sohnes. Als sei er entschlossen, Tocquevilles Vision von der Französischen Revolution als Triumph des öffentlichen Sektors |139| auszuleben, schrieb sich Louis-François Tourte im Jahr 1797 in der Celloklasse des neu gegründeten Konservatoriums ein. Von 1805 bis 1809 diente er dann im Musikkorps der kaiserlichen Garde, spielte ab 1812 im Orchester der Opéra, bis er sich aus gesundheitlichen Gründen im Alter von 52 Jahren und damit drei Jahre nach dem Tod seines Vaters in den Ruhestand begab.426

Fétis erwähnt Tourtes Leidenschaft für das Angeln, vermutlich in der Seine, die vor seiner Haustür floss. Neben Bogenmachen scheint das sein einziges Interesse gewesen zu sein. Sibires Einschätzung, Louis-François Tourte sei der »Stradivari des Genres«427 gewesen, ist vermutlich umfassender, als der Autor vorausgesehen oder gemeint hat. Tourte, der zehn Jahre nach Stradivaris Tod geboren wurde, führte wie dieser ein beeindruckend langes Leben und war dabei mit geschätzten 2000 hergestellten Bögen außergewöhnlich produktiv.

Ebenso wie bei Stradivari gibt es auch bei ihm keine Dokumente über eine abgeschlossene Lehre. Dass er ein gebürtiger Pariser war und als Sohn eines Gildemeisters zu Hause lebte, erklärt vielleicht, warum er von der Prüfung befreit war. Es könnte auch sein, dass er – wie Fétis behauptet – zunächst das Uhrmacherhandwerk erlernte, eine mit den Waagen und Schlössern von Dodd verwandte Disziplin und eine mögliche Vorbereitung für das Bogenmachen, und dann in die Familienwerkstatt zurückkehrte.428 Währenddessen stieg zwischen 1758 und 1776 allein im winzigen, waldigen Mirecourt die Anzahl von Bögen herstellenden Unternehmen von fünf auf elf.429 Ebenso wie Stradivari hinterließ Tourte nachhaltige Spuren in einem Handwerk, das bereits in voller Blüte stand.

Das Material könnte ein Problem gewesen sein. »Während er arbeitete, lagen wir im ständigen Krieg mit Frankreich, in dessen Folge sein Seehandel von unseren Schiffen gejagt wurde«, erklärte Alfred Hill einem amerikanischen Laienmusiker.430 Doch auf die Kunden traf das nicht zu. Zu ihnen gehörten Pierre Baillot, Kreutzer, Rode und der deutsche Virtuose Louis Spohr, der die moderne Geigenpädagogik auf dem von ihm erfundenen Bogen aufbaute, ebenso wie solche Sammler, die eine Strad nicht nur besaßen, sondern ihr auch ihren Namen verliehen.431 Eine Anerkennung in einem Ausmaß, wie sie vorher noch keinem anderen Bogenmacher zuteilgeworden war, folgte kurz darauf. An der Wende zum 19. Jahrhundert sah Sibire Tourte als bahnbrechend an. Im Jahr 1818 erreichte er sogar eine Unsterblichkeit, die Stradivari nie zuteilwurde, als sein Porträt in einer Sammlung von Stichen Seite an Seite mit Lupot, einem Fantasie-Abbild von Tieffenbrucker und einer weiteren Ruhmesgalerie der großen Geiger der Zeit von Leclair bis Paganini erschien.432 Eine postume Aufnahme in Fétis’ Biographie universelle des musiciens (Paris 1835–1844) und sogar in seine Stradivari-Biografie von 1856 erfolgten praktisch zwangsläufig.

Die französische Vorherrschaft auf dem Gebiet des Bogenbaus war ab Mitte des 18. bis mindestens an die Schwelle des 20. Jahrhunderts ebenso unangefochten, wie es die von Italien für die Violine gewesen war. Im Jahr |140| 1770 gab es in Frankreich vierundzwanzig bekannte Bogenmacher, in England zwei und in Deutschland gar keinen. 1810 waren die entsprechenden Zahlen achtzehn, sechs und drei; im Jahr 1850 zweiundzwanzig, drei und zwanzig. 1830 gab es in Mirecourt und Markneukirchen genauso viele Bogenmacher wie in ganz England. Erst 1870 schloss Deutschland im Bogenbau so auf wie in der industriellen Entwicklung. Das England des Freihandels, in dem die Herstellung billiger Bögen nicht mit den zollfrei eingeführten Importen433 konkurrieren konnte und wertvolle Bögen im Wesentlichen in einem Familienunternehmen in London gemacht wurden, lag weit zurück.434

Zum Teil lag der französische Wettbewerbsvorteil sicher in zugänglichem und erschwinglichem Material. Pernambuco, seit dem 16. Jahrhundert als wichtigste Quelle für die Herstellung roter und violetter Farbstoffe für Textilien, Lacke, Kosmetik, Zahnpasta und Ostereier gleichermaßen begehrt435 und geeignet, wurde von portugiesischen, niederländischen und französischen Händlern eingeführt. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an war das Holz wegen der ihm eigenen Widerstandskraft, Belastbarkeit und Verfügbarkeit zum bevorzugten Material französischer Bogenmacher geworden. Arbeitsteilige Massenproduktion trug zum Erfolg des Gewerbes – mit seinen Schwerpunkten in Mirecourt und Paris – bei. Ab Mitte der 1840er-Jahre lieferten Nicolas Maire und eine fünfzehnköpfige Belegschaft in Mirecourt jährlich 4000 Bögen an Pariser Kunden.436

Die Ausbildung von Lehrlingen erweiterte – absichtlich oder nicht – den Horizont dessen, was in vielerlei Hinsicht ein Zusammenschluss von Familienunternehmen war. Zwischen 1730 und 1970 absolvierten 80 Prozent der bekannten französischen Lehrlinge ihre Ausbildung insgesamt oder in Teilen außerhalb des Unternehmens ihrer eigenen Familie, im Vergleich zu 48 Prozent ihrer englischen und 45 Prozent ihrer deutschen Altersgenossen.437 Um ihren Horizont zu erweitern, gab es für angehende Bogenmacher kaum einen besseren Ort als Paris mit seinen reisenden Virtuosen, ansässigen Berufsspielern, Armeen von Studenten und gutsituierten Amateuren.

Die praktisch gleichlautenden Geschichten der Tubbs’, Pfretzschners, Kittels und Peccattes sagen relativ wenig über die von ihnen hergestellten Bögen aus. Aber sie beleuchten die Erfahrung und den Zustand der Subkultur, aus der sie hervorgegangen waren ebenso wie die nationalen Unterschiede, die weit über das Handwerk hinausgehen.

In Großbritannien, wo die Gildenkultur früh verkümmerte, lebten fünf Generationen der Tubbs’ in einer Welt, wie sie Dickens beschrieben hatte und in der das Handwerk vom Vater auf die Söhne überging. Sogar James (1835–1921), der bedeutendste, der schätzungsweise 5000 Bögen herstellte, produzierte einen guten Teil davon anonym für Händler. 1862 gewann ein Tubbs-Bogen für W. E. Hill eine Goldmedaille auf der Weltausstellung. James war beinahe 30 Jahre alt, verheiratet und Vater eines Sohnes, als er sich mit den Hills |141| überwarf und seine erste eigene Werkstatt eröffnete. Er zeugte weitere elf Kinder und war ebenso wie Dodd ein legendärer Trinker.438 Dies und Schwarzarbeit könnten Gründe für das Zerwürfnis gewesen sein. Tubbs brauchte sicherlich dringend jeden Pfennig, den er bekommen konnte.


Bogenmacher James Tubbs, London, ca. 1917

Die 1880er-Jahre waren ein gutes Jahrzehnt für ihn; möglicherweise war er das erste Mitglied der Familie, das in dem Gewerbe tatsächlich Geld verdiente. Seine Kunden waren der in London lebende deutsche Virtuose August Wilhelmj und Alfredo Piatti, der größte Cellist seiner Zeit. Die wachsende Kundschaft für alte italienische Geigen wandte sich an ihn, um Bögen zu erwerben, mit denen man sie spielen konnte. Der Herzog von Edinburgh machte ihn per königlichem Dekret zu seinem Bogenmacher. Die Erfinderausstellung von 1885 verlieh ihm eine Goldmedaille, doch gibt es keinerlei Hinweise auf einen sozialen Aufstieg oder auf die Gründung weiterer Werkstätten noch eine Todesanzeige in der Londoner Times, in der üblicherweise das Ableben eines bemerkenswerten Zeitgenossen angezeigt wurde. Ein Foto aus seinen letzten Lebensjahren, das aufgenommen wurde, nachdem die Ehefrau und der Sohn, der das Geschäft übernommen hatte, bereits gestorben waren, zeigt einen müden, alten Mann, der in Hut und Mantel an einer kümmerlich geordneten Werkbank arbeitet.

|142| In Deutschland, wo ein unternehmerischer Kapitalismus neben einer unzerstörbaren Gildenkultur existierte wie nirgendwo sonst, übergab Carl Richard Pfretzschner aus Markneukirchen das Handwerk an seinen Sohn Hermann Richard. Knapp drei Jahre nach dem Französisch-deutschen Krieg ging Hermann Richard für zwei Jahre zu Vuillaume nach Paris. Bei seiner Rückkehr setzte er das Gelernte in die Praxis um und gründete ein Unternehmen, das noch fünf Generationen später in Betrieb war. 1901 wurde Pfretzschner zum königlich-sächsischen Hoflieferanten ernannt, ein Jahrzehnt später zum Lieferanten des großherzoglichen Hofes von Sachsen-Weimar, was ihn wahrscheinlich zum ersten Bogenmacher mit diesen beiden Auszeichnungen machte. Etwa ein Jahrhundert nach Tourte war er Beispiel und zugleich Vorbild für das, was ein Bogenmacher erreichen konnte.

Es ist nicht ohne Ironie, dass Russlands Antwort auf Pfretzschner ein Deutscher aus Markneukirchen oder der unmittelbaren Umgebung war: Nikolaus (Nicolaus) Ferder Kittel. Er war angeblich jüdischer Abstammung und gründete mit kaum 30 Jahren in den 1820er-Jahren eine bescheidene Werkstatt in St. Petersburg. Juden waren im Bogenbau praktisch unbekannt, und St. Petersburg verwehrte ihnen den legalen Aufenthalt. Doch deutsche Händler gehörten ebenso zur Landschaft wie die Pariser Mode. Nikolaus I., seit 1825 Zar, ernannte Kittel zum Instrumentenbauer des Hofes. Henri Vieuxtemps, 1846 zum Sologeiger an den Hof bestellt, war von Kittels Bögen so begeistert, dass bald ganz St. Petersburg sie haben wollte. Nach Kittels Tod im Jahr 1868 übernahm sein Sohn Nicolai die Werkstatt in den gleichen bescheidenen Räumlichkeiten, wurde ebenfalls zum Hofbogenmacher ernannt und beauftragt, das kaiserliche Orchester mit Instrumenten und Bögen zu versorgen.439

Die Werkstatt wurde – wie ihre Pendants im Westen – vor allem wegen der Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter bewundert, von denen die meisten Deutsche waren und alle, wie Heinrich Knopf, der später nach Berlin zurückkehrte und dort Kittel-Bögen herstellte, deutsch sprachen. Dass das Bogenmachen meistens von Mitarbeitern ausgeführt wurde, spielte kaum eine Rolle, denn gut war eben gut. Leopold Auer traf mit zwei Kittel-Bögen in Amerika ein. Einer von ihnen, den er seinem brillantesten Schützling vermachte, wurde der Favorit von Heifetz.440 Selten war aber auch selten. In den 1960er-Jahren wurde geschätzt, dass nur 250 bis 500 bekannte Kittel-Bögen im Umlauf waren, drei Viertel davon in den Vereinigten Staaten. 1999 wurde ein mit Gold- und Schildpatt montierter Kittel-Bogen bei Sotheby’s mit einem Startpreis von 10.000 bis 15.000 Pfund angeboten und für 51.000 Pfund verkauft.441

Es war jedoch in Frankreich, wo die vorindustrielle Tradition fast nahtlos mit bürgerlicher Tugend verschmolz, sodass der revolutionäre Bogen den durchweg bürgerlichen Bogenmacher schuf. Die Generationen von Peccattes sind genauso repräsentativ für ihre Zeit und ihren Ort wie die Generationen der |143| Guarneris. Dominique, als ältester Sohn 1810 in Mirecourt geboren, wurde 1826 von François Vuillaume angestellt, um seinen Bruder Jean-Baptiste in Paris zu unterstützen. Vuillaume senior setzte ihn sofort an die Herstellung von mit »Vuillaume à Paris« gestempelten Bögen. Seine Befreiung vom Militärdienst vier Jahre später legt nahe, dass Vuillaume, der Geld sehr ernst nahm, seine Dienste genug schätzte, um für ihn einen Ersatzmann zu kaufen. Bei Peccattes Hochzeit im Jahr 1835 waren die Trauzeugen Vuillaume und Georges Chanot. Bevor er das 30. Lebensjahr erreicht hatte, wurden seine Bögen schon mit Preisen ausgezeichnet.

Mitte der 1840er-Jahre kehrte er nach Mirecourt zurück, um seine eigenen Bögen zu machen, kaufte das Familienhaus und den dazugehörigen Weinberg und zahlte seinen Bruder mit den Erträgen des von ihm zu 5 Prozent Zinsen verliehenen Geldes aus. 1996, in dem Jahr, in dem Childs’ Biografie erschien, wurde das Haus, das Peccatte für 3.850 alte Francs gekauft hatte, für 150.000 neue Francs verkauft. Seine Bögen kosteten mittlerweile bis zu 300.000 neue Francs. Seine Töchter heirateten mit einer Mitgift von jeweils 4.000 Francs, die eine einen Händler aus Épinal und die andere einen Neffen von Vuillaume. Als Peccatte 1874 starb, war allein schon der Markt Zeuge für die Wertschätzung, die seine Erzeugnisse genossen.

Angesehene Kollegen wie Nicolas Maire verkauften ihre Bögen an Chanot für 6 bis 9 Francs pro Stück. 1869 wurde ein Bogen von Joseph Henry für 25 Francs verkauft. Die letzten beiden von Peccatte, postum von seiner Witwe auf den Markt gegeben, brachten jeweils 41 Francs. Trotz einer Rezession von 1859 bis 1862 und den wirtschaftlichen Folgen der Reparationszahlungen nach dem Deutsch-französischen Krieg dokumentierte Peccattes achtseitiges Nachlassverzeichnis ein Vermögen von 33.939 Francs, ein guter Teil davon buchstäblich liquide in Form von 1232 Litern Wein des Jahrgangs 1871, 264 Liter des Jahrgangs 1872 und 520 Liter von 1873.

Sein jüngerer Bruder François trat zunächst in seine Fußstapfen, schlug dann aber seinen eigenen Weg ein. 1821 geboren, ging auch er nach Paris und wurde 1841 vom Militärdienst befreit. Ende 1842 kehrte er nach Mirecourt zurück, heiratete in eine lokale Gitarrenbauer-Familie ein und vergab Arbeiten nach außen an vier Mitarbeiter. Minimale Lese- und Schreibkenntnisse, die sich in einem von ihm diktierten Antrag an den örtlichen Präfekten auf Berücksichtigung als Teilnehmer am jährlichen gewerblichen Wettbewerb widerspiegeln, waren für ihn offenbar kein Hindernis. Der Umsatz betrug im ersten vollständigen Geschäftsjahr knapp 13.000 Francs, und die Aufwendungen lagen etwa bei 6.000. Seine Erzeugnisse wurden – nach Qualität sortiert – für 1 bis zu 50 Francs angeboten und lagen damit ein bis zwei Stufen unter den Preisen seines Konkurrenten Etienne Pajeot, 30 Jahre älter als er, der seine Bögen für 15 bis 100 Francs anbot. Als François Peccatte in den frühen 1850er-Jahren |144| nach Paris zurückkehrte, war die Nachfrage immer noch so groß, dass er sich für ansehnliche 3.500 Francs ein Haus kaufen konnte. Dort starb er im Alter von 34 Jahren und hinterließ fünf Kinder.

Charles Peccatte, der Letzte von ihnen, war erst fünf, als sein Vater starb. In Mirecourt geboren, sollte er von den bogenmachenden Peccattes am längsten leben, sehr wahrscheinlich als Erster eine Schule besuchen, der Letzte sein, der in das Familienunternehmen einstieg, sowie der dritte, der für den Militärdienst abgelehnt wurde. Aus den Militärakten geht hervor, dass er lesen und schreiben konnte, 1,73 Meter groß war und – selbst im Paris des Kriegsjahres 1870 – wegen eines Leistenbruchs bei der zur Musterung gehörenden medizinischen Untersuchung durchfiel. Als Handwerker war er fähig genug, um seine Bögen an Vuillaume zu verkaufen. Er heiratete 1872, gründete 1881 seine eigene Werkstatt, gewann innerhalb der nächsten zehn Jahre Preise in Antwerpen und Paris und eröffnete 1885 ein Geschäft in der eleganten Rue de Valois. Er starb 20 Tage vor dem Waffenstillstand im Jahr 1918 und hinterließ ein bescheidenes Erbe.

Das war zwar das Ende eines Kapitels, aber nicht eines Zeitalters. Alfred Hill erinnerte sich Jahrzehnte später, dass er mit den Erzeugnissen aus dem kontinentalen Europa »keineswegs unzufrieden«, aber dennoch »abgeneigt« war, »Ausländer zu beschäftigen«. Deshalb sah er sich »nach einem guten Handwerker britischer Herkunft« um und erneuerte die Bogenabteilung, die zu einer der Säulen des Unternehmens werden sollte. »Ich habe immer darauf bestanden, unsere Leute von Jugend an in unseren eigenen Werkstätten auszubilden, eine Regel, für die es keine Ausnahme gab«, erklärte er einem amerikanischen Kunden, der ein paar Hill-Bögen kaufen wollte.442

Retford, in seinem 95 Jahre währenden Leben zur Legende geworden, verkörperte Kontinuität. Als er im Jahr 1893 als 18-Jähriger davon gelangweilt war, täglich zehn Bögen zur Auslieferung am selben Tag beziehen zu müssen, begann er, Stöcke abzuhobeln, der erste Schritt zur Bogenherstellung. 1956 war er immer noch bei Hill’s tätig. Dann setzte er die Arbeit weitere zwölf Jahre zu Hause fort und fertigte Bögen für Freunde und für Kollegen in der Ealing Symphony.443

Als Bultitude die zwölfköpfige Abteilung 1922 bei Hill’s als neues Mitglied ergänzte, war Retford längst schon ihr Leiter. Was sich aber inzwischen verändert hatte, war der Handel mit deutschen Bögen. 1910, so erinnerte sich Retford, verkaufte Hill, der sie zollfrei erst für 10, dann für 21 Schilling erworben hatte – fast die Hälfte von Retfords Wochenlohn –, jährlich etwa 200 davon. Von 1914 bis Mitte der 1920er-Jahre kauften Hills Kunden englische oder französische Bögen – auf keinen Fall aber deutsche.

Für französische Bogenmacher waren die wirtschaftlichen Auswirkungen des Friedens zumindest erträglich, da die Nachfrage aus dem Inland und den Kolonien sich erholte und internationale Kunden aus der Vorkriegszeit aus so |145| weit entfernten Gegenden wie Japan und Australien wieder auftauchten. Im Jahr 1910 waren in Frankreich nachweislich 48 Bogenmacher beschäftigt, unter ihnen 18 in Mirecourt und 26 – darunter Charles Peccatte – in Paris. 1930, kurz nach dem Höhepunkt des Aufschwungs der Nachkriegsjahre, war die Zahl auf 50 angestiegen.444 In Paris machte André Chardon, erst der zweite Bogenmacher in der Geschichte einer Fünf-Generationen-Familie, in der Werkstatt seines Vaters elegante Bögen für den gehobenen Markt. In Mirecourt setzten 800 Lohn- und Akkordarbeiter für einen Großhandel, der aus dem Zusammenschluss von drei Vorkriegsunternehmen hervorgegangen war, Bögen für das untere Ende der Preisskala zusammen, die über den Ladentisch verkauft wurden.445 Nach einer Pause für einen zweiten Krieg und eine vierjährige Besatzung wurde die Produktion trotz eines immer düstereren Geschäftshimmels bis in die 1960er-Jahre fortgeführt.

In Deutschland, wo es 1910 nachweislich 66 Bogenmacher gegeben hatte, waren 1930 nur noch 40 beschäftigt. Allein in Markneukirchen war die Anzahl trotz des Aufschwungs der Nachkriegszeit und sogar so etwas wie einer kleinen Hausse von 51 auf 32 geschrumpft. Sicher waren unter den Mannschaften, die ein paar Jahre später im Norden der Stadt die »Geigenbauerkurve« bauen sollten, auch arbeitslose Bogenmacher. Aber außer durch einen weiteren Krieg, der zu einer anderen Besatzung führen würde, wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass sich das Leben für etablierte Bogenmacher wie die Nürnbergers und Pfretzschners verändert hätte. Die Nürnbergers, ein weiteres Vier-Generationen-Unternehmen, erfreuten sich einer besonderen Beziehung zu Wurlitzer in Cincinnati und verkauften ein Erzeugnis, das auch Virtuosen wie Ysaÿe, Kreisler und Oistrach sehr schätzten.446 Die eigentliche Wende kam erst später, als zum Beispiel im Jahr 1958 die aktuelle Generation der Pfretzschners sich der Verstaatlichung nach Art der DDR unterwarf.

Etwa zehn Jahre später wurde die westdeutsche Produktion wieder aufgenommen – beflügelt durch steigende Preise, die Wiederentdeckung der Alten Musik und das Streben nach Glück, das auch den Geigenbau veränderte. Noch immer war ein Bogenmacher ein unwahrscheinlicher Kandidat für die Lifestyle-Seiten der Zeitungen oder ein TV-Magazin, doch zeigte er – und zunehmend auch sie – genug Potenzial für einen Aufstieg in die Mittelklasse. Eine repräsentative Figur war etwa Andreas Grütter, ein in Deutschland geborener Sohn eines Psychoanalytikers mit einem Studio in Amsterdam und einer Schwäche für Fragen, die mit »Warum« beginnen, und auch Hans Reiners, der zwischen seiner Leidenschaft für Alte Musik und seinem Job als Chefdolmetscher der britischen Garnison in Berlin jonglierte, bevor er einen Laden eröffnete, der auf alte Flöten und Prä-Tourte-Bögen spezialisiert war. Der gebürtige Norweger Ole Kanestrøm auf der Olympia-Halbinsel im amerikanischen Bundesstaat Washington war Ingenieur mit dem Fachgebiet Marine- und Industrieelektronik und |146| veranstaltete geführte Touren für Sportangler, bevor er im Alter von 41 Jahren mit dem Bogenbau begann. Elizabeth Vander Veer Shaak schuf sich ihren Himmel voller Geigen zwischen den Fassaden von Kirchen und chinesischen Imbissen auf Philadelphias German Avenue, nachdem sie im Hochschul-Studiengang Audiologie die Freuden des Bogenmachens entdeckt hatte.447

Doch ebenso wie bei den Geigenbauern war die Dimension des Zurück-in-die-Zukunft nur schwer zu übersehen. 1969 wurde Bernard Ouchard von Etienne Vatelot gebeten, einen Bogenmacherkurs an der École Nationale de Lutherie einzurichten, die dem Lycée Jean-Baptiste Vuillaume in Mirecourt angeschlossen war. Während Tausende Ostdeutsche wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer über die ungarische Grenze nach Westen strömten, nahm ein zweiter Hermann Richard Pfretzschner in Markneukirchen seine Firma und Familie und zog nach Bad Endorf, ca. 100 Kilometer von Mittenwald entfernt.

Die Wende eines anderen Jahrhunderts verschlug ganze Kohorten von neuen Bogenmachern in noch angenehmere Orte wie Oxford mit seiner alten Universität und verschwundenen Autoindustrie und nach Port Townsend auf Washingtons Olympia-Halbinsel, wo 8334 Bewohner von den Fenstern ihrer liebevoll konservierten viktorianischen Häuser aus Wale sehen konnten. Weder hier noch dort hatte jemand jemals damit gerechnet, einem professionellen Bogenbauer zu begegnen, bis das Internetzeitalter beide Orte zu virtuellen Mirecourts machte und mit einer weltweiten Gilde von geschätzten 200 Mitgliedern verband.448

Die neuen Herausforderungen lagen weder in den Fähigkeiten noch in der Nachfrage, sondern betrafen die Grundlage des Handwerks selber: Pernambuco-Holz war ehemals massenhaft über fast die gesamte Länge der brasilianischen Küste und bis zu 150 Kilometer ins Landesinnere vorhanden, Berichten zufolge so reichhaltig, dass zu Tourtes Zeiten Pernambuco-Stämme 168 Hektar im Zentrum von Paris bedeckten.449 Am Vorabend des 21. Jahrhunderts wurde auf einer Tagung zu einem Abkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten (CITES) ernsthaft erwogen, Sanktionen gegen die weitere Verwendung von Pernambuco zu verhängen, weil festgestellt worden war, dass die Reserven auf 5 bis 10 Prozent ihres präkolumbianischen Umfangs geschrumpft waren.

Die in der Geschichte des Metiers beispiellose Antwort bestand in der Internationalen Initiative zum Erhalt von Pernambuco (IPCI). Als ein Ad-hoc-Konsortium besorgter Bogenmacher wurde es von Marco Ciambelli, dem in Paris ansässigen Gründer der Nichtregierungsorganisation Confédération des métiers et des utilisateurs des ressources de la nature (Comurnat), mobilisiert und geleitet, um Handwerker aus vielen Bereichen zusammenzubringen, die beim Erhalt der natürlichen Materialien, von denen sie abhängig waren, helfen sollten.

|147| Von 2001 an widmete sich IPCI dem Bau von Brunnen und Bewässerungssystemen, um bis zu 2000 Pernambuco-Setzlinge zu retten.450 Der nächste Schritt war die Suche nach Verbündeten, unter ihnen die Kakaobauern von Bahia, deren schattenliebende Produkte, so hoffte man, vom Zusammenleben mit Pernambuco profitieren würden, unter ihnen auch die Nationalstiftung für Pau-Brasil (Funbrasil), eine lokale NGO, die seit 1970 bereits drei Millionen Jungpflanzen verteilt hatte. Bis zum Jahr 2003 hatten die Bogenmacher Abkommen unterzeichnet mit der Comissão executiva do plano da lavoura cacaueira (Ceplac), einem Kakao-orientierten und vom brasilianischen Landwirtschaftsministerium unterstützten Forschungsinstitut, und der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die ihren Glauben an die Initiative dadurch zeigte, dass sie die von IPCI zugesagten 100.000 Euro verdoppelte.451 »Wir alle – Musiker, Bogenmacher, Instrumentenbauer und Musikliebhaber – haben über Jahrhunderte von dem Holz Pernambuco profitiert«, sagte Klaus Grünke, Sohn und Bruder von Bogenmachern und selber Bogenmacher, vor dem Publikum eines Benefizkonzertes im Jahr 2002 in Wien. »Es ist Zeit, der Natur etwas zurückzugeben.«452

Da die Pflanzen erst 30 Jahre später ausgewachsen sein würden, suchten ernsthafte Bogenmacher und sogar Spieler nach Alternativen – nicht zum ersten Mal. Schon im zeitlichen Vorfeld des Zweiten Weltkriegs hatte die Firma James Heddon’s Sons, Inc., aus Dowagiac, Michigan, Erzeuger von Angelruten, Golfschlägern und Skistöcken, eine Kollektion Geigenbögen aus stranggepresstem Stahl mit Spitzen aus Gussaluminium vorgestellt, die sich so lange verkauften, bis Mitte der 1950er-Jahre wieder deutsche Bögen auf den Markt kamen. 1962 stellte ein Familienunternehmen aus der New Yorker Bronx eine Variante aus Glasfaser vor. Doch keiner dieser Bögen war für den Konzertgebrauch bestimmt.453

Vielversprechender war Kohlefaser, eine preiswerte, anpassungsfähige, nahezu unzerbrechliche und wetter- und krümmungsfeste Mischung mit Graphit-Anteilen in einer Epoxidharz-Matrix.454 In fast gleicher Weise, in der die Acushnet Company den Golfspieler Tiger Woods dazu brachte, ihre Titleist-Schläger und -bälle zu benutzen und populär zu machen, engagierte Japans Yamaha Corporation den Geiger Pinchas Zukerman, um einen Kohlefaserbogen mit einem Frosch aus Schildpatt-Imitat mit vergoldeten Beschlägen zu kreieren und zu empfehlen. Ein paar Jahre später wurden immer neue Designs und Materialien einschließlich Kevlar von so bekannten Spielern wie Christian Tetzlaff, Jaime Laredo und Isabelle Faust benutzt.455 Die Idee war etwas gewöhnungsbedürftig. Doch das galt auch für Baseballschläger aus Aluminium.

Die Violine

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