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1. Dunkelheit

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Dieses erste Hindernis möchte ich ausführlicher behandeln als die übrigen, weil es mir aus persönlichem Erleben besonders am Herzen liegt und weil ich weiß, dass es für diejenigen, die davon betroffen sind, von großer Tragweite sein kann.

Dunkelheit ist hier nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen, sondern vielmehr als Sammelbegriff für Gefühle oder Zustände, die teilweise nur schwer in Worte zu fassen sind und für deren Auftreten oder Existenz man selber oft keine Erklärung findet: Mutlosigkeit, Erschöpfung, Traurigkeit, Schmerz, Lebensmüdigkeit, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit bis hin zur Resignation.

Um 1576 hat der Kirchenlehrer und Mystiker Johannes vom Kreuz ein Gedicht geschrieben mit dem Titel Die dunkle Nacht der Seele. Obwohl es in dem Gedicht um geistliche Erfahrungen geht, fand das Gedicht (und vor allem sein Titel) später in vielen Büchern als Metapher für Depressionen Eingang. Experten sind sich einig, dass eine auffallend hohe Zahl von »außergewöhnlichen Menschen«57 mehr oder weniger intensiv depressive Lebensphasen erlebt. (Wobei man vorsichtig mit dem Begriff Depression umgehen sollte, da es sich hierbei um ein sehr ernst zu nehmendes Krankheitsbild handelt.) Wenn die Dunkelheit so überwältigend wird, dass man keinen Ausweg mehr sieht, kann ein Mensch im Extremfall sogar zur Überzeugung gelangen, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist. In vielen Fällen hatten Menschen, die Suizid begehen, vorher mit schweren Depressionen zu kämpfen. Und in den meisten Fällen wundert sich das Umfeld anschließend, wieso niemand etwas davon gemerkt hat. Eine erschütternde Illustration für die verborgene Innenwelt im Leben eines Introvertierten.58 Wenn die Dunkelheit so überwältigend wird, dass das alltägliche Leben massiv davon beeinträchtigt wird (auch wenn dies nur der betroffenen Person selbst bewusst ist), braucht es dringend Unterstützung von außen! Wenn ich in der Fortsetzung von Dunkelheit spreche, meine ich damit nicht eine schwere Form der Depression (die dringend ärztliche Betreuung erfordert), sondern eine grundsätzliche Veranlagung zu depressiven Verstimmungen und damit verbundenen depressiven Phasen im Leben eines Introvertierten. In Kapitel 19 seines Romans Schuld und Sühne schrieb Fjodor Dostojewski: »Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf der Welt eine große Traurigkeit empfinden.«59

Das Stichwort Traurigkeit erinnert mich an mein allererstes Klavierstück, das ich an einem Vorspielabend vortragen durfte. Das Stück hieß Columbine is sad/Kolumbine ist traurig/Colombine est triste. Auf dem Notenblatt war zur Illustration in Schwarz-Weiß ein kleines Mädchen mit hängendem Kopf, hängenden Schultern und einem Clown in der Hand abgebildet. Ich kann mich erinnern, wie ich dieses Stück immer und immer und immer wieder gespielt habe, obwohl ich es längst fehlerfrei konnte. Es tat so unglaublich gut in der Seele! Es war, als ob ich die Melodie meines Herzens gefunden hätte! Eine Sprache für Gefühle, für die es keine Worte gab. Noch heute klingt die schlichte Melodie in Molltönen in meinen Ohren, als wäre es gestern gewesen. Als wir vor rund drei Jahren das Haus meiner Eltern verkauften, fielen mir bei den Räumungsarbeiten im Dachgeschoss die Notenblätter wieder in die Hände und ich war ganz gerührt. Ich brachte es nicht übers Herz, sie zu entsorgen. Columbine war zwar bloß eine Skizze auf Papier. Es war auch nicht ersichtlich, weshalb sie traurig war. Doch es reichte aus, dass ich mich mit ihr identifizieren konnte – weil ich ihre Traurigkeit mitfühlte. Für mich blieb auch rätselhaft, wo meine Traurigkeit herrührte. Ich wuchs in einem behüteten Zuhause auf, war von Liebe umgeben, hatte einen kindlichen, aber ernsthaften Glauben an Gott, der mir Halt gab, ich kam gut klar mit dem Schulstoff, war nach außen hin aufgeweckt und fröhlich und vieles mehr. Wenn da nur nicht diese Traurigkeit, diese Dunkelheit tief in mir gewesen wäre …

Diese Veranlagung kann belastend sein. Auch für Freundschaften, Familien, Beziehungen. Mein Ehemann weiß, wovon ich spreche. Er ist einer der wenigen, der hin und wieder einen kleinen Einblick in meine Innenwelt erhält. Vorbereitend auf meine Arbeit an diesem Buch, stellte ich ihm einige Fragen und bat um eine schriftliche Antwort. Dazu gehörte die Frage: Was stört dich am meisten an mir? Rolfs ehrliche Antwort lautete: »Deine pessimistische Art (depressive Verstimmungen) bis hin zur Selbstaufgabe, wenn es dir nicht gut geht. Und das war in den letzten Monaten/Jahren fast immer der Fall.« Seine Antwort mag viele meiner Bekannten und sogar Freunde überraschen. Menschen, die mich für alles andere als pessimistisch halten. Ganz im Gegenteil! Schon viele haben mir gesagt, wie sehr sie meine positive und fröhliche Art schätzen. Und Anteile hiervon habe ich durchaus. Es ist nicht einfach nur gespielt. Es ist höchstens einseitig gespielt, weil ich den schmerzvollen und dunklen Teil in mir lieber bedeckt halte.

Mein Beispiel zeigt, was auch auf viele andere Introvertierte (mit unterschiedlichen Abstufungen) zutrifft. Es wäre aber absolut unzutreffend, Introversion per se mit dem Bild eines schlecht gelaunten, griesgrämigen Menschen in Verbindung zu bringen. Glauben Sie mir: Vielen Introvertierten, die mit Dunkelheit in ihrem Inneren kämpfen, ist von außen nichts davon anzumerken! Während Extrovertierten meist am Gesicht abzulesen ist, wie es ihnen geht, und sie in der Regel sehr offen mit ihren Gefühlen umgehen, geschieht dies bei Introvertierten im Verborgenen. Anne Heintze und andere Autoren weisen überdies darauf hin, dass Depressionen umso wahrscheinlicher sind, wenn Introvertierte ihr eigentliches Wesen unterdrücken.60 Dabei möchte ich nochmals betonen: Es wäre eine falsche Schlussfolgerung zu denken, dass alle Introvertierten depressive Verstimmungen erleben, wie ich sie eben beschrieben habe. Von der Veranlagung her sind am ehesten diejenigen betroffen, deren Introversion auch mit Hochsensibilität und/oder Hochbegabung gekoppelt ist oder die von ihrer introvertierten Ausrichtung her zur Melancholie neigen.

Das Hindernis Dunkelheit, dem sich viele Introvertierte stellen müssen, kann für introvertierte Christen eine doppelte Herausforderung darstellen, zum Beispiel im Blick auf Fragen wie: »Was stimmt nicht mit mir und meinem Glauben?«, »Sollte ich als Christ nicht von solchen Gefühlen befreit sein?«, »Jesus ist doch das Licht. Er hat doch die Dunkelheit besiegt – wieso ist sie dann in meinem Leben noch da?« Hier scheint mir zunächst einmal wichtig, dass wir die Dunkelheit der Seele nicht mit der Dunkelheit der Sünde verwechseln oder gar gleichsetzen. Was Letzteres betrifft, bietet uns Jesus durch sein Sterben am Kreuz Vergebung unserer Schuld an. Diejenigen, die seine Vergebung annehmen, führt er aus der Macht der Dunkelheit in sein göttliches Licht. Paulus schreibt an die Christen in Ephesus: Früher gehörtet ihr selbst zur Finsternis, doch jetzt gehört ihr zum Licht, weil ihr mit dem Herrn [Jesus Christus, D. S.] verbunden seid. Verhaltet euch so, wie Menschen des Lichts sich verhalten (Epheser 5,8). Ja, Jesus ist das Licht. Er hat die Dunkelheit überwunden. Und trotzdem wird Dunkelheit im Sinne von schmerzvollen Gefühlen und Erfahrungen Teil unserer menschlichen Realität bleiben. Auch im Leben von Christen. Dies bestätigt ein Blick in die Bibel: beispielsweise in Psalmtexten (zum Beispiel Psalm 143,4), weiter das Beispiel von Elia (vgl. 1. Könige 19,4) oder auch Aussagen von Paulus im Neuen Testament (vgl. 2. Korinther 4,8-9), um nur einige zu nennen.

Passend zum Bild des Ozeans habe ich dieses Unterkapitel mit den Worten aus dem Wallfahrtspsalm 130,1 überschrieben: Aus der Tiefe schreie ich zu dir, Herr! Die »Tiefe« wird nicht näher erklärt. Es bleibt offen, ob es eine körperliche Krankheit, ein psychisches Leiden, die Last einer Schuld, eine familiäre Not oder was auch immer ist. Das hebräische Wort, das hier mit »Tiefe« übersetzt wird, lässt an Verschiedenes denken: zum Beispiel an ein Wasserloch, in das man stürzen kann, eine dunkle Grube, ein Grab, die Unterwelt und nicht zuletzt an die Meerestiefen, in denen die Menschen der damaligen Zeit den Sitz von Ungeheuern und Chaosmächten vermuteten. Was auch immer die Tiefe ist, aus der sich der Psalmbeter an Gott wendet – es ist ein Hilfeschrei aus tiefster Not. Ähnlich singt David in Psalm 69,3: Ich versinke in tiefem Schlamm und finde keinen Halt. Das Wasser reißt mich in die Tiefe, die Flut überschwemmt mich. Verbunden mit der Bitte an Gott: Sorge dafür, dass die Flut mich nicht überschwemmt und die tiefen Strudel mich nicht verschlingen (Psalm 69,16a).

Wenn es uns nicht gelingt, vertrauens- und hoffnungsvoll mit dem Hindernis Dunkelheit umzugehen, bringt Letztere die Suche nach inneren Schätzen früher oder später zum Scheitern. Während ich das schreibe, ist mir schmerzlich bewusst, wie widersprüchlich die Worte »vertrauens- und hoffnungsvoll« in der Dunkelheit klingen. Ein vertrauens- und hoffnungsvoller Umgang verändert möglicherweise nichts an meiner Dunkelheit oder meinem Empfinden, aber ich ringe darum, meinem Denken mitten in der Dunkelheit eine andere Ausrichtung zu geben. Ich entscheide mich, meinen Blick nicht länger verzweifelt auf das Dunkel zu richten, das mich umgibt, sondern auf denjenigen, der mich in dieser Dunkelheit auffängt, wenn ich falle. Auf den, der mich rettet, wenn ich innerlich ertrinke. Der russische Dichter Apollon Maikow kam zum Schluss: »Je dunkler die Nacht, umso heller die Sterne, je tiefer die Trauer, umso näher ist Gott.«61 Vertrauen kann mich trotz Dunkelheit in Gottes Nähe ziehen. Es ist das Vertrauen darauf, dass Gott zu dem steht, was er in seinem Wort verspricht: Gott ist unsre Zuflucht und unsre Stärke, der uns in Zeiten der Not hilft. Deshalb fürchten wir uns nicht, auch wenn […] die Ozeane wüten und schäumen und durch ihre Wucht die Berge erzittern! (Psalm 46,2-4; NLB).

Falls Ihre Sicht auf das Leben genau in diesem Moment von Dunkelheit getrübt ist, möchte ich Ihnen Folgendes ans Herz legen: Geben Sie sich der Dunkelheit nicht hin! Bleiben Sie in Ihrer Not nicht allein und wagen Sie es, Ihre Dunkelheit mit jemandem zu teilen. Das kann jemand sein, der Ihnen nahesteht, eine Fachperson oder sonst jemand, zu dem Sie Vertrauen haben. Fassen Sie sich ein Herz und wagen Sie diesen wichtigen Schritt aus der Isolation. Aus eigener Erfahrung möchte ich noch ergänzen: In manchen Fällen kann auch die Einnahme von Medikamenten hilfreich sein (in Absprache mit einem Arzt), damit sich der dunkle Schleier der Seele etwas lichtet. Und schließlich: Bitten Sie Gott, dass er Ihnen trotz dunkler Strömungen, die Ihre Sicht gelegentlich trüben werden, eine zunehmend klarere Sicht schenkt und Ihnen seine Sicht der Dinge offenbart.

Die leisen Weltveränderer

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