Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 35
2.3.3.5 Kooperatives Lernen und Lehren
ОглавлениеWie kann man heterogenen Lerngruppen möglichst gerecht werden? Wie sieht ein Lernort aus, der nicht darauf abzielt, individuelle Unterschiede aufzuheben, und der nicht davon ausgeht, „daß alle Schülerinnen und Schüler zur gleichen Zeit das Gleiche lernen wollen(?)/sollen“ (Rampillon 1994, 60)? Wie können Lernerfolge nachhaltig optimiert werden? Dies sind Fragen, die heute mehr denn je diskutiert werden. Der ausschließliche Einsatz von Frontalunterricht kann sicher keine konstruktive Lösung sein, denn: “One size does not fit all. Children are not standard, so education cannot be standard“ (Letschert 2006, 13).1 Stattdessen müssen vielmehr Lehr-Lernsituationen geschaffen werden, die die Heterogenität von Lerngruppen respektieren und gewinnbringend nutzen. Fest steht: „Je komplexer das System, desto mehr Eigendynamik und Selbstverantwortung muss zugelassen werden“ (Siebert 2005, 80), denn aus konstruktivistischer Sicht lassen sich komplexe Systeme bekanntlich nur bedingt von außen steuern (vgl. Kapitel 3). Aus diesem Grund wird in Storyline-Projekten fast ausschließlich Partner- und Gruppenarbeit (learning communities) praktiziert. Frame (2001) verweist darauf, dass interaktives Arbeiten erfahrungsgemäß zu besseren Lernergebnissen führt: “The learner is not a lone scientist discovering everything anew. The learner constructs knowledge to a higher level when interacting in a group – ‘borrowing’ and ‘sharing consciousness’“ (Ebd., 45). Deshalb führt Storyline-Arbeit immer wieder zu verblüffenden und teilweise unerwarteten Ergebnissen.
Aus dem Unterrichtsalltag ist ferner bekannt, dass viele Schülerinnen und Schüler bei fremdsprachlichen Äußerungen Angst vor möglichen Fehlern und der damit verbundenen öffentlichen Blamage haben (vgl. Kapitel 4.3.2.1 und 4.4.2). Crandall (1999) betont in diesem Zusammenhang nicht nur, dass kooperatives Lernen viele positive affektive Auswirkungen auf das Sprachenlernen hat und gleichzeitig die Entwicklung sozialer und kognitiver Fertigkeiten fördert, sondern sie sieht im kooperativen Arbeiten auch die Chance, Schülerinnen und Schüler nach und nach zu autonomen Lernenden zu befähigen. Dörnyei und Malderez (1999) bezeichnen Lerngruppen im konstruktivistischen Sinn als “stepping stones, training grounds for autonomous continuous learning“ (Ebd., 169) und behaupten, dass durch das Arbeiten in Gruppen viele Prozesse im Klassenzimmer vorhersehbarer und somit weniger bedrohlich werden: “This is true both for ourselves and the students. In addition, we will develop more efficient methods of classroom management as well as learn from and with our students. Working on the group and with the group puts the excitement back into teaching“ (Ebd.). Lernen und Kommunizieren in der Gruppe bereitet also nicht nur Freude und sorgt für eine positive und konstruktive Lernatmosphäre, sondern ermöglicht auch, dass individuelle Lern- und Arbeitsprozesse (aber auch Nicht-Lernprozesse) transparenter werden und dass diese von der Gruppe und der Lehrkraft im Sinne einer community of practice reflektiert und diskutiert werden können (vgl. Kapitel 3.4).
Im Storyline-Klassenzimmer gibt es keine “dead bodies“ (Legutke 1993, 309), die sich gelangweilt isolieren. Auch ist das Lernen und Arbeiten nicht allein auf den Klassenraum beschränkt. Stattdessen findet ein in jeglicher Hinsicht inspirierendes Arbeiten statt, bei dem die individuellen Talente, Begabungen, Interessen, Bedürfnisse und Fähigkeiten der heterogenen Lerngruppe in Form von differenzierenden Lernangeboten berücksichtigt werden und wo kooperatives und ganzheitliches Arbeiten die Regel (und nicht wie üblich die Ausnahme) ist. Die Lernenden setzen sich – oft ohne Zutun der Lehrkraft – eigene Standards, denn die Vorfreude auf die Präsentationen treibt sie an, noch intensiver zu arbeiten, was manchmal sogar in „Stress“ ausartet, wenn ein Produkt nicht rechtzeitig oder nicht den eigenen Vorstellungen entsprechend fertiggestellt werden kann. Andererseits sieht man oft zufriedene und stolze Gesichter, wenn die gemeinschaftlichen Ergebnisse von den anderen Lernenden bewundert werden. Storyline-Klassenzimmer sind Orte mit motivierten Lernenden! Das jedenfalls wird immer wieder beobachtet und berichtet.2 Ob bzw. inwiefern dies auch für die Sekundarstufe I und das hiesige Fremdsprachenlernen zutrifft, sollen meine Fallstudien zeigen (vgl. Teil B).
Kognitive, soziale, affektive, methodische/strategische und andere Lernziele werden im gemeinschaftlichen Arbeiten und Aushandeln quasi spielerisch erfüllt. Darüber hinaus werden kognitive Lernprozesse auch insofern begünstigt, als die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, sich frei im Raum zu bewegen, was nach neueren Erkenntnissen aus der Hirnforschung zu besseren Lernergebnissen führen kann.3 Ein bewegtes Klassenzimmer macht also durchaus Sinn (vgl. Kocher 2003; 2004)!
Da sich die Storyline-Lehrperson in der Regel nicht wie üblich zwischen Tafel und Pult aufhält, scheint es zunächst so, als sei sie nicht im Raum anwesend. Ihre im Vergleich zum traditionellen Unterricht grundverschiedene Rolle ist deutlich erkennbar: Lehrkräfte haben bei Storyline – ganz im konstruktivistischen Sinne – nicht mehr die Funktion der bloßen Wissensvermittlung, sondern werden zu “educational designers“ (Letschert 1992a, 42) mit einem veränderten und erweiterten Spektrum an Tätigkeiten, nämlich mit Aufgaben der Lernberatung, Motivation, Koordination, Organisation, Beobachtung und Evaluation von Lernprozessen: “The teacher is a facilitator, someone learning along with the students, a chairman for their discussions“ (Bell 2001, 6).
Im Storyline-Klassenzimmer sind die Rollen vertauscht: Nicht die Lehrkraft präsentiert und demonstriert ihr Wissen und Können, sondern (sinnvollerweise) die Schülerinnen und Schüler. Diese arbeiten weitgehend selbstständig, während die Lehrkraft die Lerngruppen beobachtet und deren Präsentationen und Lernprozesse förderlich begleitet. Es findet keine einseitige „Belehrung“ statt, sondern – ganz im konstruktivistischen Sinne – kooperatives und eigenverantwortliches Lernen, das zu heterogenen Ergebnissen und äußerst individuellen (viablen) Lösungen führt (vgl. Kapitel 3.4). Bell (2001) verweist in diesem Zusammenhang auf die Dimension des gegenseitigen Respekts (mutual respect) und bezeichnet diesen als Schlüssel zum Erfolg: “Good teaching is about the quality of the partnership between the teacher and the learner“ (Ebd., 5). Dieser Grundsatz hat im Rahmen der Storyline-Arbeit eine ganz essenzielle Bedeutung.