Читать книгу Die leisen Weltveränderer - Debora Sommer - Страница 20

Introversion und Hochsensibilität

Оглавление

Hochsensibilität hat sich in den vergangenen Jahren zum Trendthema entwickelt.35 Dies gilt auch für den christlichen Kontext.36 Und offen gestanden: Ich bin dankbar dafür! Eine Fülle von Literatur hat mir dabei geholfen, mich besser zu verstehen und eine positivere Haltung gegenüber meiner hochsensiblen Art zu entwickeln. Heute halte ich sogar selber Referate und Schulungen zu diesem Themenbereich. Meiner Meinung nach ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Hochsensibilität äußerst wichtig und relevant – auch für Christen und christliche Gemeinden. Denn es fällt auf, dass in christlichen Gemeinschaften besonders viele hochsensible und hochsensitive Menschen zu finden sind.37

Doch wieso erwähne ich das überhaupt? In diesem Buch geht es ja um Introversion und nicht um Hochsensibilität. Der Grund dafür ist ganz einfach: Ich habe wiederholt festgestellt, dass ebendiese Begrifflichkeiten zu einiger Verwirrung führen. Daher ist es mir wichtig, einführend zu klären, inwiefern Introversion und Hochsensibilität zusammenhängen und wie sie voneinander abzugrenzen sind.

Hochsensibilitäts- und Introversionsspezialisten stimmen darin überein, dass auffallend viele hochsensible Menschen auch introvertiert sind und umgekehrt. Dies liegt in der Natur der Veranlagung. Wenn Sie also introvertiert sind, könnte es durchaus sein, dass Sie auch hochsensibel sind. Es muss aber nicht sein! Vielleicht gehören Sie auch zu den extrovertierten Hochsensiblen. (Und falls Sie zu den extrovertierten Hochsensiblen gehören, sollten Sie sich nicht darüber wundern, wenn etliche Beschreibungen von Introvertierten in diesem Buch auch auf Sie zutreffen!) Laut Susan Cain weiß niemand exakt, wie viele Introvertierte tatsächlich hochsensibel sind, aber es ist bekannt, dass 70 Prozent aller Hochsensiblen introvertiert sind.38 Laut Birgit Trappmann-Korr bildet die Gruppe der Introvertierten auch die Mehrzahl der Hochbegabten.39 Weiter ist davon auszugehen, dass mit steigender Intelligenz auch der Grad der Introvertiertheit ansteigt.40 Dies soll allerdings nicht zur irrigen Schlussfolgerung führen, dass es keine genialen Extrovertierten gäbe! Selbstverständlich haben die Introvertierten die Intelligenz nicht für sich gepachtet. Es ist auch hier wiederum eine Frage, welche grundsätzliche Veranlagung eine Person hat.

Ein Berührungspunkt von Introversion und Hochsensibilität finden wir in dem überaus sensiblen Nervensystem, das beiden Gruppen eigen ist. Anne Heintze erklärt, dass der Begriff Hochsensibilität für Menschen verwendet wird, »die über ein besonders sensibles Nervensystem verfügen und intensivere Wahrnehmungen über ihre fünf Körpersinne erleben als Normalsensible«41. Viele von ihnen sind auch hochsensitiv und verfügen über einen ausgeprägten »sechsten Sinn«. Sie spüren die Stimmungen anderer Menschen sehr intensiv, nehmen Veränderungen in ihrem Umfeld deutlich wahr und haben eine stark ausgeprägte Intuition. Und ebendies trifft auch ganz wesentlich auf introvertierte Menschen zu. Sie sind feinfühliger für Reize und Stimulationen verschiedenster Art und benötigen daher zumindest phasenweise eine ruhigere Umgebung, um sich wohlzufühlen und innerlich im Gleichgewicht zu bleiben. Während Extrovertierte auch nach einer längeren Zeit unter vielen Menschen und ohne Zeit für sich selbst noch voller Energie sind, suchen Introvertierte viel schneller nach einer kleinen Auszeit, um sich zu regenerieren. Ein Grund kann in der Hochsensibilität liegen. Introvertierte weisen ebenso wie Hochsensible in vielen Situationen eine höhere Gehirnaktivität auf.

Introversion und Hochsensibilität voneinander abzugrenzen, ist nicht einfach, da es viele Parallelen gibt. Nichtsdestotrotz dürfen die beiden Eigenschaften nicht undifferenziert in einen Topf geworfen werden. Je nach Kombination mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen (wie Introversion, Extroversion, Hochbegabung etc.) äußert sich Hochsensibilität bei jedem Menschen anders. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass es die Hochsensibilität genauso wenig gibt wie die Introversion oder die Extroversion. Genau genommen müsste sogar der Begriff »Hochsensibilität« präziser definiert werden, da in diesem Begriff sowohl Hochsensibilität als auch Hochsensitivität subsumiert werden, obwohl dies eigentlich zu unterscheiden ist.

Hochsensibilität meint eine besonders ausgeprägte Begabung zu feiner, intensiver und empfindlicher Wahrnehmung mit allen fünf körperlichen Sinnen (hören, sehen, schmecken, fühlen, riechen). Hochsensible, die stark auf Geräusche reagieren, sind im Alltag zum Beispiel daran zu erkennen, dass sie bei lauten Geräuschen leicht erschrecken oder dass sie sich kaum konzentrieren können, wenn der Geräuschpegel ihrer Umgebung (Radio, Gespräche etc.) ihrem Empfinden nach zu laut ist. Bei anderen können Gerüche, die von Nicht-Hochsensiblen kaum wahrgenommen werden, zu Unwohlsein oder gar Übelkeit führen. Aufgrund der vielfältigen und überwältigenden Eindrücke, denen sie mit ihren zarten Sinnen ausgesetzt sind, leiden hochsensible Menschen oft unter Reizüberflutung.

Wer hingegen hochsensitiv ist, muss nicht unbedingt über eine Schärfung der fünf physischen Sinne und über dieselbe Empfindsamkeit verfügen, die Hochsensiblen zu eigen ist. Stattdessen scheinen hochsensitive Menschen über einen sechsten Sinn zu verfügen. Hochsensitive fühlen sich oft hingezogen zur Spiritualität, Philosophie und Metaphysik. Sie haben eine ausgeprägte Intuition, manchmal sogar Ahnungen und Visionen. In vielen Büchern zum Thema Hochsensibilität wird diese Unterscheidung allerdings nicht gemacht, sondern vielmehr von »Hochsensibilität« als einer Mischform dieser beiden Dinge gesprochen.

Brigitte Schorr nennt in ihrem Buch Hochsensibilität – Empfindsamkeit leben und verstehen folgende vier Kriterien von Hochsensibilität:42 1. schmale Komfortzone (schmaler Grat zwischen Langeweile und Überforderung; das Wohlbefinden ist von viel mehr Faktoren abhängig als bei Nicht-Hochsensiblen); 2. schnelle Überreizbarkeit (es werden mehr Reize aufgenommen als verarbeitet werden können. Dies führt zu Anspannung und Nervosität, Konzentration und Leistung sinken); 3. langes Nachhallen (Erlebnisse, Bilder, Worte, Gedanken etc. bleiben bei Hochsensiblen lange im Gedächtnis und in der Gefühlswelt haften. Symptome der Überstimulation können nach Tagen oder Wochen noch spürbar sein); 4. individuelle Wahrnehmungsfähigkeit (unterschiedliche Ausprägung der Hochsensibilität: sensorisch hochsensibel, empathisch hochsensibel, kognitiv hochsensibel, spirituell hochsensibel).

Die von Brigitte Schorr erwähnten Kriterien sind – wie bereits erwähnt – grundsätzlich unabhängig von Introversion und Extroversion. Allerdings bringt die feine Wahrnehmung vieler Hochsensibler ein größeres Bedürfnis nach Rückzug mit sich, was sich ähnlich äußert wie introvertiertes Verhalten. Aber im Gegensatz zum Rückzug von Hochsensiblen, die beispielsweise vor einer Reizüberflutung fliehen, ist der Rückzug von Introvertierten keine Flucht vor äußeren Reizen, sondern ein angeborenes Bedürfnis. Ich kenne Introvertierte, die mir bestätigten, dass sie überhaupt kein Problem mit Reizüberflutung haben. Die parallele Erfahrung beider Eigenschaften (dies schreibe ich ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung als stark introvertierter und stark hochsensibler/hochsensitiver Person) ist in der Tat herausfordernd und fühlt sich manchmal an wie eine doppelte Hypothek. Die Überschneidung und Vermischung von Introversion und Hochsensibilität/Hochsensitivität machen das Leben auf doppelte Weise anstrengend und der Weg zum Punkt, beides als Stärke und Gabe zu sehen, scheint doppelt so lang zu sein.

Die leisen Weltveränderer

Подняться наверх