Читать книгу Das Vagus-Training - Dr. med. Ellen Fischer - Страница 15

Fast alle Kulturen kennen ritualisierte Veränderungen des Körpers: Es werden die Ohrläppchen oder Nasenflügel durchbohrt, die Haut tätowiert oder kleine Verletzungen gesetzt, um sogenannte Schmucknarben zu erzeugen. Dies ist ein besonderes Phänomen. Für gewöhnlich aktivieren Schmerzreize das sympathische Nervensystem, und wir reagieren reflexartig mit Abwehr oder Flucht. Doch im Fall der genannten Manipulationen, die zu sogenannten Initiationsritualen gehören, kommt es darauf an, stillzuhalten. Es ist gewissermaßen eine besondere Trainingseinheit in der Beherrschung der aggressiven oder defensiven Impulse des Sympathikus.

Diese Form der Selbstbeherrschung war nicht nur in archaischen Stammesgesellschaften von allergrößter Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt. Deshalb gibt es in neuzeitlichen Kulturen auch viele weniger schmerzhafte Optionen, um bewusst Zustände hoher, aber kontrollierter sympathischer Aktivität herbeizuführen: Spiel, Sport und Wettkämpfe. Allerdings bleibt ein gewisses Restrisiko bestehen, dass die Situation kippen und es zum Beispiel auf dem Fußballplatz zu tätlichen Auseinandersetzungen kommen kann.

Abgesehen davon gibt es im Alltag kaum noch Gelegenheiten, das Potenzial des Sympathikus auszuschöpfen. Denn der Mensch lebt nicht mehr von der Jagd, und die meisten schweren körperlichen Arbeiten vom Ackerbau über den Bergbau bis hin zum Hausbau werden inzwischen ganz oder teilweise von Maschinen erledigt.

Doch ein Leben ohne »Action« wird schnell langweilig. Dies erklärt, weshalb eine ganze Industrie entstanden ist, um das menschliche Bedürfnis nach Nervenkitzel zu befriedigen. Da gibt es aufregende Fahrgeschäfte auf Volksfesten und in Freizeitparks, Krimis und Thriller als Buch oder Film, eine Vielzahl von kämpferischen Videospielen und sogar Risikosportarten: Menschen, die nicht in einem beängstigenden Umfeld leben müssen, suchen nach anderen Möglichkeiten, Zustände der Erregung herbeizuführen. Denn wenn die Angst ausgestanden und alles gut gegangen ist, folgt darauf ein Gefühl des Triumphs.