Читать книгу Feuervogel - E. W. Schreiber - Страница 4
1.Kapitel
ОглавлениеSie springt ihr ins Genick, die Nacht, vor der sie sich so fürchtet. Wie ein vernichtender Schleier breitet sie sich dunkel über sie, um sie samt Haut und Haaren zu verschlingen.
Ellen beginnt zu laufen, so schnell sie ihre Füße tragen können, rennt sie. Sie rennt um ihr Leben und beginnt dabei zu schreien. Es sind Schreie aus Wut, Verzweiflung und Enttäuschung. Ellens Atem wird immer schneller, während sie wie ein gehetztes Tier durch den Wald jagt. Sie muss laufen, denn solange sie läuft, würde sie überleben. Sie würde Sein dürfen.
Der finstere Schatten, der sie umhüllt, aber verrät ihr, dass es in ihrem Sein niemals Identität geben wird, dass der Tod längst Einzug gehalten hat in die leere Hülle, die da lief.
Ellen ist müde. Sie schleppt sich weiter, und als sie sich umdreht, ist ihr, als würde sie ein paar Kilo verwundetes Fleisch zum Endspurt treiben.
Ihre Schreie verhallen. Ungehört.
Ellen ist es, als sei die Welt stumm und taub geboren. Als hätte die Erde in ihrer Dunkelheit das Augenlicht verloren. Und jetzt irrt sie auf ihr umher und sucht Rettung vor dem, was sie verfolgt.
Aus dem Dickicht ragen Hände. Starke, behaarte Hände, die an ihr zerren und ihr den Mund zuhalten, bis sie sich auf den feuchten Waldboden gepresst wiederfindet.
‚Pst’, flüstert die Stimme, die zu den Händen gehört. ‚Pst, sei still! Dann wird es an dir vorbeilaufen. Es wird so sein, als wäre nie etwas geschehen.’
Ellen liegt geduckt, ihr Körper erschaudert vor Angst. Doch die Hände und die Stimme wiegen sie in Sicherheit. Es ist die wunderbarste aller Stimmen. Sie ist aus Ellens Vergangenheit, und sie ist ihr verloren gegangen.
Etwas schleicht an ihr vorüber, sie wendet ihren Blick ab. Es schnaubt und blickt wild um sich, als es umkehrt. Es sucht sie und hungert nach ihr und ihr ist, als schnaubt es ihr in diesem Moment seinen heißen Atem ins Gesicht. Heiß und feucht, wie der eines wildes Tieres.
‘Verdammt, wer bist du?’ allein diese Frage zu denken ist gefährlich.
Dann wendet es sich schauderlich keuchend ab. Und Ellen weiß, dass es die Suche nach ihr weiter fortsetzen wird. Es wird nie, niemals aufhören sie zu jagen. Eines Tages, ja eines Tages, wenn ihr auf der Flucht der Atem ausgehen wird, wird es sie finden, ihr Fleisch zerreißen, und ihr auch noch das Letzte, was ihr geblieben ist nehmen. Ihr letzter verbliebener, stummer Gedanke an die Vorstellung von einem Leben in diesem Leben.
Aufrecht und starr vor Angst saß Ellen in ihrem Bett und wagte es kaum, zu atmen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Alles um sie war still, nur das leise Zirpen der Grillen drang sanft durch das geöffnete Schlafzimmerfenster. Der Traum hatte sie aufgeweckt.
Nur für eine kurze Zeit hatte er sie nicht verfolgt, ihr Traum, der seit einem Jahrzehnt ihr stetiger Begleiter war.
Aber nun war er wieder zurückgekehrt. Seine Intensität hatte beträchtlich zugenommen, und vor allem hatte er länger gedauert als je zuvor.
‚Wenn schon kein gutes Gefühl, so hat der Traum wenigstens etwas Positives hinterlassen’, überlegte Ellen. Ein Gefühl der Genugtuung erfüllte sie, denn heute war sie einmal mehr dem unheimlichen Schatten entkommen.
Das schrille Klingeln des Telefons riss Ellen jäh aus ihrer inneren Ohnmacht. Es war ihre Rettung, welche sie aus ihrem erbärmlichen Zustand der Hilflosigkeit befreite, den sie aus dem Traum mitgenommen hatte. Und noch nicht gänzlich im Jetzt, in ihrer Gegenwart zu Hause, hauchte sie ein leises ‚Hallo?’ in den Hörer.