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EINLEITUNG von Dieter Kosslick Wie der Gärtner tickt
Оглавление1957, als ich gerade mal elf Jahre alt war, hatte ich meine erste Gartenerfahrung bereits hinter mir. In unserem kleinen schwäbischen Dorf besaß fast jeder und jede einen kleinen Garten, privat hinterm Haus oder auf freiem Feld zwischen den Dörfern. Die Gemeinde stellte das Land zur Verfügung. Dort wurde gegärtnert, um eigenes Gemüse zu ziehen, oder auch aus reiner Gartenfreude, oftmals verband sich beides.
1957 war laut einer Statistik „Gartenarbeit“ die zweitbeliebteste Freizeitbeschäftigung nach Zeitungs- und Zeitschriftenlesen. Heute, fast 65 Jahre später, „stehen Internet, Fernsehen und Computer“ auf den vorderen Plätzen.
Doch die Lust am Gärtnern auf eigener Parzelle oder vor den Toren der Stadt ist größer als je zuvor. Junge Familien wollen ihren Kindern zeigen, wie Gemüse wächst und dass die Milch nicht aus Tetra Paks kommt. Auch die stetig wachsende Zahl von Menschen, die unbehandelte und ungespritzte Lebensmittel essen wollen, vervielfacht die Sehnsucht, ein Stück Erde mit eigenen Händen zu bearbeiten.
Kleingärten, Schrebergärten oder Mietgärten mit schönen Namen wie „Glücksgärten“ sind so begehrt wie nie. Wer Glück hat, gehört zu den fünf Millionen „Laubenpiepern“ in einer Kleingartenkolonie. Suchanzeigen im Internet belegen diesen Trend: „Noch nie wurde nach den Begriffen ‚Pflanzen und Gewächshäuser‘ so oft gesucht wie heute. Die Deutschen verbringen danach viel Zeit mit Gärtnern“, so eine Google-Analyse.
Die Einstellung zum Garten und der Natur hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert. Dieses Vorwort entsteht mitten in der vierten Welle der Pandemie, und es wird auf dem Land, umgeben von einem Park und einem historischen Naschgarten geschrieben. Um mich herum wohnen dauerhaft oder am Wochenende Städter, die der Enge der Stadt entflohen sind. Noch nie ist vielen Menschen so bewusst geworden, was ihnen in dieser Zeit fehlt: Natur und Kultur.
Es geht neben der Sorge um den sicheren Arbeitsplatz immer mehr um gute Lebensmittel und Überlebensmittel wie Theater, Musik, Museen, Kino und Literatur – und Garten, oder präziser gesagt, das Gärtnern. Dem Home- office der isolierten Heimarbeit steht in dieser Zeit das wachsende Bedürfnis entgegen „ins Freie“ zu streben. In Parks und Gärten hinaus in die Natur wie einst die Wandervögel. Nicht nur Hotels und Restaurants wurden in Windeseile nach den Lockerungen der Pandemieregeln auf Monate voraus reserviert, sondern auch die meisten Kulturveranstaltungen. „Ins Freie“ lautete das Motto des Sommerprogramms im brandenburgischen Schinkelschloss Neuhardenberg mit seinem wunderschönen Staudengarten und weitläufigen Peter Josef Lenée-Park. In wenigen Stunden war auch dieses Programm komplett ausverkauft. Die Menschen konnten es nicht erwarten, „ins Freie“ zu kommen, zu Open-Air-Konzerten, Kinoabenden und kulinarischen Arrangements.
Plötzlich realisierten sie, wie eng die doch so hochgelobten Kulturmetropolen wurden und wie groß die Sehnsucht nach frischer Luft ohne Maske.
Eine regelrechte Stadtflucht begann und eine Autostunde rund um Berlin gab es keine Einfamilienhäuser, Datschen und Schrebergärten mehr. Dies markiert nur den vorläufigen Höhepunkt, forciert durch das Virus, was schon länger in den lauten und Abgas-stickigen Städten vor sich geht.