Читать книгу Wenn der Orthopäde Rücken hat - Dr. med. Matthias Manke - Страница 10
MEINE THERAPIE: SCHMERZEN LINDERN, UM WEITERZULEBEN UND WEITERZUARBEITEN
ОглавлениеWenn jede Bewegung zu Schmerzen führt, dann vermeidet man sie am besten. Um das Risiko für einen Bewegungsschmerz zu reduzieren, bat ich das örtliche Sanitätshaus, mir eine Auswahl an Rückenorthesen nach Hause zu lie-fern. Ich wollte so die optimale Fixierung für meinen Rücken finden. Diese Orthesen geben Halt, stabilisieren und verhindern im günstigsten Fall eine unbedachte Bewegung. Meine Entscheidung fiel auf eine Orthese, die sich wie ein Panzer mit Bauch-weg-Effekt an meinen Körper schmiegte. Den ansonsten netten Nebeneffekt brauchte ich allerdings kaum noch, denn ich hatte keine Lust mehr zu essen. Die Medikamente machten mich so müde, dass ich meine Existenzängste zeitweise vergessen konnte. Zusammen mit meinem Apotheker suchte ich nach der optimalen Medikamentenkombination. Ich weiß ja, dass es wichtig ist, den Schmerzkreislauf schnell zu durchbrechen. Denn wenn Schmerz über einen längeren Zeitraum besteht, kann er chronisch werden. Und dann ist die Behandlung sehr langwierig.
Schluss mit den Morphinpräparaten,
ich entschied mich für den kalten Entzug
Also schnell Schmerz reduzieren. Ich hatte den Eindruck, dass mir das gelingt. Deshalb entschloss ich mich am fünften Tag, mit den Morphinpräparaten aufzuhören. Schließlich wollte ich zwei Tage später wieder arbeiten. Ich hatte aber nicht an die Folgen gedacht. Wer sofort viel Morphin nimmt, damit hoch dosiert ein paar Tage weitermacht und es dann abrupt wieder absetzt, bekommt Entzugserscheinungen. Das gilt leider auch für Ärzte. Ich war nervös, unruhig, unausgeglichen, hatte Kopfschmerzen und fühlte mich unwohl. Trotzdem entschied ich mich für den kalten Entzug. Ich kann meine Patienten schließlich nur „clean“ behandeln.
Ich hielt durch, um eine Woche später wieder in der Praxis zu sein. Meine Frau fuhr mich hin; ich schleppte mich mit Krücken in den zweiten Stock und versteckte die Dinger; sie sind ja nicht gerade ein Qualitätsmerkmal für einen Orthopäden. Meine Patienten hätte ich in diesem Zustand aus dem Verkehr gezogen und arbeitsunfähig geschrieben. Hätten sie mir meine MRT-Bilder gebracht, hätte ich sie ins Krankenhaus eingewiesen. Dort hätten die Kollegen sich höchstwahrscheinlich sofort Gedanken um eine Operation gemacht.
Operation? Das hatte ich bis dahin so gut es geht verdrängt. Welcher Orthopäde würde schon freiwillig einen Kollegen an seinem Rücken herumschnibbeln lassen? Nah am Rückenmark mit allen möglichen Komplikationen? Trotz meiner Beschwerden hatte ich keine Symptome, die eine sofortige Operation gerechtfertigt hätten. Denn auch stärkste Schmerzen allein sind keine eindeutige OP-Indikation. Warum also unnötig ein Risiko eingehen? Ich hatte doch meine Schmerzmittel, meine Rückenorthese, meine Krücken – und meine Frau, die mich unterstützte.
Als Arzt weiß ich, wie man Injektionen setzt,
als Patient bin ich ein Spritzenphobiker
Sie war es auch, die mich fragte, ob es nicht mal an der Zeit für eine sogenannte Epi-Spritze wäre (dazu mehr auf Seite 158). So eine Epi-Spritze, wie ich sie Patienten mit einer Nervenwurzelreizung gebe. Hallo? Ich und Spritzen bekommen? Ich gehöre zu den Leuten, die ihre Tetanusschutz-Auffrischungs-impfung aus Angst vor dem Einstich herauszögern. Ja, ich oute mich nun als Spritzenphobiker, solange ich Patient bin. Als Arzt habe ich damit keine Probleme. Ich habe in meinem Leben mehr als tausend Injektionen an fast allen Körperstellen souverän gesetzt, wie ich es in der Uniklinik an Leichen und Schweinerücken bis zur Erschöpfung geübt habe. Immer mit dem Ziel, mich an der tastbaren Anatomie des Patienten zu orientieren und Röntgenstrahlen zu vermeiden. Und jetzt sollte ich mich auf die „gute“ Seite der Behandlungsliege setzen und eine Kollegin oder einen Kollegen gewähren lassen? Den Gedanken verdrängte ich mal schnell wieder. So schlimm ist es dann doch nicht, entschied ich.
Da vertraute ich lieber auf die Apparate in meiner Praxis. Wärme tut immer gut. Wir haben zum Beispiel eine therapeutische Mikrowelle, ein Gerät, das Wärme erzeugt, die in die tiefen Gewebeschichten eindringen kann, und eine Vibrationsliege mit Infrarotwärme. Ein tolles Teil, das mit Vibrationen und Wärme verkrampfte Muskeln entspannt. Da habe ich die empfohlenen 15 Minuten gerne mal ausgeweitet. Wenn diese Liege stoppte, glaubte ich, ein paar Sekunden lang zu schweben. Wunderbar! Leider hält das Glück nicht lange an. Die Beschwerden kommen viel zu schnell von ganz allein zurück. Ich musste also zu härteren Maßnahmen übergehen und mich zu einem Physiotherapeuten begeben. Ansonsten war ich hilflos. Ich, selbst Facharzt für Orthopädie, voll privat versichert, bekannt mit (fast) jedem Rückenspezialisten in Deutschland, hatte keinen Plan mehr.
Ich arbeitete abwechselnd mit meinen
Patienten und an mir selbst als Patient
Um meine Arbeitsfähigkeit möglichst schnell wiederherzustellen, buchte ich jeden zweiten Tag eine krankengymnastische Übungsbehandlung. Glücklicherweise stand mir ein Physiotherapeut zur Seite, den ich selbst als Arzt der Uniklinik in der Schule für Physiotherapie unterrichtet hatte. Der beherrschte sein Fach. Mein Leben bestand in dieser Zeit nur aus meiner Arbeit am Patienten und aus Arbeit an mir als Patient. Privat lebte ich wie im Lazarett. Frau und Kinder sahen einen zerbrechlichen Vater, der nur langsam Fortschritte machte. Rückenschmerzbehandlung ist wie Tanzen, dachte ich. Erst geht’s zwei Schritte vor, dann mal wieder einen zurück. Aber Hauptsache, die Richtung stimmt.
Als der Physiotherapeut meines Vertrauens in den Urlaub ging, musste ich nach einem anderen Ausschau halten. Auch diesmal suchte ich einen, der in derselben Uniklinik wie ich seine Ausbildung gemacht hatte und von meinem alten Chef instruiert worden war, was er noch alles mit mir als Patient veranstalten sollte.
Innere Stabilität? Dieses Thema
habe ich viel zu lange vernachlässigt
Wir legten den Schwerpunkt auf Stabilisationsübungen. Denn innere Stabilität – ich nenne sie in diesem Buch die Kern- oder auch Core-Stabilität – ist die Grundvoraussetzung für einen gesunden Rücken. Das war mir zwar als Sportmediziner natürlich geläufig. Für unsere Top-Athleten am Olympiastützpunkt ist es ein zentraler Inhalt des Trainingsprogramms. Meine Patienten kannten es von mir, aber ich selbst habe es schlicht und einfach vernachlässigt.
Um zu verstehen, warum das so wichtig ist, muss man wissen, dass die kleinen Muskeln, die die Wirbelsäule stabilisieren, bei einem Bandscheibenvorfall nicht mehr richtig angesteuert werden. Damit der dafür zuständige Mechanismus wieder in Fahrt kommt, gibt es ein ganz spezielles, hocheffektives Training: Beckenbodentraining heißt das Zauberwort.
Wenn du jetzt staunst, geht es dir wie mir. „Das ist doch eine Sache für Frauen nach der Entbindung“, denkst du vielleicht. Oder es hilft eher gegen Inkontinenzprobleme bei Blasensenkung im Alter. Solche Gedanken hatte ich auch. Es dauerte eine Zeit, bis mein Physiotherapeut mich vom Sinn dieses Trainings überzeugen konnte. Er versorgte mich mit entsprechenden Studien, die mein früherer Professor gemacht hatte. Schließlich kennt der Therapeut mich als universitär denkenden Arzt. Trotzdem blieb ich skeptisch. Leider gab es keine Alternative. Ich musste Beckenbodenathlet werden. Erst unter Aufsicht, dann allein zu Hause. Tatsächlich spürte ich Fortschritte. Endlich! Ich hatte so lange darauf gewartet. Die Schmerzen ließen nach. Wie ein Becken-bodentraining aussieht, zeige ich dir mit passenden Übungen ab Seite 172.
Mein Schmerz veränderte sich:
Plötzlich tat auch die rechte Wade weh
Drei Monate später hatte ich zwar weniger Schmerzen, aber sie waren nie weg. Dass ich trotzdem meine Praxis weiterführte, machte mich ein bisschen stolz. Immerhin konnte ich sagen, dass ich wohl auf dem Weg der Besserung war. Das dachte ich zumindest bis zu dem Morgen, an dem es zu einem bösen Erwachen kam. Mein Schmerz hatte sich über Nacht verändert: Auf einmal tat es in meiner rechten Wade weh. Sie krampfte maximal. Das war kein Muskelkater, sondern das Resultat einer Nervenwurzelreizung. Die kann zwar verschiedene Ursachen haben, entsteht aber meistens durch einen Bandscheibenvorfall. Ich wusste jetzt, dass mein Schmerz gerade im Begriff war, chronisch zu werden, was ich ja eigentlich mit allen Mitteln verhindern wollte.
Alles, was ich gemacht hatte, war wohl nicht ausreichend. Ich musste mich mit dem Gedanken an die rückmarksnahe Epi-Spritze abfinden. Aber wer sollte mir die setzen? Ich musste jemanden finden, der die Injektionstechniken genau wie ich von der Pike auf beim selben Chef mit der gleichen Erfahrung gelernt hat – aber bitte nicht in der gleichen Stadt praktizieren sollte.
Ich saß da wie auf der Schlachtbank
und hatte Angst, denn ich kenne die Risiken
Meine Frau fuhr mich in der nächsten Mittagspause in die Nachbarstadt Essen zu meiner ehemaligen Arbeitskollegin Cordelia. Anamnesegespräch, Untersuchung, MRT-Bilder – die Diagnose und die Indikation waren schnell bestätigt. Ich wollte keine vermeidbare Strahlung und verzichtete auf Röntgen- und CT-Durchleuchtung. Nun saß ich da wie auf der Schlachtbank. Ich hatte Angst, denn ich kenne die Risiken einer solchen Injektion. Meine Patienten darüber aufzuklären, fällt mir immer leicht, aber mich selbst genau diesen Risiken auszusetzen, war verdammt schwer. Cordelia und ich waren uns einig, dass die Wurzelblockade mit einem Kortisonzusatz erfolgen sollte (mehr dazu findest du auf Seite 157). So hatten wir beide es bei unserem früheren Chef gelernt und selbst erfolgreich praktiziert.
Mittlerweile ist das in ambulanten Praxen jedoch keine Kassenleistung mehr, während es im Krankenhaus weiterhin praktiziert wird. Ich hätte es auch selbst bezahlt, denn wenn ich mir schon eine Injektion am Rücken setzen lasse, dann soll die natürlich auch so effektiv wie möglich sein. Die entzündungshemmende Wirkung des Kortisons an der gereizten Nervenwurzel wollte ich unbedingt noch mitnehmen.
Eine Arzthelferin musste Händchen halten,
mein Puls stieg, aber der Blutdruck hielt
Während mir eine Arzthelferin Händchen hielt, ging Cordelia ans Werk und machte das zu meiner Beruhigung seht gut. Glücklicherweise konnte mein Körper den Stress offenbar ausgleichen. EKG und Sauerstoffsättigung im Blut blieben unauffällig. Natürlich stieg mein Puls, aber der Blutdruck rutschte nicht in den Keller. Für die vorgesehene Kontrollstunde auf der Liege blieb in der Mittagspause keine Zeit. Als Arzt konnte ich mich eigenverantwortlich vorzeitig entlassen. Ich machte weiterhin kleine Fortschritte. Die Schmerzen ließen weiter nach. Auch meine Existenzängste klangen allmählich ab. Ich konnte meine Schmerzmittel reduzieren und die Panzer-Orthese gegen ein leichteres Modell eintauschen. Natürlich war es nicht mit einer Injektion getan. Insgesamt waren am Ende zehn, sodass ich bald eine Schlachtbank-Routine entwickelt hatte. Das war alles andere als ein Vergnügen, aber der Erfolg meiner multimodalen Therapie motivierte mich zum Durchhalten. Ich war zwar noch nicht schmerzfrei, spürte aber wieder Lebensfreude und sofort auch wieder Lust auf Neues. Als mein orthopädischer Freund Andreas mich fragte, ob ich ihn als Mannschaftsarzt der Schalke-Profis unterstützen wollte, musste ich einfach zusagen.
Heimliches Training: warum ich auf
Schalkes Teambank so angespannt wirkte
Vielleicht hast du mich seinerzeit mal auf der Teambank der Königsblauen gesehen und dich gefragt, warum ich so angespannt wirkte. Hier verrate ich es dir: Ich war im wahrsten Sinne des Wortes angespannt, denn ich arbeitete still und heimlich bei jeder erdenklichen Gelegenheit an meinem Beckenboden.
Das hat sich gelohnt. Ein Jahr nach meinem Tag X gelang mir etwas, das mir zwölf Monate vorher undenkbar erschienen wäre. Ich konnte wieder auf mein Wakeboard. Das ist ein Wassersportgerät, das man sich wie ein Brett unter die Füße schnallt, um damit – gezogen von einem Boot oder am Kabel – durchs Wasser zu gleiten oder zu springen. Zuerst wagte ich es nur auf Knien. Als das klappte, traute ich mich an den großen Absprung auf dem Brett. Mein Rücken hielt. Ich hielt die Körperspannung, die bei dieser Sportart enorm wichtig ist. Trotz aller Rückschläge war ich tatsächlich schmerzfrei und konnte mein Leben wieder genießen.