Читать книгу Wenn der Orthopäde Rücken hat - Dr. med. Matthias Manke - Страница 8

Ein Kerl wie ein Baumstamm, ZERBRECHLICH WIE EIN GRASHALM

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Ich habe heute wieder viel vor. Leider beginnt mein Tag schon mit Rückenschmerzen. Eine stressige Woche liegt hinter mir. Beim Aufwachen fühle ich mich bereits gerädert. Als Einzelkämpfer mit einer eigenen Praxis ist an Schonung nicht zu denken. Die volle Patientenversorgung lastet auf meinen breiten Schultern – und auf meinem schmerzhaften Rücken. Was tut man in solchen Situationen, wenn man selbst Orthopäde ist? Zum Orthopäden gehen? Mein Freund Andreas hat seine Praxis zwar um die Ecke, aber ich kann nicht einfach dahin. Ich muss zu meinen Patienten; diese Verpflichtung kann mir niemand abnehmen.

Also sage ich mir: Reiß dich zusammen, steh auf, trink zwei Espresso zum Wachwerden – und ab in die Praxis. Hauptsache, mein Team und meine Patienten merken nichts. Gespielt souverän betrete ich das Untersuchungszimmer. Der erste Patient berichtet von starken Beschwerden im unteren Rückenbereich, die ihn seit sechs Monaten plagen. Problemlos geht er zur Untersuchungsliege. Ich erhebe mich aus meinem Bürostuhl und mache mich auf den Weg zu ihm. Doch ich komme nicht an. Einen Meter vor der Liege ist Schluss. Mit allem. Das, was ich spüre, ist so etwas wie die Potenzierung des Wortes „unerträglich“ um das gefühlt Hundertfache.

Schlagartig geht nichts mehr. Ich bin sprichwörtlich gelähmt vor Schmerz. Ich merke, wie meine gesamte Rückenmuskulatur sich verhärtet. Mein Körper versucht, den Höllenschmerz ein wenig zu lindern, indem er mich in eine Zwangshaltung steckt. In dieser sogenannten ischiatischen Fehlhaltung habe ich bisher nur richtig schmerzgeplagte Patienten gesehen. Aber die konnten sich meistens trotzdem noch irgendwie bewegen. Ich nicht. Jeder noch so kleine Versuch macht die Schmerzen schlimmer. Ich habe keine Chance mehr. Die Tränen schießen mir in die Augen und kullern übers Gesicht. Meine Arzthelferinnen kommen in den vermeintlichen Genuss, ihren Chef weinen zu sehen. Zum Glück erkennen sie den Ernst der Lage sofort und begleiten den Patienten aus dem Zimmer. Mir ist klar, dass irgendetwas in meinem Rücken passiert sein muss. Es ist nicht dieser funktionelle Rückenschmerz, der durch Fehlbelastung oder mangelnde Bewegung entsteht. Es muss ein Bandscheibenvorfall sein, der schön auf meine Nervenwurzel drückt.

Mein erster Gedanke: Wenn der bleibt, kannst du deine Zukunft vergessen. Du wirst keinen Spaß mehr am Leben haben und deine Schulden für Haus und Praxis nie abbezahlen können. Du wirst zur Belastung für Frau und Kinder.

Ich bin eine Stunde wie erstarrt

und der Schmerz verschwindet nicht

Im nächsten Augenblick springt mein Optimismus trotz meiner katastrophalen Lage an: Vielleicht hat sich die Bandscheibe nur kurzzeitig verlagert und drückt bestimmt gleich nicht mehr auf den Nerv. Ich rede mir selbst ein: Das, was du jetzt noch fühlst, verschwindet sicher in ein paar Minuten wieder. Leider verschwindet nichts – auch nach fast einstündiger Bewegungsstarre im Sprechzimmer ist der Schmerz unverändert da. Was nützt es jetzt, wenn ich jammere?, frage ich mich. Ich bin doch Kummer gewohnt. Als diensthabender Arzt in der Unfallambulanz musste ich auch bei Schwerverletzten mein Programm abspulen. Also sollte mir das in meinem persönlichen Fall doch wohl auch gelingen.

Ich greife mit Mühe zum Telefon. Mein Nachbar, der Apotheker, soll mir schnellstmöglich ein Morphiumpräparat bringen. Das lege ich mir unter die Zunge, denn da wirkt’s am schnellsten. In meiner Nachbarschaft gibt’s praktischerweise einige Praxen. Da kann ich auch gleich ein Notfall-MRT beim Radiologen anfordern. Netterweise verzichtet eine seiner Patientinnen auf ihre MRT-Untersuchung, damit ich mich sofort durchleuchten lassen kann. Vielen Dank dafür an dieser Stelle!

Inzwischen ist meine Frau gekommen. Das Morphium wirkt. Wir schaffen mich gemeinsam in einen Rollstuhl. Sie schiebt mich rüber. Da liege ich nun in der engen Röhre. Der Magnetresonanztomograf hämmert. Ich habe die Schallschutz-Kopfhörer auf und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Die sind nicht gut. Ich habe Angst. Was geschieht jetzt mit meinen Patienten in der vollen Praxis? Wie lange werde ich ausfallen? Wenn ich keinen Vertretungsarzt finde, verdiene ich nicht nur kein Geld, sondern fahre jeden Tag Verluste ein. Denn ich muss die Gehälter für meine Mitarbeiter und alle anderen laufenden Kosten zahlen, auch wenn nichts in die Kasse kommt. Mir wird bewusst, wie zerbrechlich meine Existenz ist. Meine Praxis kann nicht erfolgreich sein, wenn mir etwas passiert. Wie ist es dazu gekommen? Wurde der Grundstein beim Kofferheben im Urlaub gelegt? Oder ist es der jahrelange Raubbau an meinem eigenen Körper?

Schon nach 40 Minuten wirkt die

Morphiumdosierung nicht mehr

20 Minuten im MRT können einem wie eine Ewigkeit vorkommen. Meine Gedanken werden von Schmerzen unterbrochen, die wieder stärker aufkeimen. Warum reicht meine Morphiumdosierung bei anderen Schmerzgeplagten acht Stunden, während die Wirkung bei mir schon nach knapp 40 Minuten langsam verpufft? Das kann kein gutes Zeichen sein.

Glücklicherweise ist die Untersuchung jetzt abgeschlossen. Ich werde zum radiologischen Kollegen ins Sprechzimmer geführt. Der Blick meiner Frau lässt mich nichts Gutes erahnen. „Tja, jetzt hat’s den Orthopäden auch an der Bandscheibe erwischt“, sagt der Kollege, während ich auf seinen Befundungsmonitor starre und das Übel in der letzten Bandscheibenetage erblicke. Da zeigt sich doch tatsächlich ein Bandscheibenvorfall, der die Nervenwurzel S1 rechtsseitig unter Druck setzt. Einen Bandscheibenvorfall in diesem Ausmaß habe ich nicht erwartet. Ich hatte schließlich nicht den dafür typischen Beinschmerz mit Beteiligung der Wadenmuskulatur. Ist das vielleicht ein kleiner Trost und ein positives Zugeständnis meines Körpers? Ich schöpfe Hoffnung. Leider zu Unrecht, wie der weitere Verlauf zeigen wird.

Ich kann mir nicht mehr allein

die Hose herunterziehen

Meine Frau will, dass ich die Sprechstunde für morgen absage. „Natürlich nicht“, entgegne ich. Über Nacht wird’s bestimmt besser. Ich bin Optimist durch und durch. Wird schon. Leider sieht die Realität am nächsten Tag anders aus. Es geht immer noch genau nichts. So muss ich mich dazu durchringen, die gesamte Woche nicht zu arbeiten. Also fünf Tage Verdienstausfall, verärgerte Patienten, die zum Teil mehrere Wochen auf ihren Termin gewartet haben, und genervte Mitarbeiter, die sich von ihnen tadeln lassen müssen. Und ich liege zu Hause.

Ich bin pflegebedürftig, kann nicht allein zur Toilette und mir nicht mehr eigenständig die Hose herunterziehen. Mein Bewegungsradius ist immer noch deutlich eingeschränkt. Meine Frau muss mir helfen. Ich musste mir bis jetzt noch nie von jemandem helfen lassen. Ich war immer der Starke – und habe das auch allen gezeigt. Jetzt bin ich der Schwache und schockiert, dass es so schnell gehen kann. Ein Kerl wie ein Baumstamm, nun zerbrechlich wie ein Grashalm.

Kompetenz und weißes Outfit schützen

leider nicht vor fiesen Schmerzen

Hast du dir schon jemals darüber Gedanken gemacht, ob dein Orthopäde auch mal Rückenschmerzen hat? Oder bist du davon überzeugt, dass seine Kompetenz und das weiße Outfit ihn vor fiesen Schmerzen schützen? Wenn das so ist, wird nun eine Welt für dich zusammenbrechen: Denn ich als Facharzt für den Bewegungsapparat hatte nicht nur den beschriebenen Bandscheibenvorfall, sondern auch sonst immer wieder Episoden, in denen es mal mehr, mal weniger zwickte. Jetzt fragst du dich sicherlich, wie es dazu kommen kann. Die Antwort darauf ist einfach: Zum einen können Rückenschmerzen eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen haben und zum anderen sind wir Ärzte auch nur Menschen. Für mich gibt es keinen Halbgott in Weiß. Keinen Medizin-Messias, der dich mit Worten und Taten gesund macht – oder selbst immer gesund ist.

Ich kenne keinen ärztlichen Kollegen, der sich permanent an die Regeln hält, die er seinen Patienten predigt. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass wir Ärzte ein gesundheitlich perfektes Leben führen. Ich kenne Sport- und Ernährungsmediziner, die mehr durch körperliche Fülle als durch fachliche Kompetenz überzeugen. Ist es da verwunderlich, wenn man als Patient deren Empfehlungen anzweifelt?

Ich verrate schon an dieser Stelle: Bei den zahlreichen Ursachen für Rücken und Co. gibt es nicht die eine perfekte Therapie oder Vorbeugung. Wichtig für die effektive Behandlung ist aber die Zusammenarbeit von Arzt und Patient. Beide müssen hoch motiviert und am Therapieerfolg interessiert sein. Fehlt die Motivation auf einer Seite, halten anfängliche Erfolge erfahrungsgemäß nicht lange an.

Warum hältst du dieses Buch in deinen Händen? Hast du es dir selbst zugelegt, um deinen Rückenschmerz endlich zu besiegen? Hat dein Partner oder deine Partnerin es dir geschenkt? Oder kommt es von einem Freund, der dein Jammern und deine schmerzbedingt schlechte Laune nicht länger ertragen will? Egal, was dahintersteckt, das Ziel muss es sein, dass du deinen Rückenschmerz in den Griff bekommst. Denn jeder Rückenschmerz reduziert die Lebensqualität. Wenn du irgendwann das Alter erreicht hast, in dem du den Erfolg deines bisherigen Lebens beziehungsweise Arbeitens genießen kannst, möchtest du das doch ohne Schmerzen tun, oder? Sollten dich eines Tages elendige Schmerzen quälen, wirst du dich wahrscheinlich fragen, warum du bisher so ungesund gelebt hast.

Wenn der Orthopäde Rücken hat

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