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NEUE AUSSTATTUNG FÜR EIN KOMPLEXERES SOZIALVERHALTEN

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Die Säugetiere entwickelten ein sehr viel komplexeres Sozialverhalten, als man es bei den Vögeln findet. Auch die Jungtiere werden noch intensiver umsorgt. Dies beginnt meist direkt nach der Geburt damit, dass das Muttertier den frischgeborenen Nachwuchs gründlich ableckt, um ihn von Blut und anderen Überresten der Geburt zu säubern. Selbstverständlich haben auch die Reptilien und Vögel schon eine Zunge, aber lecken können sie damit nicht.

Das Saugen ist ebenfalls eine neue Erfindung der Ära der Säugetiere – genau wie das Kauen. Reptilien verschlingen ihre Beute üblicherweise im Ganzen oder nur grob zerkleinert. Für den Kauvorgang waren einige neue anatomische Strukturen nötig: Bewegliche Kiefer, mit Muskeln versehene Lippen und Wangen, ein Gebiss mit unterschiedlichen Zähnen zum Abbeißen und Kauen.

Ein komplexeres soziales Gefüge verlangt auch nach vielfältigeren Möglichkeiten der Kommunikation. Zur Körpersprache kommt die Mimik, die Lautbildung wird von den Arten unterschiedlich stark genutzt. Deshalb gewinnen die Hirnnerven, die einerseits die Informationen der immer komplexeren Sinnesorgane zum Hirn transportieren und andererseits Kiefer- und Gesichtsmuskeln steuern, bei den Säugetieren an Bedeutung.

Unter den Hirnnerven findet sich auch der Vagusnerv. Denn schließlich muss das, was die Nase riecht, was zum Beispiel an Muttermilch gesaugt oder an Nahrung gekaut und geschluckt wird, später auch verdaut werden. Da ist es naheliegend, die Steuerung des Verdauungssystems unmittelbar neben den Empfangsbereichen für das Riechen, Sehen und Schmecken sowie den Befehlszentren für die Steuerung von Zunge, Kiefer- und Gesichtsmuskeln unterzubringen.

Die Kerngebiete aller Hirnnerven liegen wie eine Perlenschnur nacheinander im Hirnstamm, dem ältesten Teil des Gehirns. Natürlich ist auch die »Notrufzentrale« des Sympathikus nicht weit entfernt. Wenn ein Tier Gefahr wittert oder erspäht, muss alles blitzschnell gehen: Kampf oder Flucht? Die Entscheidung muss sofort fallen!

DIE HORMONE – DAS ZWEITE SIGNALSYSTEM

Bei den Säugetieren ist das vegetative Nervensystem nicht allein für die Steuerung von Verhalten und Stoffwechsel verantwortlich. Es wird durch ein zweites Signalsystem ergänzt und unterstützt: die Hormone. Sie werden auf Deutsch auch als »Botenstoffe« bezeichnet. Die Bildung der meisten Hormone findet in speziell dafür vorgesehenen Drüsen statt.

Das wichtigste Hormon für das soziale Verhalten ist Oxytocin. Es wird von der Hirnanhangsdrüse produziert und am Ende der Schwangerschaft ausgeschüttet, um die Wehen auszulösen. Saugt ein Neugeborenes an den Milchdrüsen der Mutter, wird ebenfalls Oxytocin bei ihr freigesetzt. Umgekehrt kommt es zur Ausschüttung dieses Hormons bei den Jungtieren, wenn die Mutter den Nachwuchs leckt. Beides fördert die Bindung zwischen den Generationen. Was bedeutet das? Tiere, die eine Bindung eingegangen sind, wollen und können auch auf engem Raum zusammenleben. Sie sind bereit, ihr Futter zu teilen und sich gegenseitig zu wärmen. Sie spielen gern miteinander und verteidigen einander auch bei Gefahr.

Die Säugetiere nützen die alten parasympathischen Schaltkreise zum Beispiel zum Verdauen weiter. Aber auch die Immobilisierungsprogramme kommen bei einigen Arten zum Einsatz. Einige Säugetiere wie Siebenschläfer, Hamster und Murmeltiere machen Winterschlaf und müssen dazu ihre Körpertemperatur absenken sowie alle weiteren Körperfunktionen drastisch herunterfahren. Fledermäuse können sowohl Kälteperioden als auch Nahrungsknappheit mit einem Energiesparschlaf überbrücken. Andere Tiere wie tropische Igel nutzen den Mechanismus, um Hitze und Wassermangel zu überstehen. Das Erstarren im Angesicht eines Fressfeindes ist als Überlebensstrategie ebenfalls weit verbreitet, wenn Kampf oder Flucht keine Aussicht auf Erfolg (mehr) bieten.

Diese Reaktion wird oft als »Totstellen« bezeichnet, doch das ist nicht ganz richtig. Kein Tier kann sich verstellen und »so tun als ob«. Die Erstarrung geschieht unwillkürlich, und das betroffene Tier kann nicht entscheiden, wann es wieder erwacht. Die Regungslosigkeit kann eine letzte Überlebenschance sein. Man denke an eine Maus, die von einer Hauskatze gefangen wird. Eigentlich ist die Katze satt, aber das Futter im Napf befriedigt nur den Hunger, nicht den Jagdtrieb. Wenn die Maus tot erscheint, verliert die Katze oft das Interesse und verzieht sich wieder. Glück für die Maus, wenn sie sich erst wieder regt, nachdem die Luft rein ist. Dank der Erstarrung ist sie noch einmal davongekommen.

Für die Säugetiere ist das Erstarren gefährlicher als für die Reptilien. Sie können den Sauerstoffbedarf des Gehirns nicht so weit absenken wie die Schuppentiere. Je länger der sogenannte Shutdown (»Schreckstarre«) dauert, desto größer ist das Risiko, dass es dem System nicht mehr gelingt, wieder hochzufahren – und wenn ein Tier mehrfach kurz hintereinander in Lebensgefahr gerät, dauert es von Mal zu Mal länger.

Beim Übergang von der Erstarrung zurück zum gut regulierten Alltagszustand treten bei Tieren interessante Phänomene auf. Wissenschaftler, die ihre Fachartikel meist in englischer Sprache verfassen, bezeichnen sie als discharge, was wörtlich übersetzt »Entladung« heißt. Auf > werden Sie mehr über diesen Mechanismus erfahren.

Das Vagus-Training

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