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|7| EINLEITUNG
Das weltumspannende Instrument

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Am 5. Oktober 1962 tauchte in der Londoner Wochenzeitschrift The Spectator zum ersten Mal in der englischsprachigen Literatur der Begriff »Globalisierung« auf.1 Wer sich für die Violine interessierte, wusste allerdings, dass es dieses Phänomen spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gab.2 Schon 1768 äußerte Jean-Jaques Rousseau in seinem Dictionnaire de musique über die Violine: »Es gibt kein Instrument, das über ein solch reiches und umfassendes Ausdrucksvermögen verfügt.«3 Zeitgenossen und Nachwelt hatten mit dem urteilsfreudigen und streitbaren Rousseau durchaus ihre Schwierigkeiten, doch an dieser Einschätzung gibt es bis heute nichts auszusetzen.

Am Anfang seiner Entwicklung waren die Bauweise und auch der Name des Instruments noch unklar: In Polen als »skrzypce« bekannt, wurde es in Wales »ffidil«, in Litauen »smuikas« und auf Java »biola« genannt. In Transsilvanien baute man es mit drei Saiten, in Südwest-Moldawien mit sieben. Im Südwesten Norwegens, der Heimat der »hardingfele«, wurden vier oder fünf Saiten hinzugefügt, die beim Streichen der vier Hauptsaiten im |8| Gleichklang mitschwangen.4 Portugiesische Händler brachten das Instrument nach Angola und Sumatra, Kelten verbreiteten es vom schottischen Hochland bis zu den Appalachen, und auch bei den Cajuns von Neufundland bis Louisiana war es sehr beliebt. »Im Iran«, so erklärt die englischsprachige Enzyklopädie Grove’s Dictionary of Music, »ist die Violine das einzige westliche Instrument, das ohne Bedenken zur traditionellen Musik zugelassen wird, weil es möglich ist, das gesamte kamanche Repertoire darauf zu spielen.« Schon 1683 wurde berichtet, dass sich kein ungarischer Mann von Stand ohne einen Zigeunergeiger sehen ließ,5 und im frühen 18. Jahrhundert begann für die Waraos im Orinoko Delta von Venezuela die Liebesgeschichte mit der Violine, als sie entdeckten, dass das von ihnen »sekeseke« genannte Instrument bei Fruchtbarkeitsfeiern ebenso einsetzbar war wie auf geselligen Zusammenkünften des Stammes.6

Abhängig vom Wo und Wann konnte die Geige mit Trommeln, Trompeten, Gongs, Dudelsäcken, Mandolinen, Kontrabässen, Akkordeons, Klavieren, Harfen und sogar mit Plattenspielern ergänzt werden. Doch gemessen an dem, was da kommen würde, gewannen ihr vielfältiger Gebrauch und ihre Verbreitung gerade erst an Gestalt.

Paradoxerweise kann niemand genau sagen, wann und wo die Geschichte der Violine beginnt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war man sich darüber einig, dass sie irgendwann zwischen Columbus’ erster Reise im Jahr 1492 und Shakespeares Geburt im Jahr 1564 auf der Weltbühne erschien. Dann scheint sie sich – ebenso wie die Kartoffel – schnell verbreitet zu haben, zuerst über ganz Europa, dann – nachdem Europa selbst sich ausbreitete – darüber hinaus. Doch während die Kartoffel eindeutig ein Produkt der Neuen Welt war, tauchte die Violine gleichsam aus dem Nichts auf.

Jean Benjamin de Laborde (1734–1794), ein Freund Rameaus und Hofkomponist von Louis XV., war der Erste, der auf moderne Weise nach den Ursprüngen der Violine suchte, als er an seinem vierbändigen Essai sur la musique ancienne et moderne arbeitete. Er bat Kollegen und Partner, ihre Archive zu durchforsten, und wartete dann geduldig – und vergeblich – ein ganzes Jahr. Am Ende fügte er sich seinem Verleger und ließ sein Buch 1780 ohne eine Antwort erscheinen. »Über etwas so wenig zu wissen, bedeutet nahezu, gar nichts zu wissen«,7 gab er wehmütig zu. Die Violine war keine Erfindung, sondern entstand durch »ein Wachsen, ein Überleben des Stärkeren«, erklärte ein Jahrhundert später der britische Pfarrer und Geigenfreund H. R. Haweis.8

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wurden Prototypen, Verwandte und Vorläufer der Violine in Museen und Privatsammlungen von den großen europäischen Hauptstädten bis hin zum National Music Museum in Vermillion, South Dakota, ausgestellt. Ihre handwerkliche Qualität erstreckte sich von »herzzerreißend wunderbar« bis hin zu »das kann nicht ernst gemeint sein«; mal galt ihre Echtheit als bewiesen, mal war sie Gegenstand von Mutmaßungen |9| und Mythen. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts wurden Spuren ihres Stammbaums von England bis Polen und gestalterische Verwandtschaften von den Alpen bis zum Po-Tal nachgewiesen. Doch eine eindeutige Beweiskette für ihre Entwicklung ist nach wie vor schwer zu erstellen.


Ein Trommler und zwei Geiger spielen karnatische Musik, Südindien, 2007

Wo auch immer ihr Ursprung gewesen sein mag: Der Einfluss der Violine auf die westliche Kultur war auf eine gewisse Art ebenso radikal wie der von Druckerpresse und Dampfmaschine. Geigenbauer und -spieler, Komponisten und Sammler hatten sie innerhalb weniger Generationen als einen der großen Durchbrüche in der Kulturgeschichte, sogar der Technologie erkannt. Zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Violine die Richtung im Instrumentenbau und die Art des Musizierens beeinflusst und eine Vielzahl musikalischer Formen und Ensembles hinterlassen – Sinfonien, Konzerte und Sonaten, Orchester und Streichquartette –, die die ganze Welt umspannte und die musikalische Landschaft bis heute prägt.

Ihre Schöpfer, wer auch immer sie gewesen sein mögen, hatten das, was Sir James Beament »die außerordentlichen Eigenschaften von Bäumen und Tierabfall, von Gehör und musikalischen Menschen« nannte, offensichtlich genutzt, es gut miteinander vermischt und einen Sieger geschaffen. Beament, Insektenphysiologe von Weltruf, Fellow der Royal Society, Amateur-Kontrabassspieler und autodidaktischer Akustiker mit Geigenbauer-Ehefrau und -Sohn, staunte über ein »unmögliches Ding, das nicht bedeutend verändert wurde, seit es sich durch Ausprobieren entwickelte«.

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Władysław Trebunia in traditioneller Kleidung in Żywiec, Polen, 2006

Seine hilfreiche Einführung entmystifiziert die grundlegenden Materialien für den Geigenbau, Fichte und Ahorn, die schwingenden Saiten, die die Violine zum Klingen bringen, den Lack, der ihr Holz schützt, den Leim, der sie zusammenhält, sowie die Prozesse, die sie in den Köpfen von Spielern und Zuhörern anregt. Was übrig bleibt, ist, wie bei ihren Vorgängern von der Mongolei bis Ägypten, ein mit Luft gefüllter Holzkasten, dessen Sinn darin besteht, eine vibrierende Saite zu verstärken. Doch kein Kasten zuvor hatte sich als derart anpassungsfähig und begehrenswert für so viele Menschen erwiesen.9

Fünf Jahrhunderte nach ihrem Debüt ist die Violine eines der wenigen Objekte des Barock, das immer noch in täglichem Gebrauch ist.10 1983 geigte Don Haines, Musikprofessor an der Universität von Iowa, in wallendem Gewand und begleitet von der Blaskapelle der Universität während eines Football-Matchs Vittorio Montis unverwüstlichen Csárdás vor einer jubelnden Menge von fast 50 000 Zuschauern. 2009 stattete Glenn Donnellan, ein Geiger der National Symphony in Washington, einen Baseballschläger, Modell Derek Jeter, |11| mit Saiten, Steg, Wirbeln und elektronischer Verstärkung aus, und fiedelte The Star-Spangled Banner vor einer begeisterten Menge im Stadion und You Tube-Zuschauern auf der ganzen Welt.11

Das neue Instrument verband Gestaltung und Materialien, Wissenschaft, Kunst und Handwerk in einer dem Anschein nach im Himmel geschlossenen Ehe. Ebenso wie ein Baby konnte die Violine buchstäblich überall »gemacht« werden. Anders, als es die Legende will, schuf zwar der jüngere Giuseppe Guarneri (1698–1744), bekannt als »del Gesù«, im Gefängnis keine Violinen. Geoffrey Allison aber, ein Sanitäter der US-Armee, der Holz in den Irak mitnahm und weiteres direkt vom Schlachtfeld aus bestellte, baute 2005/06 während eines 13-monatigen Aufenthalts nebenher sechs Violinen.12 Obwohl empirische Erfahrung Ahorn und Fichte als die besten Rohmaterialien für den Geigenbau ausweist, kamen zuweilen Walfischknochen, Streichhölzer und Aluminium ebenso in Frage. Clair Cline, ein amerikanischer Flieger, der im Zweiten Weltkrieg über Holland abgeschossen worden war und in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, baute eine Violine aus Bettlatten.13

Die Geige selbst war tragbar, robust und erstaunlich zäh. Ein Flugzeugabsturz im Jahr 1949 allerdings, der die Geigerin Ginette Neveu das Leben kostete, brachte auch ihre Stradivari zum Schweigen; ein Unfall im Jahr 1953, bei dem der Geiger Jacques Thibaud ums Leben kam, ließ auch sein Instrument verstummen; doch im selben Jahr überlebte die del Gesù von 1743, benannt nach dem britischen Geiger John Carrodus, einen Autounfall in New Mexico, bei dem ihr Besitzer, der aus Österreich stammende Amerikaner Ossy Renardy ums Leben kam.

Die Stradivari von 1732, bekannt als »Red Diamond«, wäre vor der Küste Kaliforniens beinahe ertrunken, als sie von einem überraschenden Sturm auf das Meer gefegt wurde, während ihr Besitzer Sascha Jacobsen, damals Konzertmeister der Los Angeles Philharmonic, mit ihr auf dem Heimweg war. Sie wurde am folgenden Tag drei Meilen weiter nördlich am Strand von einem musikbegeisterten Anwalt entdeckt, dessen Frau von dem Verlust im Radio gehört hatte. Beide brachten die vollgesogene Strad auf schnellstem Wege zu Hans Weisshaar, einem Schüler des legendären Restaurators Simone Fernando Sacconi und der einzige Weltklasse-Restaurator westlich von Chicago. Endlose Geduld und rund 700 Stunden Arbeit retteten die »Red Diamond« und machten auch Weisshaar zu einer Legende in seinem Fach.14

2008 rutschte der junge Deutsch-Amerikaner David Garrett im Londoner Barbican Centre auf einer Treppe aus und landete auf seiner Guadagnini von 1772. In diesem Fall wurde geschätzt, dass David Morris von John & Arthur Beare in London für eine Reparatur acht Monate und 60.000 englische Pfund brauchen würde. Doch trotz drei großer und mehrerer kleiner Risse gab es wenig Zweifel, dass die Guadagnini sich ebenfalls erholen würde.15

|12| Unabhängig von ihrem Erbauer erlaubt die bundlose Bauweise der Violine eine ungehinderte Bewegung über ein vieroktaviges Kontinuum von Tonhöhen. Vier in Quinten gestimmte Saiten bringen die diatonische Tonleiter auf vier Fingern unter und erleichtern die Bewegung von Saite zu Saite. Wölbungen und Zargen – »beträchtlich überentwickelt, wie es so viele Dinge in der Vergangenheit zweckmäßigerweise waren«, wie Beament anmerkt –,16 fangen den nach unten gerichteten Druck des Stegs auf. Bis 1840, dem Todesjahr von Paganini, hatten die Saitenspannungen ein Druckgewicht von 35 bis 44 Kilogramm erreicht. Dann verringerte es sich, erreichte aber immer noch 25 bis 30 Kilogramm, was dem Gewicht eines acht oder neun Jahre alten Kindes entspricht – auf einem Instrument, das einschließlich Wirbel, Steg, Saiten und Saitenhalter nur 450 bis 500 Gramm wiegt. Bei einem guten Instrument mit modernen Saiten und korrekter Ausrichtung seiner etwa 70 Teile zahlt sich dies in einem Ton aus, der so einschmeichelnd ist wie die Stimme des Gewissens oder die Schlange im Garten Eden und so komplex und individuell wie Wein, und der dennoch über großen Orchestern in so großen Räumen wie der Londoner Royal Albert Hall mit ihren 5226 Sitzplätzen tragfähig und gut hörbar ist.

Dazu kommt der Bogen: Lang, kurz, gerade oder in beiden Richtungen gekrümmt, erlaubt er eine Bandbreite von Farbe und Artikulation, die für Kirchen, Theater, höfische Unterhaltung, Salon, Kneipe und Bauerndorf gleichermaßen geeignet und nur durch die Fantasie von Komponisten und Interpreten begrenzt ist. Ein halbes Jahrhundert vor Johann Sebastian Bachs richtungsweisenden Solosonaten und Partiten zeigte der Virtuose und Komponist Heinrich Ignaz Franz Biber dem musikalischen Salzburg, wie mit Geige und Bogen Akkorde und sogar mehrere Stimmen in jeder denkbaren und undenkbaren Tonart bewältigt werden konnten. Ein Jahrhundert später zeigten Paganini und unzählige Nachfolger einem überwältigten Publikum von den Hebriden bis nach St. Petersburg, wie sowohl die linke als auch die rechte Hand Saiten zupfen und damit sogar die Effekte von Laute und Harfe kombinieren konnte.

Wütend über Bundestruppen, die ihn von einem Stück Land vertreiben wollten, das den Osage-Indianern vorbehalten war, schulterte Charles Ingall – der Vater von Laura Ingall Wilder – in den 1870er-Jahren seine Fiedel und empfing die Truppen mit einer mitreißenden Version von The Battle Cry of Freedom (Der Schlachtruf der Freiheit).17 Doch wäre seine Geige der Herausforderung ebenso gewachsen gewesen, hätte er sich für Gavotte, Walzer, Polka, Reel, Foxtrott, Mambo oder Raga entschieden. Eine Tonaufzeichnung des Broken Bed Blues18 der Kansas City Blues Strummers aus dem Jahr 1926 – Produkt einer afroamerikanischen Tradition, die bis in die Sklaverei zurückreicht – liefert immer noch einen überzeugenden Beweis dafür, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sie von der europäischen Geigen-Schulweisheit erträumt werden.

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Eine Mariachi-Band spielt in einem Restaurant in Zapata, Texas

Eine Violine konnte stehend oder sitzend, an guten und an schlechten Tagen, auf jedem Breiten- oder Längengrad, zu jeder Tageszeit, solo oder in Gruppen, von Königen oder Bauern, Künstlern oder Alleinunterhaltern, Amateuren oder Profis, Erwachsenen oder Kindern, Männern oder Frauen, amerikanischen Sklaven oder leibeigenen Russen gespielt werden. Rudolf Kolisch, Mitte des 20. Jahrhunderts ein Meister der Neuen Musik, hatte sich als Kind bei einem Unfall die linke Hand verletzt und spielte seitdem seitenverkehrt, d. h. mit der Geige in der rechten und dem Bogen in der linken Hand, ebenso Reinhard Goebel, Ende des 20. Jahrhunderts ein Meister der Alten Musik, der unter einem Karpaltunnelsyndrom litt.

Vor allem kann die Geige bis auf den heutigen Tag wie nichts sonst – mit Ausnahme der menschlichen Stimme – singen. »Ist es nicht seltsam, dass Schafdärme die Seele aus eines Menschen Leib ziehen können?«, bemerkt Shakespeares Benedick säuerlich während einer ausgedehnten Festlichkeit.19 »Wie die Töne einer Geige hebt sie süß, süß die Stimmung und schmeichelt unseren Ohren«, sagt Macheath in der Beggar’s Opera, dem Vorläufer der Dreigroschenoper, über das ewig Weibliche.20 Eines der berühmtesten Fotos des |14| 20. Jahrhunderts, Le Violon d’Ingres von Man Ray, zeigt einen nackten weiblichen Rücken mit aufgesetzten F-Löchern. Die Frau als Geige, die Geige als Frau – die Botschaft ist dieselbe: die Geige auf Flügeln des Gesanges.

Bereits 1540 wurden Violinen in einer Streichergruppe, die der englische König Henry VIII. zur Begleitung höfischer Tänze aus Italien mitgebracht hatte, professionell gespielt.21 1603 waren Geigen bei der Beerdigung von Queen Elizabeth I. zu hören.22 Vier Jahre später setzte Claudio Monteverdi, geboren in Cremona und der größte Komponist seiner Zeit, zum ersten Mal ein Trio von Viole da braccio – als Vertreter der Geigenfamilie – ein, um einen dramatischen Punkt in L’Orfeo, der ersten großen Oper, zu unterstreichen, an dem die Titelfigur singt: »Ne temer Déi ché sopra un’aurea cetra/Sol di corde soavi armo le dita.«. (»Fürchte dich nicht, edler Gott, denn ich bewaffne meine Finger nur mit den süßen Saiten auf einer goldenen Leier.«) Plötzlich war die Violine, die bis zu diesem Zeitpunkt höchstens mit Begriffen wie »lebendig, populär, aber nur für billige Tanzmusik«23 in Verbindung gebracht wurde, der Schlüssel zu den Pforten der Hölle geworden. Bis zum Ende von Monteverdis Schaffen blieb sie eine feste Größe in seiner Orchestrierung, so wie in Il ritorno d’Ulisse in patria (1639/40), wo sie erneut die Siegerin ist, dieses Mal, wenn Odysseus mit seinem Bogen auf die Freier seiner Frau zielt.

Bis 1750 hatten die Geige und ihre Geschwister Bratsche und Cello alle Konkurrenten wie Gamben, Lauten und Leiern weitgehend auf Dachböden, in Museen und damit in die Vergessenheit getrieben, wo sie bis zur Neuentdeckung der Wiedergabe Alter Musik auf alten Instrumenten etwa 150 Jahre später verblieben. Schon zu Rousseaus’ Zeit reichte die Verbreitung der Violine, die zuerst nur nützlich, dann jedoch für jedes Ensemble außer einer Militärkapelle unverzichtbar war, weit über Europas Grenzen hinaus. Unterdessen bildeten in St. Petersburg zugewanderte Italiener Einheimische dafür aus, italienische Musik auf italienischen Geigen zu spielen, während Thomas Jefferson und sein Bruder Randolph das Instrument im kolonialen Virginia erlernten.24

Zu den Stammkunden des angesehenen Londoner Geigenbauers William Forster (1739–1808) gehörten laut Brian Harvey Offiziere ebenso wie Ärzte, Rechtsanwälte und Geistliche.25 Nicht von ungefähr ließ Patrick O’Brian, Autor einer Reihe hoch angesehener und akribisch recherchierter historischer Romane, die vor seinem Tod im Jahr 2000 20 Bände umfasste, seine Hauptfiguren Aubrey und Maturin ihre Instrumente und Duett-Noten mit an Bord nehmen, bevor sie Anker lichteten und Napoleon herausforderten.26

Doch was man gesät hatte, erntete man auch. Josh Antonia Emidy (oder Emidee), um 1770 in Westafrika geboren, zeigte auf seine Weise, wie sich der Kolonialismus rächen konnte. Nachdem er als Sklave nach Brasilien entführt worden war, brachte man ihn nach Portugal, wo er ein so guter Geiger wurde, dass er sich dem Orchester der Oper in Lissabon anschließen konnte. Offiziere |15| und Besatzung der britischen Fregatte Indefatigable, auf Landgang in der portugiesischen Hauptstadt, waren von ihm so beeindruckt, dass sie ihn als ihren Schiffsgeiger entführten. Fünf Jahre später wurde es ihm endlich in Falmouth erlaubt, an Land zu gehen, wo er gespielt, gelehrt, dirigiert und komponiert und vor seinem Tod im Jahr 1835 einen dortigen Schüler zu glühendem Anti-Sklaverei-Aktivismus inspiriert haben soll.27

In Südindien wurde die Violine ab Mitte des 19. Jahrhunderts so erfolgreich in die karnatische Musik eingeführt,28 dass Ende des 20. Jahrhunderts V. J. Jog, Indiens angesehenster klassischer Geiger, bedauernd einräumen musste, dass seine Geige einen Großteil der Verantwortung dafür trug, dass das einheimische Instrument Sarangi auszusterben drohte.29

Am Ende des 20. Jahrhunderts waren Karrieren, die ehemals ständisch, pittoresk und zufällig waren, längst so global wie Coca-Cola. Der New Yorker Leventritt-Wettbewerb hatte 1967 – zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 1939 – zwei Gewinner, von denen keiner amerikanisch oder europäisch war und die außerdem eine halbe Welt trennte. Der eine, Pinchas Zukerman, ein 18-Jähriger aus Tel Aviv und später der Welt als »Pinky« bekannt, gehörte bereits zur dritten Generation einer meist männlichen, russisch-jüdischen Gruppe von Musikern, die die Violinwelt des 20. Jahrhunderts für sich erobert hatte. Die andere, Kyung-wah Chung, eine 19-Jährige aus Seoul und von ihrem Lehrer Ivan Galamian »Cookie« genannt, wurde bald zur Gründungsmutter einer überwiegend weiblichen, ostasiatischen Gruppe, die auf dem Weg war, die Fackel, die jene russisch-jüdischen Männer durch das 20. Jahrhundert getragen hatten, im 21. Jahrhundert zu übernehmen.30 Beide waren nach New York gekommen, um an der gleichen Schule – Juilliard – bei dem gleichen im Iran geborenen und russisch ausgebildeten Lehrer – Galamian – zu studieren, der vor der bolschewistischen Revolution nach Paris geflohen war, bevor er 1937 in die Vereinigten Staaten übersiedelte.

Würde es Rousseau überrascht haben, dass ein Instrument, das schon zu seinen Lebzeiten so vielfältig war wie kein anderes, nach seinem Tod noch universeller wurde? Wahrscheinlich nicht. Schon in der ersten Generation nach Rousseau waren Instrument und Bogen an die Bedürfnisse von Spielern, die mit größeren Orchestern größere Stücke in größeren Sälen spielten, angepasst worden: Praktisch jedes überlebende alte Instrument, bei dem es sich lohnte, wurde mit einem längeren, gekippten Hals und einem wesentlich schwereren Bassbalken ausgestattet, um eine erhöhte Saitenspannung zu ermöglichen und einen stärkeren und brillanteren Ton zu gewinnen.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der Geigenbau in ganz Europa verbreitet. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts überfluteten elsässische, bayerische, sächsische und japanische Hersteller erst Osteuropa, dann Amerika und schließlich die ganze Welt mit erschwinglichen, fabrikmäßig hergestellten |16| Instrumenten, die Amerikaner sogar per Versandhauskatalog erwerben konnten. Am Vorabend des 21. Jahrhunderts schließlich konnte man Anfängergeigen ebenso selbstverständlich in einem taoistischen Tempel in der ostchinesischen Metropole Suzhou erstehen wie im Musikgeschäft auf der Hauptstraße von Parma, der italienischen Stadt, in der Paganini begraben ist. Shar Products wiederum, ein armenisch-amerikanisches Familienunternehmen in Ann Arbor, Michigan, das zu einer Art Neckermann-Versandhaus für Streichinstrument-Zubehör wurde, verkaufte per Internet.

Die bekannten ökonomischen Multiplikatoren eines bürgerlichen Zeitalters – städtisches Wachstum, steigende Einkommen, soziale Mobilität, Professionalisierung, kultureller Snobismus, persönliche Weiterentwicklung, Einwanderung und koloniale Expansion – verstärkten die Vielfalt und Universalität der Violine noch. Neuer Reichtum und neue Städte schufen ein neues Publikum. Neue Orchester, Opern, Theater, Tanzlokale genauso wie Filme, schufen neue Arbeitsplätze für die Absolventen der neuen Konservatorien. Neue Einwanderer brachten Instrumente, Geschmack, Traditionen, Fähigkeiten und Ehrgeiz für ihre Kinder mit. Europäische Soldaten, Verwaltungsbeamte, Geschäftsleute, Ärzte, Lehrer und Missionare streuten ihre Währungen, Sprachen, Waffen, Bazillen, Lokomotiven, Religionen und ihre Musik über immer mehr außereuropäische Orte aus.

Der große deutsche Soziologe Max Weber konstatierte in einem Nachtrag zu seinem monumentalen Werk Wirtschaft und Gesellschaft, dass die westliche Musik das charakteristischste, ansprechendste und potenziell universellste aller europäischen Produkte sei. Er bezog sich dabei auf das Klavier, ein Industrieprodukt, das die temperierte diatonische Tonleiter auf der ganzen Welt so effizient verbreitete wie britische Webstühle und Lokomotiven den Zoll als Maßeinheit für Länge und die British Thermal Unit als Maßeinheit für Wärme. Der Leser kann nur bedauern, dass Weber starb, bevor er seine scharfsinnigen, allerdings nur andeutungsweise entwickelten Ideen in einem Buch ausformulieren konnte.31 Die gleiche Dynamik, die das Klavier so populär gemacht hatte, begünstigte aber auch die im Grunde vorindustrielle Geige, die seit mehr als einem halben Jahrtausend in Europa und Nordamerika heimisch geworden war; sie verbreitete sich in Russland von St. Petersburg bis nach Odessa und Sibirien, in Lateinamerika von Mexiko bis Argentinien, in Ostasien von Korea bis nach Singapur, im Nahen Osten von Israel bis in die Türkei sowie im christlichen Armenien mit einer Diaspora, die sich von Teheran bis nach Kalifornien erstreckte.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert war die Geige mit Händlern und Geigenbauern in allen Kontinenten und mindestens 44 Ländern so allgegenwärtig wie McDonalds.32 Arvel Bird, ein indianisch-keltischer Geiger, der von den Shivwit Paiute und den Schotten abstammte, bereiste Amerika mit seiner Band Many Tribes, One Fire (Viele Stämme, ein Feuer) von der Chesapeake |17| Bay über Virginia bis Portland und verkaufte zahllose CDs.33 Auch im nichtweißen Südafrika war mit dem Ende der Apartheid die Violine aufgetaucht, wo eine Gruppe engagierter Lehrer mit Hilfe von Sponsoren hart daran arbeitete, Soweto zum neuen Odessa zu machen.34


Arvel Bird, Indianisch-keltischer Geiger, Rankokus Reservat, New Jersey, 2009

Für das Fehlen, die Ablehnung oder zumindest das seltene Vorkommen der Violine zwischen Bombay und dem Jordan gab es viele mögliche Gründe – finanzielle wie kulturelle. Aber es gab mindestens ebenso viele, die praktisch überall sonst dazu führten, dass sie willkommen geheißen und mit Erfolg und mit Gewinnern gleichgesetzt wurde. Sie hatte das Potenzial, heiratsfähigen Töchtern zu einem Mehrwert zu verhelfen, und eine vielgestaltige Anpassungsfähigkeit, die ihr erlaubte, neben der usbekischen »ghijak« zu existieren und der kasachischen »qobyz« fast den Garaus zu machen.35 Dazu kam die seit den 1870er-Jahren von Japan ausgehende allumfassende Modernisierungswelle, die westliche Musik dort genauso heimisch werden ließ wie Baseball und schließlich die gesamte Region bis hin nach Südkorea und Malaysia erfasste.36

1997 rekrutierte die malaysische Ölgesellschaft Petronas ein neues Sinfonieorchester für den neuen Konzertsaal, der im Schatten der Petronas Towers in Kuala Lumpur, dem damals höchsten Gebäude der Welt, entstand. IMG in London, eine Managementfirma mit globaler Reichweite, wurde mit der Anwerbung der Musiker beauftragt. Dieses globale Management wiederum führte zur Einstellung eines britischen Intendanten und eines niederländischen Dirigenten und zur Gründung eines globalen Orchesters, in dem Malaysier kaum vertreten waren. Teilweise schien das neue Orchester eine Antwort auf das in Singapur zu sein,37 teilweise aber auch ein weiterer Schritt innerhalb |18| einer nationalen Modernisierungsstrategie. Auf die Frage eines interessierten Interviewers räumte ein junger malaysischer Diplomat ein, dass er zum ersten Mal von dem Orchester höre. Er erinnerte sich aber daran, dass Mahathir Mohamad, der geschäftige Regierungschef des Landes, zehn Jahre zuvor ein Formel-Eins-Team und Jackie Stewart importiert hatte, bevor es überhaupt lokale Rennstrecken und Fahrer gab.38


Das Orchester des National Music Camp auf den Stufen des State, War and Navy (heute: Eisenhower Executive Office) Building, Washington, DC, 1. März 1930. Präsident Herbert Hoover und Vizepräsident Charles Curtis auf dem Bürgersteig rechts

Die Marktforschung allerdings verwies auf die traumhaften zukünftigen Publikumszahlen, sollte eine Konzerthalle gebaut und ein Orchester angestellt werden. Es war sogar vorstellbar, dass dort eines Tages einheimische Musiker spielen würden. Im Jahr 1915, der 34. Saison der selbstverständlich von |19| Europäern dirigierten Boston Symphony, waren nur acht ihrer Musiker in Amerika geboren, 1973 waren es die meisten der Orchestermitglieder, und ihr Dirigent war ein Japaner. Das Shanghai Municipal Orchestra, 1879 als Shanghai Municipal Public Band gegründet, nahm seinen ersten Chinesen als unbezahlten Freiwilligen im Jahr 1927 auf.39 Die erst 1974 als ein überwiegend britisches Ensemble gegründete Hong Kong Philharmonic beschäftigte eine Generation später drei Chinesen als stellvertretende Konzertmeister und als Geiger fast ausschließlich Asiaten.

Trotz all der tektonischen Verwerfungen aber, die die musikalischen, kulturellen, sozialen und politischen Landschaften über fast fünf Jahrhunderte verwandelten, scheinen drei Leitsätze wie in Stein gemeißelt. Laut dem ersten tauchte die Violine spontan und schon in voller Blüte in Italien auf; der zweite behauptet, dass die besten Geigen in aufsteigender Qualität italienisch, in Italien vor 1800 gebaut und aus dem italienischen Cremona waren; gemäß dem dritten Leitsatz war es schon immer so und würde auch nie anders sein. Alle drei Thesen sind fragwürdig, unhistorisch und irreführend, aber sie haben etwas Positives gemeinsam: Sie verweisen auf die Fragen, woher die Geige kommt, wie es dazu kam, dass die italienische Geige als »die« Geige angesehen wurde, und wer und was sie wie kein anderes Instrument zu einem globalen Sammlerobjekt, einem Talisman und einem Symbol werden ließ.

Die Violine

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