Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 26

2.3.2.1 Geschichten und deren Funktionen

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Babys, die Geschichten hören, entwickeln sich angeblich besser als andere. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Vorlesen den Aufbau der kindlichen Gehirnmasse und die Vernetzung der Synapsen stimuliert. Andere Beobachtungen deuten darauf hin, dass die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes gefördert wird und so auch die späteren schulischen Leistungen dieser Kinder positiv beeinflusst werden. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, so zeigen Studien, könnten besser stillsitzen und sich besser konzentrieren (Hesse 2015). Solche und ähnliche Meldungen werden gerne hinzugezogen, um die Bedeutung des Erzählens und Vorlesens für die kindliche Entwicklung hervorzuheben. Dabei interessieren sich die meisten Kinder schon von Natur aus für Geschichten: “Children enjoy listening to stories (...) and are familiar with narrative conventions. For example, as soon as they hear the formula Once upon a time ... they can make predictions about what to expect next“ (Ellis/Brewster 2002, 1). Bredella (2012, 18) behauptet: „Erzählstrukturen und Schemata von Geschichten [müssen wir] nicht erst ausdrücklich erlernen (...). Sie scheinen uns angeboren zu sein“.

Kinder brauchen Märchen heißt eine viel zitierte Veröffentlichung des Psychologen Bruno Bettelheim (1997), aber auch Erwachsene brauchen offensichtlich Geschichten als Orientierungshilfe im Alltag und „in der Welt“ (Bredella 2012, 11), denn sie stellen „Ordnung“ her (Ebd., 17). Geschichten sind ein traditionelles Mittel, um Wissen, Erfahrungen und Ansichten, also Kultur im weitesten Sinne, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation weiterzugeben bzw. zu empfangen: „Sie interpretieren die Geschichte von Völkern und Kulturen“ (Hesse 2015, 6). Dies geschieht zum Beispiel in Form von Sagen, Mythen, Legenden, Fabeln, Märchen, Gleichnissen und Metaphern (vgl. Kapitel 3.3.2.3).

In früheren Zeiten gab es auch in unserem Kulturraum keinerlei Wissen, das außerhalb des Gedächtnisses gespeichert war. Erst später begannen unsere Vorfahren damit, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in Form von Symbolen und Bildern festzuhalten und weiterzugeben. Noch heute kann man diese beeindruckenden prähistorischen Dokumentationen beispielsweise in Form von Höhlenmalereien bestaunen. Heute dagegen erfolgt die Wissensvermittlung – zumindest in den Industrieländern – vorrangig über Print- und Bildschirmmedien und die mündliche Überlieferung verliert an Bedeutung. Dennoch wird auch in den hoch technisierten Ländern erzählt, wobei meist weniger der Inhalt (im Sinne der kulturellen Überlieferung) im Vordergrund steht, sondern das Ritual für soziale Zusammengehörigkeit. In diesem Sinne ist das Austauschen von Erfahrungen bzw. das Erzählen von Geschichten universal und zeitlos (Wajnryb 2003), denn auch heute gilt: „Was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen“ (Spitzer 2002, 160).

Bredella (2012) bezeichnet Geschichten „als eine grundsätzliche Erkenntnisform [, weil sie] Handlungen erhellen und nachvollziehbar machen“ (Ebd., 32). Bruner (1996) spricht von narrativer Intelligenz und führt neun “universals of narrative realities“ auf (Ebd., 133-147).1 Geschichten haben also noch immer „Hochkonjunktur“ (Haß 2013, 5), und somit ist es nicht weiter verwunderlich, „dass unser Alltag von narrativen Formen medial gleichsam durchdrungen ist“ (Ebd.). Auch Unternehmer- und Marketingkreise haben das Potenzial von Geschichten längst erkannt (vgl. Fuchs 2013).

Welche konkreten Gründe sprechen für die Einbindung von Geschichten in den (fremdsprachlichen) Unterricht? In erster Linie geben Geschichten den Lerninhalten eine nachvollziehbare Struktur, denn sie bestehen in der Regel aus drei Grundelementen: diversen Charakteren bzw. Akteuren (Menschen, Tiere, Pflanzen oder Phantasiegestalten), einem Zeitrahmen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und einem oder mehreren Orten (setting). Ferner enthalten sie einen roten Faden mit einer logischen Abfolge von Ereignissen: Es gibt einen Anfang, eine zu bewältigende Problemsituation bzw. ein Überraschungsmoment (incident) und ein Ende. Geschichten stellen somit einen Mikrokosmos, also einen überschaubaren Kontext zur Verfügung und sorgen für die Situiertheit der Lerninhalte und aller auszuführenden Aktivitäten.

Die narrative Struktur erleichtert jedoch nicht nur das Verstehen, sondern fördert durch die narrative Verankerung von Einzelaspekten auch das Behalten und Abrufen von Wissen. Außerdem bewirkt der emotionale Gehalt einer Geschichte eine starke Beteiligung der Lernenden, was sich zusätzlich positiv auf die Behaltens- und Verarbeitungsleistungen auswirken kann: “Think of how a good movie or novel makes aspects of the world engaging“, betont Kieran Egan (2003, 3), Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor der Imaginative Education Research Group (IERG) an der Simon Fraser University in Vancouver, Kanada, und spricht sich für ein “humanizing the content“ aus (Ebd.). Statt des isolierten Einübens von skills und sub-skills soll vielmehr die Imagination der Lernenden im Mittelpunkt des Unterrichts stehen und dabei vielerlei Anknüpfungspunkte für individuelle Lernprozesse anbieten.

Davon abgesehen sind Fiktionen und vorgetäuschte Wirklichkeiten auch insofern von Bedeutung, als sie kreatives Handeln außerhalb der Regeln der Logik und der Dynamik der eigenen sozialen Systeme erlauben. Folglich leisten Geschichten auch in der heutigen Zeit einen wichtigen erzieherischen Beitrag: Sie fördern Vorstellungsvermögen und Phantasie, bieten Identifikationsangebote mit beliebigen Figuren, zeigen Verbindungen zur eigenen Lebenswelt auf und helfen diese zu erschließen, und sie geben Anleitungen und Möglichkeiten zum sozialen, ethischen und emotionalen Lernen, indem verschiedene Rollen und Aufgaben probeweise übernommen und sanktionsfrei „erlebt“ werden können. Hesse (2015) spricht sogar von der heilenden Kraft von Geschichten.

Darüber hinaus können Geschichten als überaus bedeutsames und effektives Medium betrachtet werden, um sowohl Sprachen als auch das Lernen selbst zu lernen, denn die Schülerinnen und Schüler entfalten und verbessern im Prozess des Problemlösens, Vergleichens, Vorhersagens und Planens vielseitige individuelle Denkstrategien (Ellis/Brewster 2002; Frame 2007). Ferner erarbeiten und verwenden sie diverse Methoden, um die (Fremd-)Sprache zu erlernen, indem sie beispielsweise die Bedeutung von unbekannten Wörtern aus dem Kontext erschließen, und sie entwickeln bzw. verfeinern multiple Arbeitstechniken wie das Benutzen von Nachschlagewerken, das Organisieren von Arbeitsschritten oder das Anfertigen von Notizen, um nur einige zu nennen. Geschichten liefern zudem einen natürlichen Rahmen, um neue Vokabeln und auch Strukturen im sinnvollen Zusammenhang zu lernen und in konkreten Sprachhandlungen zur Anwendung zu bringen, also beispielsweise relevante Vokabeln erfolgreich aus dem individuellen mentalen Lexikon abzurufen (Wolff 2002a). Sprich: “Experiencing the language rather than merely studying it“ (Wright/Hill 2008, 9). Zu Recht monieren Pishghadam und Motakef (2012) den Mangel an Forschungsarbeiten, die das Verhältnis zwischen narrativer Intelligenz und Sprachenlernen untersuchen.

Gerade beim Fremdsprachenlernen ist die Authentizität von Inhalt und Sprache ein wichtiger Motivationsfaktor, denn bei authentischen Geschichten – egal ob Bilderbuch, Märchen oder Jugendliteratur – haben Lernende im Sinne des interkulturellen Lernens den Eindruck, etwas „richtig Englisches“ und somit etwas „Brauchbares“ kennenzulernen, nämlich etwas, mit dem sich auch Kinder und Jugendliche in englischsprachigen Ländern beschäftigen.

Andrew Wright (1997) sieht im gemeinsamen Erfinden von Geschichten vor allem den Wert des Einbringens eigener Erfahrungen, Gefühle und Kenntnisse: “When children create and tell a story in the foreign language the story and the language become theirs“ (Ebd., 3). Dieser Aspekt wird im Kontext des Storyline-Modells als ownership principle bezeichnet und gilt hier als eines der wichtigsten Prinzipien überhaupt.2

Das Vorlesen und gemeinsame Erzählen von Geschichten bewirkt eine sinnlich-anschauliche Lebendigkeit der Situation und fördert somit das individuelle Lernen bzw. den subjektabhängigen Wissenserwerb, wie dies auch in den konstruktivistischen Lernprinzipien dargelegt wird (vgl. Kapitel 3), denn Geschichten ermöglichen die Entstehung von ganz individuellen Bildern vor unserem inneren Auge: „Diese Bilder bewegen sich, werden ihrerseits sprechend, können uns erregen, Gerüche ausstrahlen. Sie können uns anfassen, entspannen, anspannen (...). Wer erzählen kann, schafft im Zuhörer eine eigene Welt der Vorstellungen, die dieser selbst neu erschaffen muß“ (Beck/Wellershoff 1989, 64). Zuhören fördert außerdem das Hörverstehen sowie die Konzentrationsfähigkeit der Lernenden, denn sie möchten die Bedeutung einer Geschichte erschließen. Deshalb hören sie aufmerksam zu (Wright 2008), auch wenn sie nicht jedes Wort auf Anhieb verstehen: “Children will be concentrating on the meaning of the story, not on why and how the simple (...) past is used. Their previous knowledge of narrative conventions in their mother tongue will have, to some extent, prepared them for its use in the target language“ (Ellis/Brewster 2002, 8-10).

Anzumerken und gleichzeitig zu bedauern ist in diesem Zusammenhang, dass im gängigen Unterricht die von den Lernenden selbst verfassten Texte und Geschichten üblicherweise meist nicht ausreichend gewürdigt werden, denn Schreibaufträge werden – wenn überhaupt – in der Regel nur von der Lehrkraft gelesen, begutachtet und benotet, wobei meist eher auf die sprachliche Korrektheit als auf Inhalt, Kreativität und Phantasie geachtet wird. Dies hält wiederum viele Lehrende davon ab, überhaupt kreative Aufgaben zu stellen, da sie befürchten, dass zu viele Fehler gemacht werden, welche die Mitlernenden möglicherweise zur Imitation anregen. Im gleichen Zug fühlen sich Lernende oft in ihrer Kreativität und Motivation eingeschränkt, wenn sie wissen, dass ihre Texte sprachliche Fehler enthalten, die möglicherweise noch mit Rotstift hervorgehoben werden, während der Inhalt gänzlich in den Hintergrund tritt.

Arbeitsprodukte werden jedoch für alle Seiten zufriedenstellender – das zeigt sich auch immer wieder bei Storyline-Projekten – wenn nicht nur die Lehrkraft als Adressatin und Anlass für die Erfindung einer Geschichte betrachtet wird, sondern wenn diese aus dem Wunsch heraus entsteht, sie einem größeren Publikum zu präsentieren. Außerdem fördert „das Erlebnis des gemeinschaftlichen Zuhörens“ das Sozialklima der Klasse (Hesse 2015, 6). Auch Wright (1997) hebt die Bedeutung der Veröffentlichung von Geschichten hervor, sei es über Plakate, selbst gemachte Bücher oder szenische Darstellungen. Weitere Verbreitungsformen bieten heute auch das Internet oder schuleigene Radiosender (auch als Webradio).

Während im regulären Unterricht Schülerinnen und Schüler bei Schreibaufträgen meist sofort nach dem geforderten Umfang fragen, wird bei Storyline-Projekten häufig die Beobachtung gemacht, dass die Lernenden mit großer Begeisterung und Konzentration schreiben, weil sie interessengeleitet ihrer Phantasie freien Lauf lassen können. Eiriksdóttir stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Produkte auch sprachlich zufriedenstellender seien:

We all know that it can be difficult when e.g. the textbook says that you should write about an interesting event in your summer holiday, and now it is the middle of winter! (...) When we are working on Storyline topics the pupils are involved in the Storyline and the writing within the topic has a purpose and everyone knows what to write about (...) It is not only that they write longer pieces they also use richer and more complicated vocabulary. A research was done in Iceland in 1985 on the vocabulary of children’s writing connected with Storyline work and the results were that they used more complicated vocabulary than usually (Eiriksdóttir 2001, 150).

Abschließend sei darauf verwiesen, dass jeder Mensch, der etwas entdeckt, erfindet oder erstellt, erfahrungsgemäß ein natürliches Mitteilungsbedürfnis verspürt. Dies sollte im Unterricht stärker genutzt und gefördert werden: Durch eine geeignete story kann spielerisch leicht eine authentische und zweckorientierte Kommunikation im Klassenzimmer entstehen, und zwar häufig fast ohne Mittun und Eingriff der Lehrkraft, denn auf Grund der Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Storyline-Projekten immer wieder eigene Aufgabenbereiche, Darstellungsformen und Materialien auswählen können (choice) und somit zu unterschiedlichen Ergebnissen und Lösungen kommen (information gap/opinion gap), entsteht ein ganz natürliches Interesse und Bedürfnis, sich regelmäßig und intensiv auszutauschen. “The magic of stories“ (Hesse 2015) kann sich also in vielerlei Hinsicht positiv auf das (fremdsprachliche) Lernen auswirken. Ob diese These tatsächlich für alle Altersgruppen gilt, ist zu klären und (auch) Ziel meiner Untersuchungen (vgl. Teil B).

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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