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Legoland-Bewegung
ОглавлениеZurück vom Hochbeet zu noch höheren Einheiten: die neue Lust am Land, der Natur und der Staudenparadiese, des Bird Watchings, selbst gerührten Marmeladen und trüben Apfelsaft von Streuobstwiesen ist nur eine Art Legoland-Bewegung, verglichen mit den großen Veränderungen in der Natur. Der größten seit Menschheitsgedenken, wie es so immer heißt, der Klimakatastrophe. Die noch von ziemlich freien Topdemokraten verhöhnten und geschuriegelten Jugendlichen „Politik sollte man Profis überlassen“, haben Parteimanager und Energiefunktionäre in ihre Schranken verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat der herrschenden Klasse, dem Wirtschafts- und Verkehrsminister höchstrichterlich bescheinigt, dass durch ihr Zögern der Lebensraum und die Zukunft der nächsten Generationen aufs Spiel gesetzt wird. „Setzen fünf, nachsitzen“, hätte man dazu früher gesagt. Die Politiker können froh sein, dass die meisten Jugendlichen noch nicht zur Wahl gehen dürfen.
Manipulierte Verbrennungsmotoren der Autoindustrie, sinnlose Verlängerung der Laufzeiten veralteter Kohlekraftwerke, eine CO2-intensive Landwirtschaftspolitik und eine Lebensmittelbranche, die mit großem Einsatz von Chemie die Nahrungsmittelproduktion vervielfacht, verbilligt und damit zum massenhaften Wegwerfen essbarer Produkte animiert: In Deutschland werden jedes Jahr rund 12 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Das alles muss ein Ende haben, sollen die Klimaziele erreicht werden. „Wir haben es satt“ skandieren Tausende von Menschen jeden Januar vor dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft und demonstrieren für „Bio“ und „Zero Waste“. Auf den letzten Drücker stellte die Kanzlerin die Ergebnisse einer „Zukunftskommission Landwirtschaft“ vor, die eine radikale Wende hin zu organischem Landwirtschaften, klimaschonendem Produzieren und ein Ende der unsäglichen Quälerei in der Massentierhaltung vorschlägt. Die zuständige Ministerin, verantwortlich für die fehlgeleiteten Milliarden Euro Subventionen, durfte erst gar nicht mit zur Pressekonferenz.
Auch ohne Pandemie und die permanente Luftverschmutzung ist das Bedürfnis nach frischer Luft in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Gepaart mit neu erwachtem Heimatgefühl und der Suche nach den eigenen Wurzeln und der Identität. Es hatte sich still und leise, aber millionenfach angekündigt und entwickelte sich ganz unpolitisch: plötzlich füllten sich die Regalreihen der Zeitschriftenläden mit Titeln wie „Landlust“ und „Landleben“, einfache schöne Dinge für ein einfaches schönes Leben.
Natürlich mit Gartenvorschlägen und Rezepten von „Kraut und Rüben“. Natur ist angesagt und Kochen mit Gemüse nach internationalen Bestsellerautoren wie Yotam Ottolenghi. Vegetarisch, vegan, selbstverständlich.
Auch Unkraut wird neu definiert und die toxisch tödlichen Unkrautvernichtungsmittel lösen eine Prozesswelle gegen die Hersteller aus und verderben ihnen die Aktienkurse in Milliardenhöhe. Natürlich sollen jetzt auch die Gärten naturnah aussehen, aber damit es wirklich schön natürlich aussieht, muss schon ein wenig der grüne Daumen bewegt werden. Der Gärtner ist schließlich auch Gestalter der natürlichen Wirklichkeit, genauso wie die professionellen Gartengestalter und Architekten. Sie alle greifen in die Natur ein, indem sie durch ihre konzeptionelle Arbeit und ihr Pflanzenwissen ein Stück Landschaft gestalten, welches die Natur zurück in den Garten holt. Dafür gibt es in diesem Buch großartige Beispiele.
Gärten als Medium, als Inszenierung und Verwandlung der Natur zur optischen und haptischen Freude, als Rückzugsort und Oase. Wer mehr Platz hat, kann sich an romantisch gestalteten Gartenanlagen und Staudenparadiesen großer Garten- und Parkkünstler orientieren: zum Beispiel Fürst von Pückler-Muskau in Branitz, Muskau und Babelsberg, Peter Joseph Lenné im Berliner Tiergarten und Charlottenhof. Auch beim Englischen Garten in München und seinem Nymphenburger Park von Friedrich Ludwig Sckell.
Trotz allem: Die früher so beliebten Kiesel- und Waschbetongärten gibt es immer noch wie die pathologischen Rasenmäher. Dem Gänseblümchen, Klatschmohn, der Kornblumen und dem gemeinen Staub bleiben oft keine Chance. Und Beton ist einer der ganz großen Klimasünder und CO2-Emittenten. Der Gartenfuhrpark wird ebenfalls aufgerüstet: Rasenmähertraktoren ersetzen die kindliche Freude des Bobbycarfahrens. Kanonen blasen Blatt und Blüte aus den letzten Winkeln. Hauptsache staubfrei. Elektrisch betriebene Motoren würde man ja weder hören noch riechen. Dass diese Orte sowohl der privaten Gartenmotorisierung wie der öffentlichen, kommunalen Straßen- und Parkpflege den CO2-Ausstoß vermehren, bringt die „Gartenfighter“ nie zum Nachdenken. Die unzulässigen Dezibel-Werte überhören sie geflissentlich.