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Ubi bene, ibi patria

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Diese Natur- und Zurück-zur-Naturbewegung hängt oft mit der Suche nach Heimat und Identität zusammen. „Heimat ist für die meisten Menschen dort, wo die Geschichte ihren Anfang nimmt. Diesem Anfang wohnt ein Zauber inne, der das ganze Leben anhält“, so der Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid in seinem aktuellen Buch „Heimat finden“.

In dem kleinen schwäbischen Dorf meiner Kindheit waren die Elemente meiner kindlichen Sozialisation die Bäckerei und das dazugehörige Kolonialwarengeschäft(!) in unserem Hause. Ebenso die Kirche, die alte Schule, der Gesangsverein und vor allem der Gemüsegarten, der Lieferando für das täglich selbst gekochte Essen meiner Mutter und ihrem unvergleichlich guten Gedeckten Schwäbischen Apfelkuchen. Gärtnern zur Selbstversorgung, zur Freizeitbeschäftigung und zur Augenweide.

Gartenarbeit, wie meine Mutter das Gärtnern nannte, als Lebensphilosophie? Mindful Gardening? Der heimatliche Garten hat viel mit der Landschaft zu tun, in die man geboren wird. Die Dahlien in unserem kleinen Garten vergesse ich genauso wenig wie die sensationellen Kakteenblüten in Rot und Orange, atemberaubende Farben und Formen auf dem Fensterbrett unseres 80-jährigen Nachbarn. Heimat, der Ort an dem man sich wohl fühlt, auch in der fernen Erinnerung.

„Ubi bene, ibi patria“, scherzte unser sächsischer Lateinlehrer. Das heißt auf Sächsisch nicht „Wo die Beine sind, ist auch dein Heimatland“, belehrte er uns, sondern „Wo es gut ist, ist dein Heimatland“.

So wurde mein zweiter Garten 20 Jahre später im hohen Norden auf den verwilderten Wiesen eines reetgedeckten sehr alten Bauernhauses nach diesen Erinnerungen angelegt. Meine Mutter half noch mit, die schwere Wiese umzugraben – ein ähnlicher Garten wie zu meiner Kindheit, sogar mit einem kleinen Kartoffelacker, wurde angelegt und natürlich Stauden gepflanzt aus Karl Foersters Universum.

Ein automatischer Blütengarten sollte es werden – seine geniale Erfindung für den faulen Gärtner. Karl Foerster sollte mich von da an durchs Leben begleiten.

Die Wiese hinter diesem alten Reetdachhaus war seltsam bepflanzt: auf den fast zwei Hektar Land wuchsen im ersten Frühling endlose Reihen von leuchtenden gelben Narzissen in großen Bündeln in Reih und Glied. Jedenfalls betrug der Abstand zwischen den Reihen beachtliche 5 Meter. Vor dem Haus wuchsen nur vereinzelte Büschel dieser Narzissen, seltsam verteilt über die Wiese. Die Nachbarn klärten uns auf: der Vorbesitzer Heini van Holten trug als einziger Nazi-Uniform im kleinen Dorf und pflanzte zu Ehren seines Partei-Idols ein 10 x 10 m großes Hakenkreuz aus Osterglocken vor dem Haus. Er kam erst Anfang der 50er-Jahre wieder aus der Gefangenschaft zurück. Bis dahin wurde das Hakenkreuz jedes Jahr größer und größer. In seiner Panik riss Heini alle Pflanzen raus und pflanzte sie hinters Haus. Parallel mit großem Abstand, denn Parallelen treffen sich nur in der Unendlichkeit, wie wir aus der Schule wissen. Aber die Natur lebt Geschichte weiter und Zwiebelgewächse wie Osterglocken lassen sich nicht so einfach entfernen.

Selbst 50 Jahre nach Ende des Krieges erfreuten uns einige stark gewachsene Überbleibsel. Der Garten als Lügendetektor, ein Stück Wahrheit gegen die kollektive Vergesslichkeit und der eigenen Vergangenheit?

Jedenfalls Vorsicht, Gartengestalter, bei all zu deutlichen Pflanzmotiven.

Durch einen Nachbarn motiviert – einen ehemaligen Karl-Foerster-Schüler – legten wir unsere Staudenbeete nun nach seinen Prinzipien an.

Rittersporne mit fantastischen Namen wie 'Flötensolo', 'Nachtauge', 'Größenwahn', nachtblaue-violette 'Kirchenfenster', coelinblaue 'Blue Boys', 'Gletscherwasser' mit klarstem Eiswasser-Blau. Und natürlich Phlox 'Aurora', lachsfarben, und der berühmte 'Bornimer Nachsommer', eine „wüchsige Spätsorte, warmrosa, großblütig und regenfest“. Der kostete übrigens 1975 in der DDR 1,50 DDR-Mark, laut Foersters Staudenkatalog aus dieser Zeit.

Mehr als 50 Rittersporne hatte Karl Foerster in seinem Programm. Auch heute können noch viele in der ehemaligen „VEB Bornimer Staudenkultur“ in Bornim-Potsdam, Am Raubfang, besichtigt und gekauft werden.

Die unendliche Vielfalt seiner starken Pflanzen umschlossen bald die schuldlosen Narzissen. Auch in unseren Tagen gibt es einen international bekannt gewordenen Garten. Ein Garten, der die Seelen seiner Besitzer widerspiegelt. Als Donald Trump ins Weiße Haus als Präsident einzog, ließ seine Frau Melania den Rosengarten des Weißen Hauses in Washington neu gestalten. Sie ließ die Zierapfelbäume rausreißen und den wunderschönen Staudengarten mit der ganzen Pracht und Vielfalt heimischer Pflanzen ihrer Vorgängerin Michelle Obama umpflügen. Sie lies „einen Rosengarten des Grauens“ anlegen, wie die Süddeutsche Zeitung schrieb. Steinplatten wurden verlegt, Formschnittgehölze gestutzt und „ein seelenloses Stück Rasen“ eingesät. Die Autorin Mareen Linnertz zitiert die Gartenbauarchitektin Gabriella Pape, die den Garten „als ein Symbol der Kontrolle“ beschreibt und die Hoffnung äußert, dass es keine zehn Jahre dauert, bis daraus eine Wildwiese nach dem Regierungswechsel geworden ist.

Ihr Wunsch könnte schneller in Erfüllung gehen, wenn der neue Präsident Joe Biden auf die fast 75.000 Menschen reagiert, die eine Petition unterschrieben haben, das symbolträchtige Stück Land wieder zurückzubauen. Hoffen wir, dass er die richtigen Gartenarchitekten findet, die einen Garten der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit und der Toleranz und Freiheit kreieren. Schon im 15. Jahrhundert philosophierte der erste Architekturtheoretiker Leon Batista Alberti, dass der Garten die Seele des Gartenbesitzers zeigen sollte. Die Kleingartenbesitzerin Tanja sagte es im Bayerischen Fernsehen etwas einfacher: „Man sieht dem Garten an, wie der Gärtner tickt.“

Als ich im hohen Norden vom Karl-Foerster-Fieber befallen wurde und mit Sammelleidenschaft nach seinen großartigen Büchern, Zeitschriften und Staudenkatalogen suchte, stand ich vor einem fast leeren Bücherregal in einem Hamburger Antiquariat. Ich suchte Exemplare seiner „Gartenliebe“. Es gab nur noch zwei Ausgaben und daneben stand, einsam verloren, ein kleines Büchlein mit schönem Einband aus blauem Rittersporn vor einem kleinen Haus. Titel: „Meine Frau die Gärtnerin“.

Ich blätterte und freute mich über die schönen Blumenzeichnungen und Staudenaquarelle. Die Autorin kannte ich nicht. Ich nahm das kleine Büchlein mit, alleine sollte es da nicht stehen bleiben. Irgendwann fing ich an zu lesen und erfuhr eine Gartengeschichte der besonderen Art. Ein Herr Metzger, ein Abenteuerautor der ursprünglich ein Buch über Afrika schreiben sollte, erkrankte so ernsthaft, dass er sein Buch nicht weiterschreiben konnte. Doch benötigte er das Honorar dringend und das Buch musste fristgemäß abgeliefert werden.

So änderte sich plötzlich mitten im Buch der Schreibstil und das Sujet. Seine Frau schrieb das Buch zu Ende, und da sie nicht die Abenteuererfahrung ihres Mannes hatte, beschrieb sie den Garten des Nachbarn. Präzise, im Detail, jede Staude, jede Blüte. Mir kamen einige dieser Pflanzen und auch der Garten bekannt vor. Während meiner Foerster-Euphorie besuchte ich öfters seinen automatischen Senkgarten und sein Staudenparadies und heutiges Weltkulturerbe in Bornim. Dort kaufte ich Foerster-Stauden für meinen Garten und lernte auch seine Tochter kennen.

Durch sie erfuhr ich, dass das Autorenehepaar ihr kleines Häuschen direkt neben Karl Foersters Staudenparadies hatte und „Meine Frau die Gärtnerin“ genau den Garten ihres Vaters beschrieb. Aus welchem Zufall ausgerechnet die schriftstellerischen Werke zweier Nachbarn Jahrzehnte später auf einem Regalbrett eines Antiquariats gelandet sind, wird wohl niemals aufgeklärt werden. Am einfachsten wohl, weil sie unter Gartenbücher rubriziert wurden, oder am fantasievollsten, weil sie zusammengehörten, wie alle Nachbars Gärten.

Dieses wohl unfreiwillig erzwungene Buchsujet der Frau des Autoren wurde aus der Not geboren und beweist, wie inspirierend Garten und Blumen für Geschichten sein können. Nachbars Garten als Buch – und sogar als Drehbuch? Die Filmwelt liebt Parks als Locations und Symbole. Viele Filme der Filmgeschichte beziehen ihre Spannung, den Suspense und ihre Mystik aus Gärten und Parks. Nina Gerlach beschreibt in ihrem Buch „Gartenkunst im Spielfilm“ viele Filme, die den Garten als Motiv haben oder im Garten spielen. Es gibt immer einen Zusammenhang zwischen Gartendesign, beziehungsweise der Gartenanlagen, und der Geschichte, die im Film erzählt wird.

Wie die Präsidentengärten in Washington, spiegeln Gärten und Garten immer auch die politischen Systeme. „Der französische Barockgarten, wie ihn Le Notre für Ludwig XIV. in Versailles gestaltete, war Sinnbild einer hierarchischen Staats- und Weltordnung. Im Gegenzug war der Landschaftsgarten, der – getragen von den Ideen der Aufklärung und des Sensualismus – um 1720 in England entstand, Ausdruck einer geistesgeschichtlichen Revolution und Symbol bürgerlicher Freiheit“ schreibt die Filmwissenschaftlerin Fabienne Liptay in „Bildraum und Erzählraum“.

So spielt Peter Greenaways verzwickter, erotischer Thriller „Der Kontrakt des Zeichners“ in einem Barockgarten die Hauptrolle. In „Park und Filmkulisse“ deutet die Filmwissenschaftlerin und Gärtnertochter Dorothee Wenner Greenaways Film als „allegorischen Kampf zwischen zwei rivalisierenden Gartentheorien“. Als sich am Schluss des Films „der französische Barockgarten … in einen englischen Landschaftsgarten verwandelt, haben sich auch die Herrschaftsverhältnisse … umgekehrt: die Verschwörung der Frauen hat die patriarchale Ordnung unterwandert.“

Und in Antonionis „BLOW UP“ wird ein gespenstisch angeleuchteter Park der Ort des Verbrechens und seiner Aufklärung. Der Garten als Tatort im wahrsten Sinne des Wortes mit einfachen Regeln: im akkuratesten Garten lauert das gemeinste Verbrechen. Kino, Parks und Gärten haben viele Gemeinsamkeiten. Sie sind im weitesten Sinne Entertainment. Noch mal Hans von Trotha. In seinem Buch „Der Englische Garten“ beschreibt er den Landschaftsgarten als „(…) das erste Medium einer Wirkungsästhetik.“

Und Filme können wiederum wie die künstlich angelegten Gärten des 18. Jahrhunderts sein. So klug konstruiert und angelegt, dass nirgendwo Grenzen zu erkennen sind. Sie verschmelzen mit der Natur, sind nicht wahr, aber berauschend. Sie simulieren unendliche Perspektiven und Blicke – und sie initiieren ein Gefühl von Freiheit.

Landschaftskunst und Filmkunst, Gärtner, Gartenarbeiter und Regisseurin haben viele Gemeinsamkeiten. So war Peter Joseph Lenné ein Landschaftsregisseur, wie auch Karl Foerster ein Gartenregisseur war. Beide haben auf sehr unterschiedliche Art die Stadt- und Landschaftsarchitektur und die Menschen mit ihren Utopien, ihren Lebens-, Erholungszeit- und Denkräumen unschätzbar bereichert.

Gärten des Jahres 2022

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