Читать книгу Got Me? Hardcore-Punk als Lebensentwurf - Dolf Hermannstädter - Страница 4
Оглавление»Living backwards«
Der Laden war ausverkauft, es war heiß und feucht. Als YUPPICIDE endlich die Bühne betraten, gab es kein halten mehr: Die Band verschwand hinter Stage-Divern, die problemlos von den Leuten aufgefangen worden, es wurde getanzt und gepogt, alles verwob sich ineinander. Man sah fast nur glückliche Gesichter, Bier spritzte und YUPPICIDE legten einen Knaller nach dem anderen nach. Unglücklicherweise mussten wir das Konzert früh verlassen, weil die ältere Schwester meines Konzertbegleiters uns vor dem AJZ Bahndamm Wermelskirchen an einem kalten November-Abend 1993 abholte, damit wir beiden Fünfzehnjährigen einigermaßen pünktlich nach Hause kommen. Der Physik-Test am nächsten Tag war miserabel, aber ich hatte etwas live gesehen, was ich vorher nur auf Tape kannte, etwas wildes, aufregendes, freakiges, etwas total abgefahrenes: Hardcore-Punkrock. Schneller als Punk, Texte mit mehr Aussage, keine Macho-Idioten, die Übernahme von guten Elementen der Hippie-Subkultur verbunden mit etwas eigenem und mit besserer Musik und mit mehr oder anderem Spaß.
Dass das alles jedoch für Leute, die seit Beginn der Punkrock-Kultur aktiv waren, längst schon die vierte oder fünfte Generation von Bands war, wusste ich nicht. Dass sich das TRUST-Fanzine seit 1986 damit auseinandersetzt, wusste ich damals jedoch, weil ich mir zu der Zeit das Heft zum ersten Mal gekauft hatte. Ich hätte es damals natürlich nicht geglaubt, dass ich fast 15 Jahre später selber bei dem Heft mitmache, ja, dass es dann das Heft überhaupt noch geben wird und dass ich ein Vorwort zu den gesammelten TRUST-Fanzine-Kolumnen von Mitbegründer, Herausgeber und Chef-Shitworker Dolf schreiben würde.
Wozu soll dieses Kolumnenbuch gut sein? File-it-next-to-the other-Bücher von Leuten, die ihre Wilde-Jugend-Jahrzehnte später abfeiern? Gibt es nicht genügend Romane und Fotobücher und geschichtliche Betrachtungsweisen in Buchform von und über Punkrock, Hardcore, Death-Grind und Calypso-Punk?
Ich denke, dass dieses Buch mehr als alle anderen eine extrem wichtige Sache aufzeigt: Der »alte Widerspruch« der Punk-HC-DIY-Unkommerziellen-Bewegung; der hohe Anspruch, nachdem alles mehr als nur Musik sein soll(te), der paradoxerweise genau dadurch vermittelt werden soll, dass Bands Musik machen und in ihren Texten darauf hinweisen, dass im Prinzip all das nicht wichtig und längst nicht genug ist, dass es in erster Linie um die kritische Betrachtung der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur geht, um die Veränderung von einem Selber hin zu etwas Gutem, das Leben selber in die Hand nehmen, mit anderen Menschen etwas gemeinsames zu schaffen, für eine selbstbestimmte Kultur kämpfen. Also im Prinzip die Verwirklichung des alten Spruchs von Karl Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, aber es kommt darauf an, sie zu verändern«.
An einigen Kolumnen, besonders an denen Ende der 80iger, merkt man, dass es nicht reicht, die »Politiker«, die »Bosse« etc. abzulehnen, sich sein Nest in der Subkulturszene zu suchen und dann ist man fertig. Falsch! Zum Glück muss man seinen eigenen Kopf immer benutzen, sei es dazu, Prozesse im Mainstream intensiver zu verstehen, sei es dazu, szene-interne Doktrinen, nach der eine Band oder eine Bewegung das und das zu sein hat, zu hinterfragen. Wir sind alle Menschen, wir machen alle Fehler, wir müssen das auch machen, sonst gäbe es nie Fortschritt.
Dolfs Kolumnen zeichnet es aus, dass sie sich nur indirekt mit Musik beschäftigen. Meistens geht es um das Leben, Gedankensprünge, alltägliche Reflexionen. Das zeichnet die Kolumne im Vergleich zu dem üblichen Standard an Kolumnen in der Punk-Fanzine-Kultur sehr aus und bleibt auch etwas besonders in dem Erscheinungsorgan, dem TRUST Fanzine, in dem es in erster Linie um musikalische (und die sie stützende Szene-Infrastruktur) und in zweiter Linie um sozio-kulturelle Inhalte geht.
Vielleicht findet die Ü30-Generation in der Kolumnen- Sammlung, die mit der ersten Ausgabe im Sommer 1986 beginnt und auch noch einundzwanzig Jahre später weiterläuft, ihre eigene Biografie wieder. Eventuell bekommen auch U20-Leser einen Eindruck, wie es damals war – eben genauso wie heute, nur halt völlig anders – vielleicht erkennt man, dass es im Punkrock/HC immer schon von Anfang an Trends und Widersprüche gab zwischen dem, was gesagt und dem, was getan wurde, und dass es vom Beginn an (wir gehen jetzt mal von CRASS aus) eine Gegenbewegung war die etwas neues, etwas bewußteres und konstruktives wollte und will, als der destruktive Punk der Spät-70iger: Hardcore-Punkrock.
Oder eben die »deutsche« Version von »American Hardcore«?
HC-Punk ging und geht im besten Falle immer aufs Ganze: Auf das Leben. Musik beeinflusst nicht das Leben, aber wie viele Menschen hatten Songs im Kopf, als sie ihr Studium oder ihre Ausbildung geschmissen hatten, endlich Schritte vollzogen haben, die längst überfällig waren? Musik und somit auch diese Kolumnensammlung verändert nicht dein Leben, das wäre ja auch zu einfach: Den ersten Schritt muss man immer selber machen, es kann kein anderer für einen machen. Und hier wird es doch kurios: Gibt es nicht genügend Bücher und historische Abrisse, die genau das nicht vermitteln oder die dieser »do it yourself bzw. together«-Mentalität nur eine zeitlich begrenzte Gültigkeit für die 80iger bzw. bis zu GREEN DAYs Dookie zugestehen wollen? Fuck no, die Zeit ist heute, wir leben heute, es ist unsere Zukunft und wir haben es selber in der Hand!
In den Kolumnen gibt es noch zumindest eine weitere wichtige Botschaft, die vermittelt wird und man sollte sie trotz ihrer offensichtlichen Banalität oder Selbstverständlichkeit keineswegs übersehen: HC-Punk ist der Versuch, eine auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen gegründete Gegenkultur zu einem auf Egoismus, Profitsucht und letztendlich menschlich nicht fassbarer Idiotie basierenden kapitalistischer Gesellschaftssystem aufzubauen (oder läuft es für 95% der Aktivisten nicht doch parallel? Heute ein Punk, morgen wieder bei der Bank etc.?). Die Gegenkultur schafft Widersprüche: Im echten Arbeitsleben gibt es Hierarchien, größere Egos, all den ganzen Scheiß, den wir doch nicht wollen, aber dann viel zu oft in der doch so alternativen Kultur wiederfinden, uns darüber empören und zuguter Letzt dann noch dieser Kultur jeglichen Belang absprechen, dass sie ja teilweise noch schlimmer als der so verhasste Mainstream sei.
Dolf ist Dolf in allen Lebensbereichen, wer kann das in dieser Konsequenz schon von sich sagen? Und was ich klasse an ihm finde und was eigentlich selbstverständlich sein sollte, es aber nicht ist: Er ist nett, behandelt neue oder fremde Leute mit Respekt. Vielleicht ist er womöglich zu nett angesichts einer auch seit Anfang an in der Szene vorhandenen »I know more than you«-Mentalität und Praxis? Nein, aber es fällt auf im Vergleich zu vielen Menschen im Mainstream und im Underground, die sich trotz ihres verschiedenen Aussehens und Dresscodes doch so ähneln in ihren Denk- und Verhaltensweisen: Menschenverachtende Intoleranz gegenüber anderen, die nicht so sind wie sie, und destruktive »Me vs. You«-Mentalität. Wir wollen alle dasselbe, vom großen Direktor über den links-radikalen zutättowierten Crust-Punk bis hin zum kleinen Kassierer, nicht wahr? Den Mitmenschen nett behandeln, Freundschaften, Liebe, wild sein, Spaß haben, lachen, Erkennt-nisse gewinnen, was neues sehen, aus Fehlern lernen, »gut und richtig leben so weit es geht«. Haben nicht CRASS schon Ende der 70iger Jahre gesagt: Don´t fight People, fight the System? Müsste ich jetzt nachschauen, aber könnte passen. Wie wollen wir eine neue Welt schaffen, wenn wir genau so schwarz-weiß (nur umgekehrt) wie der Mainstream denken und handeln? All cops are bastards? All parents suck? »Think about it«, würde Dolf wohl sagen und »fuck Mainstream-Gedankengut«, sei es »bei ihnen« oder »im Punk«.
Weist Dolf nicht genügend in seinen Kolumnen darauf hin, dass man sich permanent vor Augen halten muss, dass ein System, was auf dem Grundmechanismus der Warenproduktion »Profit ist wichtig, der Sinn der mit dem Profit erzielten Produkte oder Dienstleistungen ist zweitrangig« basiert, eine endlose Masse von Idiotismus produziert, die Menschen dumm macht bzw. sie nicht befähigt, das zu durchschauen? Natürlich. Dolf wäre allerdings nicht Dolf, wenn er selber nicht auch sehen würde, dass er es wahrscheinlich nicht genug gemacht hat. Was hat sich schon groß verändert seit der ersten Kolumne von 1986? Was in der Antike als die höchste Beschäftigung des Menschen galt, als seine größte Befähigung und als Lebenszweck, Malerei, Theater, Musik, Literatur, ist seit Beginn der kapitalistischen Industriegesellschaft im späten 19.Jahrhundert zu einem der niedersten Bereiche des Menschen degradiert worden, ganz nach der Profitmaxime »Wenn es Geld bringt, radikal ausschlachten, wenn es kein Geld bringt, weg damit«. Das Mittel Geld als Äquivalent für den Warentausch, als Tauschmittel – hat sich zum Zweck verselbstständigt und wir fragen uns nach dem Sinn des Ganzen. Denn trotz des andauernden Beharrens auf Rationalität und Effizienz bleibt einem nur festzustellen, dass dieses System eindeutig durch Irrationalität gekennzeichnet ist. Der Mensch hat es geschafft, atomare Waffen zu entwickeln, die die ganze Menschheit auslöschen können, geschaffen im Interesse einer wahnwitzigen Kriegsindustrie, dabei könnte es doch alles so einfach sein: Durch die andauernde technische Vereinfachung, durch die permanenten technischen Revolutionen könnte es doch möglich sein, den alten Menschheitstraum »Nie wieder Lohnarbeit« zu verwirklichen und wir alle könnten uns auf das echte Leben konzentrierten und nicht wie Hamster im Laufrad der Lohnarbeitsspirale durch das Leben hetzten, immer zu viel zum Sterben, aber zu wenig, um gut zu leben! Aber nein: Es werden Waren produziert, die Profit, aber keinen Sinn bringen und an der Stelle, an der sie Sinn bringen könnten, gibt es jedoch keinen Profit: Oder glaubst du, wenn reiche Nationen wie USA oder Japan von einer ähnlichen Krankheit wie AIDS betroffen wären, dass die Entwicklung eines besseren Impfstoffes ähnlich lang dauern würde wie in afrikanischen Ländern? »Think about it«.
Dieses Buch soll im besten Falle alle, die es lesen, dazu auffordern, ihr Leben kritisch zu überdenken und es bei Feststellen des Nichtgefallens zu ändern, es soll im besten Falle alle auffordern, sich dafür einzusetzen, den Politikern, die Sonntags immer so gerne von dem wichtigen »bürgerschaftlichen Engagement« sabbeln und dann Montags ihre Unterschrift unter die Räumung bzw. Mietvertragsauflösung eines weiteren unkommerziellen Wohn-, Lebens- und Kulturprojektes setzen, einen Mittelfinger zu zeigen und sich mit anderen zusammenzuschließen, unkommerzielle Netzwerke zu bilden, ihren eigenen Weg zu gehen, aber zusammen mit anderen.
In diesem Sinne: »Walk together, rock together!«
Jan Röhlk, Juli 2007